- Wilhelm Stekel
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Wilhelm Stekel (* 18. März 1868 in Bojan, Bukowina, Österreich-Ungarn, heute Bojany/Бояни, Ukraine; † 25. Juli 1940 in London) war ein österreichischer jüdischer Arzt und Psychoanalytiker.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Stekel wurde in einer österreichischen Kleinstadt geboren und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter war eine starke Persönlichkeit und spielte in seinem Leben eine führende Rolle. Seine Eltern brachten ihn wegen schlechter Noten in der untersten Klasse in eine Schuhmacherlehre. Da ihm dies alsbald zu eintönig wurde, ging er zur Schule zurück und wurde nun einer der besten Schüler. Er bekam trotz seiner armen Herkunft Klavier- und Violinstunden, da er eine besondere Begabung für Musik zeigte. Diese Interesse an Musik begleitete ihn sein ganzes Leben und er gab später Kammermusikabende in seinem Haus.
Nach der Matura wollte Stekel Deutsch und Geschichte studieren. Da die Aussichten in diesen Fächern nicht gut waren, zog er 1887 nach Wien, um Medizin zu studieren. Bei Krafft-Ebing hörte er Vorlesungen über „Psychiatrische Krankheiten“. 1891 benötigte er ein Stipendium des Reichskriegsministeriums, welches ihn nach dem Studium als Militärarzt verpflichtete. Er promovierte am 10. Juni 1893 an der Universität Wien als Doctor der gesamten Heilkunde. Bei der Prüfung zum Militärarzt soll er mit Absicht durchgefallen sein. Er musste jedoch zu einer Wiederholungsprüfung antreten, wurde zum Militärarzt ernannt und musste die zweite Hälfte seines Präsenzdienstes ableisten. Es gelang ihm jedoch, sich vom Heeresdienst befreien zu lassen und kam in der Klinik von Krafft-Ebing unter, da er sich schon immer für Neurologie interessiert hatte. Bei Krafft-Ebing lernte er, Neurotiker mit Hypnose und elektrischem Strom zu behandeln. Ein Jahr nach der Prüfung eröffnete er eine Privatpraxis als Nervenarzt. Zusammen mit Winternitz probierte er Methoden der Hydrotherapie, erkannte jedoch, damit nicht an die Wurzeln der neurotischen Probleme zu gelangen.
Stekel war schon 1891 im Kassowitz Institut auf Sigmund Freuds Theorien getroffen[1]. Um 1901 trat er mit Freud in Kontakt und ließ sich als Patient von ihm behandeln. Die kurze Behandlung über acht Sitzungen wegen Potenzstörungen war zugleich Stekels Lehranalyse. Er regte Freud zur Einführung der Mittwochsversammlungen an, bei denen er Alfred Adler kennenlernte. Zusammen mit ihm gründete er 1910 das Zentralblatt für Psychoanalyse und war als dessen Schriftleiter tätig. Adler war der Präsident und Stekel der Vizepräsident der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, die als Verein am 12. Oktober 1910 offiziell gegründet wurde[2]. Nach Auseinandersetzungen mit Freud schieden Stekel und Adler 1911 aus der Vereinigung aus. Freud gründete 1912 zusammen mit Hanns Sachs und Otto Rank die Zeitschrift Imago, da Stekel die Schriftleitung für das Zentralblatt nicht abgab. Das Zentralblatt wurde jedoch mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs eingestellt.
Seine fortdauernden Bemühungen um eine Aussöhnung mit Freud blieben fruchtlos.
Er betrieb in der Folge eine psychoanalytische Praxis und behandelte unter anderem den österreichischen Psychoanalytiker Otto Gross (1914) und den schottischen Pädagogen Alexander Neill. Im Ersten Weltkrieg wurde der Landsturmarzt Stekel als Militärpsychiater eingesetzt. Ab dem 4. April 1914 war er im „Vereinsreservespital 6“ in Wien eingesetzt und behandelte u. a. Kriegsneurosen. Im November 1916 wurde Stekel zum „k. u. k. Kriegsspital im Simmering“ versetzt, wo er den Posten von Alfred Adler übernahm. Wie Stekel angab, habe er versucht, seine Patienten nach Möglichkeit vor der Brutalität des Krieges zu schützen.
Zur Förderung der „praktischen Psychotherapie“ gründete er 1931 die Vierteljahrsschrift Psychoanalytische Praxis – in Ergänzung zu dem mehr wissenschaftlich orientierten Zentralblatt für Psychotherapie, das in Deutschland von der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) von deren damaligem Vorsitzenden Ernst Kretschmer herausgegeben und von Johannes Heinrich Schultz sowie Arthur Kronfeld als Schriftleiter redigiert wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland bildete er sie „den Zeitumständen Rechnung tragend“ mit Kronfeld um und brachte sie gemeinsam mit ihm unter dem Titel „Psychotherapeutische Praxis – Vierteljahresschrift für praktische ärztliche Psychotherapie“ von 1934 bis 1936/37 bei Weidmann in Wien heraus.[3]
Seine Werke unterlagen wie die von Anna Freud, Sigmund Freud und Wilhelm Reich unter dem Nationalsozialismus einem Totalverbot.
Unter dem Druck der politischen Verhältnisse floh er Ende 1938 nach England und hatte in London eine psychoanalytische Privatpraxis. Durch die Flucht verlor er sein gesamtes Vermögen. In seiner Vermögensanmeldung vom 27. Juni 1938 ist dort zusätzlich angegeben, dass er 1939 in London „von Unterstützungen“ seiner „Familie und Schüler und von Vorträgen“ lebte.[4] Er schrieb seine Erinnerungen und beteiligte sich an kulturellen Aktivitäten der österreichischen Flüchtlinge. Einer seiner Vorträge behandelt den österreichischen Beitrag zur Entwicklung der Psychoanalyse. Jedoch war er seines früheren Betätigungsfeldes beraubt und fühlte sich immer einsamer, da seine Frau häufig auf Reisen war und wegen der deutschen Bombenangriffe London verlassen hatte. Seit einigen Jahren litt er an Diabetes und einer Prostatavergrößerung, die ihn wegen der medizinischen Versorgung daran hinderte, seiner Frau zu folgen. Stekel verübte Selbstmord im Pembroke Hotel in London im Alter von 72 Jahren[5]. Als Todesursache wurde eine „selbstverursachte Aspirinvergiftung“[6] angegeben. Stekel war zweimal verheiratet und hinterließ zwei Kinder.[7] Seine 23 Jahre jüngere Frau Hilde Binder Stekel (1891–1969[8]) heiratete er am 14. Oktober 1938.
1906 war er Mitbegründer und Leiter der kurzlebigen „Wiener Vertretung des wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin“.
Werk und Wirkung
Stekel hatte in der Popularisierung der Psychoanalyse seine größten Verdienste. In seinen theoretischen Schriften finden sich oft Widersprüche, da ihm seine Deutungen teils bewusst und teils unbewusst waren. Er wurde innerhalb der psychoanalytischen Bewegung hauptsächlich durch Traum- und Symboldeutungen bekannt.
Seine Werke sind in 26 Sprachen übersetzt (Stand: 1980).
Werke und Schriften
- Der Kreislauf der Liebe. Vier neue Bilder vom Krankenlager der Liebe. Verlag Paul Knepler, Wien [ca. 1905]
- Wie beuge ich einer Blinddarmentzündung vor? Hygienische Zeitfragen I. Verlag Paul Knepler, Wien 1906
- Die Ursachen der Nervosität. Neue Ansichten über deren Entstehung und Verhütung. Hygienische Zeitfragen II. Verlag Paul Knepler, Wien 1907
- Harnsäure und kein Ende! Die echte und die falsche Gicht. Verlag Paul Knepler, Wien 1908.
- Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1908
- Was im Grund der Seele ruht. Bekenntnisse eines Seelenarztes. Verlag Paul Knepler, Wien 1908
- Keuschheit und Gesundheit. Hygienische Zeitfragen IV. Verlag Paul Knepler, Wien 1909
- Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1909
- Die Sprache des Traumes. Eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele für Ärzte und Psychologen. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1911
- Nervöse Leute. Kleine Federzeichnungen aus der Praxis. Verlag Paul Knepler, Wien 1911
- Die Träume der Dichter. Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912
- Äskulap als Harlekin. Humor, Satire und Phantasie aus der Praxis. [Pseudonym Dr. med. Serenus] J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912
- Das liebe Ich. Grundriß einer neuen Diätetik der Seele. Verlag von Otto Salle, Berlin 1913
- Das nervöse Herz. Verlag Paul Knepler, Wien 1913
- „Die Menschen, die nennen es - Liebe…“ Vier Szenen vom Krankenlager der Liebe. Verlag Paul Knepler, Wien 1914
- Der Wille zum Schlaf! Altes und Neues über Schlaf und Schlaflosigkeit. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1915
- Unser Seelenleben im Kriege. Psychologische Betrachtungen eines Nervenarztes. Verlag von Otto Salle, Berlin 1916
- Der nervöse Magen. Hygienische Zeitfragen XI/XII. Verlag Paul Knepler, Wien 1918
- Der telephatische Traum. Meine Erfahrungen über die Phänomene des Hellsehens im Wachen und im Traume. Verlag J. Baum, 1918
- Das goldene Seil. Ein Schattenspiel der Liebe in vier Akten. Verlag Paul Knepler, Wien 1919
- Der Weise und der Tor. Ein Tagebuch in Versen. Verlag Paul Knepler 1919
- Die Impotenz des Mannes. Die psychischen Störungen der männlichen Sexualfunktion. Urban & Schwarzenberg, Wien 1920
- Die Geschlechtskälte der Frau. Eine Psychopathologie des weiblichen Liebeslebens. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1920
- Der Wille zum Leben. Neue und alte Wege zum Glück. Verlag von Otto Salle, Berlin 1920
- Masken der Sexualität. Der innere Mensch. Verlag Paul Knepler, Wien 1920
- Impulshandlungen. Wandertrieb, Dipsomanie, Kleptomanie, Pyromanie und verwandte Zustände. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1922
- Psychosexueller Infantilismus. Die seelischen Kinderkrankheiten der Erwachsenen. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1922
- Masken der Sexualität. Der innere Mensch. Verlag Paul Knepler, Wien [ca. 1923]
- Onanie und Homosexualität. Die homosexuelle Parapathie. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1923
- Der Fetischismus. Dargestellt für Ärzte und Kriminalogen. Urban & Schwarzenberg, Wien 1923
- Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychanalyse I. Band. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1924
- Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychanalyse II. Band. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1926
- Briefe an eine Mutter. Teil 1: Kleinkindalter. Wendepunkt-Verlag, Zürich 1927
- Zwang und Zweifel. Für Ärzte und Mediziner dargestellt. Erster Teil. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1927
- Zwang und Zweifel. Für Ärzte und Mediziner dargestellt. Zweiter Teil. Urban & Schwarzenberg, Berlin-Wien 1928
- Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychanalyse III. Band. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1928
- Briefe an eine Mutter. Teil 2: Vor und nach den ersten Schuljahren. Wendepunkt-Verlag, Zürich-Leipzig 1928
- Briefe an eine Mutter. Teil 3: Pubertät und Reifejahre. Wendepunkt-Verlag, Zürich 1929
- Das Gehör - Eine sexualphysiologische und psychologische Darstellung der Rolle und Bedeutung des Gehörsinnes im Triebleben des Menschen. [Herausgegeben von mehreren Autoren], Verlag für Kulturforschung, Wien-Leipzig 1930
- Die moderne Ehe. Wendepunkt-Verlag, Basel-Leipzig-Wien 1931
- Der Seelenarzt. Handbuch für seelische Beratung. Selbstverlag des Instituts für aktive Psychoanalyse, Leipzig-Amsterdam-Wien 1933
- Erziehung der Eltern. Weidmann & Co. Verlag der Psychotherapeutischen Praxis, Wien-Leipzig-Bern 1934
- Fortschritte und Technik der Traumdeutung. Weidmann, Wien-Leipzig-Bern 1935.
- Die Technik der analytischen Psychotherapie. Eine zusammenfassende Darstellung auf Grund dreissigjähriger Erfahrung. Verlag Hans Huber, Bern 1938
- The Autobiography of Wilhelm Stekel - The Life Story of a Pioneer Psychoanalyst. New York 1950
- Wege zum Ich. Psychologische Orientierungshilfen im Alltag. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1972.
Literatur
- Hans-Volker Werthmann: Wilhelm Stekel (1868-1940). In: Volkmar Sigusch und Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt/M.– New York: Campus Verlag 2009, S. 665-672, ISBN 978-3-593-39049-9
- Oskar Frischenschlager (Hrsg.): Wien, wo sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse und ihrer Schulen. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 1994. ISBN 3-205-98135-9
- Bernd Nitzschke: Wilhelm Stekel, Pionier der Psychoanalyse. http://www.werkblatt.at/nitzschke/text/stekel.htm
- Josef Rattner (Hrsg.): Der Weg zum Menschen. Europa Verlag, Wien-München-Zürich 1981, ISBN 3-203-50765-X
- Aktive Psychoanalyse. Eklektisch gesehen. Ein Lesebuch, kommentiert, mit eigenen Fällen ergänzt und hrsg. von Walter Schindler. Verlag Hans Huber, Bern 1980
Weblinks
Wikiquote: Wilhelm Stekel – Zitate- Literatur von und über Wilhelm Stekel im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Francis Clark-Lowes: Stekel, Wilhelm (1868-1940). In: International Dictionary of Psychoanalysis.
- psyalpha - Wissensplattform für Psychoanalyse Wilhelm Stekel
Einzelnachweise
- ↑ http://www.pep-web.org/document.php?id=pah.003.0069a
- ↑ http://wpv.at/homepage/main/index?menu_id=4&content_id=87
- ↑ http://www.sgipt.org/gesch/kronf_l.htm
- ↑ http://www.egms.de/static/en/journals/mbi/2009-8/mbi000122.shtml
- ↑ Manche Quellen geben den 5. Juni 1940 als Todestag an.
- ↑ Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik: Alter Hilfsfond Zl. 14.700.
- ↑ Staff report (June 28, 1940). WILHELM STEKEL ONCE FREUD’S AIDE; Former Chief Assistant to the Psychoanalyst Wrote Works on Mental Maladies JOINED ADLER AND JUNG Among 'Disciples' Who Broke With 'Father' of Science-- Theorized on Dictators. New York Times
- ↑ Staff report (June 3, 1969). Dr. Hilda B. Stekel. New York Times
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