- Tristan-Akkord
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Der Tristan-Akkord ist ein in Richard Wagners Musikdrama „Tristan und Isolde“ „leitmotivisch“ verwendeter Akkord. Er erklingt zu Beginn des Werkes im zweiten Takt des Vorspiels (von Wagner als „Einleitung“ bezeichnet) in den Celli und Holzbläsern; die Vortragsanweisung lautet: „langsam und schmachtend“.
Der Tristan-Akkord erlangte eine berühmt-berüchtigte Bedeutung, da er sich wegen seiner harmonischen Undurchsichtigkeit bis heute einer einfachen, bzw. allgemein akzeptierten Deutung entzog und immer wieder zu kontroversen Diskussionen Anlass gab. Seine Vieldeutigkeit ist zudem typisch für die extrem chromatische und tonal unstete Harmonik der Tristan-Partitur, in der Ernst Kurth eine "Krise" der romantischen Harmonik sah.[1]
Inhaltsverzeichnis
Mögliche Deutungen
als alterierter Vorhaltsakkord
Das „gis1“ wird als Vorhalt angesehen, der sich nach „a1“ auflöst, so dass der eigentliche Akkord „f-h-dis1-a1“ lautet. Dieser alterierte Terzquartakkord kann wiederum unterschiedlich interpretiert werden:
- Im Sinne der Stufentheorie kann er als zweite Umkehrung des Septakkords der II. Stufe von a-Moll (also „h-d-f-a“) mit hochalterierter Terz (d → „dis“) gedeutet werden.
- Die Funktionstheorie interpretiert ihn vorzugsweise als Umkehrform eines Doppeldominant-Septakkords von a-Moll (also „h-dis-fis-a“) mit tiefalterierter Quinte (fis → f) im Bass.
- Seltener ist die funktionale Ableitung vom Subdominantdreiklang mit Sixte ajoutée (also „d-f-a-h“), wobei der Akkord-Grundton „d“ zum „dis“ hochalteriert wird .[2]
Die Deutung als Vorhaltsakkord hat den Vorteil, dass sich der Auflösungsakkord zwanglos in einen Kadenzverlauf einfügt, wurde aber auch oft kritisiert, weil die Auflösung wegen ihrer kurzen Dauer zu wenig Gewicht hat, um als Hauptakkord empfunden zu werden.
als alterierter Akkord ohne Vorhalt
im Sinne der traditionellen Harmonik
Bei dieser Deutungsvariante wird das „dis1“ als Hochalteration des „d1“ aufgefasst, so dass der ursprüngliche Akkord „f-h-d1-gis1“ heißt. Auf die Grundstellung in enger Lage zurückgeführt ergibt sich der verminderte Septakkord „gis-h-d1-f1“, was nach der Stufentheorie die VII. Stufe von a-Moll wäre und nach der Funktionstheorie ein "verkürzter" Dominantnonenakkord (mit fehlendem Grundton „e“).
im Sinne der Jazzharmonik
- Durch das f im Bass und das dis ( =es) im Alt lässt sich der Tristan-Akkord als Tritonussubstitution, wenn auch mit Tiefalteration von Terz (gis = as) und Quinte (h=ces), also als F7b3b5, deuten.
- Fm7(b5) (= Halbvermindert) fordert als 2. Stufe in einer II-V -Progression Bb7 als 5. Stufe. Wird Bb7 im Kontext von Halbton-Ganzton verwendet, gilt die Möglichkeit der Klein-Terz-Substitutionen: d. h. aus Bb7 kann auch Db7, E7 oder G7 werden; in diesem Fall E7(#11). Oder umgekehrt (bei Klein-Terz bzw. Tritonus-Substitution des ersten Akkordes; s. o): Fm7(b5) wäre dann herzuleiten von Bm7(b5) (als 2. Stufe zu E7 als 5.). Außerdem wäre die Dominante E7 unter dem Aspekt der Tritonussubstitution (s. o.) ein Bb7, wodurch eine II-V Wendung gegeben wäre (Fm7b5 – Bb7).
- Ebenso kann der Akkord als Rootless-Voicing (d.h. der Grundton fehlt) von G7b913 oder (als Tritonussubstitution) Des9 gedeutet werden.
als eigenständiger Akkord
- Als eigenständiges Klanggebilde lässt sich der Tristan-Akkord funktionstheoretisch deuten, wenn man den Kadenzverlauf auf dis-Moll als Tonika bezieht, wobei dann allerdings jedes „f“ enharmonisch zu „eis“ umzudeuten wäre. Der Tristan-Akkord wäre dann eine Subdominante „gis, h, dis“ mit Sixte ajoutée „eis“, die Fortschreitung des „gis“ zum „a“ ergäbe eine hartverminderte Doppeldominante (wenn man das „a“ enharmonisch zu „gisis“ umdeutet) „eis, gisis, h, dis“ und im nächsten Takt die hartverminderte Dominante „ais, cisis (enharmonisch zu ‚d‘), e, gis“ mit der darauf folgenden Fortschreitung des Grundtons „ais“ zur None „h“ (als „hartverminderte Dominante“ bezeichnet man einen Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quinte).
Diese originelle Deutung muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Orthografie der Notation Wagners, die klar auf a-Moll hindeutet, komplett ignoriert.
- Von Paul Hindemith wird nach den Regeln seiner Unterweisung im Tonsatz „gis“ als Grundton des Tristanakkordes ermittelt. Im Sinne der von ihm neu entwickelten Akkordlehre, nach der alle Akkorde eindeutig bestimmbar sind, ordnet er ihn in die Gruppe „IIb2“ seiner Akkordbestimmungstabelle ein. Als Tonika („tonales Zentrum“) der ganzen Passage bestimmt er A (ohne Zusatz von „Dur“ oder „Moll“). Hindemiths Tristananalyse in diesem 1937 publizierten musiktheoretischen Werk spielte im Rahmen der seit 1879 geführten Tristandiskussion bisher eine marginale Rolle, weil Hindemiths System aufgrund einiger Unstimmigkeiten in der Herleitung seiner Regeln stark kritisiert wurde. Jedoch gehen aus ihr schon zum Zeitpunkt ihrer Publikation Erkenntnisse hervor, die von anderen Musikwissenschaftlern erst Jahrzehnte später publiziert wurden.[3]
Musikhistorische Bedeutung
Im Hinblick auf die historische Fortentwicklung der Harmonik besonders interessant sind die kreativen und wegweisenden unterschiedlichen Weiterführungen des Tristan-Akkords im Laufe des Gesamtwerkes sowie die Einbettung in den hochgespannten chromatischen Alterationstil der Oper. So taucht der Akkord häufig mit denselben Tonstufen, aber enharmonisch verändert (z. B. „f, h, es, as” oder „f, ces, es, as“) und in anderem tonalen und harmonischen Umfeld auf, was auch die Analyse des Beginns zusätzlich erschwert. Damit ist der Tristanakkord eine Art Inbegriff spätromantischer Harmonik, die seitdem an Halt und Bindekraft zur Tonika mehr und mehr verliert, bis es schließlich gegen 1910 zum vollkommenen Umschlag in die Atonalität kommt.
Musikhistorisch bedeutsam ist auch, dass sich der Tristanakkord durch seine praktisch nicht vorhandene Strebewirkung auszeichnet. Als Dominante mit Sextvorhalt hört man ihn nicht, da die Auflösung des Vorhalts in die Septime nur als chromatischer Durchgang gehört wird (weil es sich hierbei lediglich um eine Achtelnote handelt). Als Subdominante kann er aber auch nicht überzeugen. So steht er zunächst richtungslos im Raum, bis das nachfolgende Geschehen, das dann in die Dominante „E“ mündet, den tonalen Zusammenhang a-moll erkennen lässt.
Ein weiterer, in der Tristan-Diskussion häufig vernachlässigter Aspekt ist die Tatsache, dass nicht nur der Tristan-Akkord für sich allein genommen keine Richtung der Auflösung besitzt (das eben macht ja seine Mehrdeutigkeit aus), sondern dass vielmehr die Dominante, in die er mündet, nicht mehr als eine Dissonanz mit unbedingt geforderter Auflösung gehört wird. Der Hörer empfindet diese Dominante eher als Auflösung denn als aufzulösenden Akkord.
Hier findet also das statt, was später Arnold Schönberg als „Emanzipation der Dissonanz“ bezeichnet hat, was dann im frühen 20. Jahrhundert zu Kompositionsstilen führte, bei denen Dissonanzen überhaupt keine Strebewirkungen im herkömmlichen Sinne mehr besitzen.
Der Tristan-Akkord bei anderen Komponisten
Der Tristan-Akkord hat in der Musiktheorie eine solche Bekanntheit, dass ihn andere Musiker später zitierten.
Spätere Zitate
- Antonín Dvořák verwendet ihn in seiner Messe D-Dur op. 86 (Credo T. 219).
- Alban Berg zitiert ihn im letzten Satz der Lyrischen Suite sowie mehrfach an entscheidender Stelle in seiner Oper Lulu.
- Claude Debussy parodiert ihn in seinem „Golliwog’s Cakewalk“.
- Benjamin Britten zitiert ihn in seiner Oper Albert Herring (Schluckauf-Szene im 2. Akt). Hier kommt dem Tristan-Akkord nebst der Funktion als reines Zitat auch noch eine symbolische Bedeutung (völlige Enthemmung) zu.
Früheres Vorkommen
- Frédéric Chopin verwendet den Akkord (allerdings mit eis statt f) in genau der Lage seines ersten Auftretens bei Wagner schon 1831 in seiner Ballade Nr. 1 g-Moll.
- In Robert Schumanns Konzert für Violoncello Op. 129 von 1850 taucht der identische Akkord mit folgender identischer Auflösung in Takt 11 auf, verteilt auf das Solo-Cello und die Orchesterstimmen.
- Bereits 1801/2 taucht er bei Beethoven (wenn auch in enharmonisch verwechselter Form) in seiner Es-Dur Klaviersonate, op.31 Nr.3 in den Takten 35-42 auf:
Im Unterschied zu Wagner bereitet hier die funktionale Einordnung in einen Kadenzverlauf keine Probleme. Es handelt sich nämlich um eine Umkehrform des auf es-Moll als Tonika zu beziehenden subdominantischen as-Moll-Dreiklangs mit Sixte ajoutée, der am Anfang des Notenbeispiels sogar in seiner Originalgestalt erscheint. Beethoven behandelt das „es“ des Akkords als Dissonanz und löst es nach „d“ auf. Da der Auflösungsakkord jedoch selbst ein Dissonanzakkord (verminderter Septakkord in dominantischer Funktion) ist, kann von einer "Auflösung" im eigentlichen Sinne keine Rede sein, zumal die als Abschluss der Kadenz erwartete Tonika ausbleibt. Insgesamt viermal lässt Beethoven diesen Dissonanzakkord unaufgelöst im Raum stehen, zweimal in es-Moll und zweimal nach f-Moll transponiert. Dieses Beispiel belegt, dass die „Emanzipation der Dissonanz“ nicht erst bei Wagner beginnt, obwohl sie durch ihn besonders stark vorangetrieben wird.
Einzelnachweise
- ↑ Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Bern 1920.
- ↑ Riemann Musiklexikon, Sachteil, Mainz 1967, S. 987
- ↑ Constantin Houy, Hindemiths Analyse des Tristanvorspiels. Eine Apologie. in: Hindemith-Jahrbuch 37 (2008), S. 152–191.
Weblinks
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