Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung

Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung

Tatbestand und Rechtsfolgen der Unterkapitalisierung von Kapitalgesellschaften waren im deutschen Gesellschaftsrecht lange Zeit ungeklärt. Die Theorie der Binnenhaftung nach § 826 BGB wegen quotaler Unterkapitalisierung will diesen Missstand beheben.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Dem Problem der Unterkapitalisierung liegt ein Interessenkonflikt zwischen Gesellschaftern und Gesellschaftsgläubigern zugrunde. Das deutsche Gesellschaftsrecht versuchte das Problem traditionell durch das Kapitalschutzsystem zu lösen, das GmbH-Gesellschaftern u.a. die Aufbringung und Erhaltung eines Mindestkapitals auferlegte. Vor allem im anglo-amerikanischen Rechtskreis gibt es ein solches System nicht. Dementsprechend geriet die deutsche Konzeption unter Druck, nachdem der EuGH v.a. im Überseering-Urteil den Zuzug der phänotypisch unterkapitalisierten, unter Einsatz eines Pfunds Sterling gegründeten englischen Limited unter dem Schutz der Niederlassungsfreiheit gem. Artt. 43, 48 EG nach Deutschland erlaubte. Mit dem MoMiG und dem ARUG passte der deutsche Gesetzgeber die hiesige Rechtslage an die veränderten Umstände an und liberalisierte das Kapitalschutzsystem. Bei der GmbH ging die Deregulierung besonders weit. Dadurch wurde das Unterkapitalisierungsproblem bei deutschen GmbHs noch akuter.

Tatbestand der quotalen Unterkapitalisierung

Nach der Trihotel-Doktrin des BGH[1] kommt es im Rahmen von § 826 BGB auf eine schadensstiftende Verletzung von Pflichten an, die den Gesellschaftern gegenüber ihrer Gesellschaft obliegen. In Analogie zur Trihotel-Doktrin, die die Existenzvernichtungshaftung betrifft, sieht das Konzept der Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung in der Unterkapitalisierung eine solche Pflichtverletzung.

Unterkapitalisierung ist im Einzelfall aber schwer zu ermitteln. Sie hängt letztlich von einer Vielzahl von Faktoren ab, die auch für das Bonitätsrating verwendet werden. Die größte Bedeutung kommt letztlich der Bilanz zu. Um das Vorliegen von Unterkapitalisierung zweifelsfrei messbar zu machen, arbeitet das Konzept der Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung mit einer nach vergleichbaren, international verbreiteten Zahlen ermittelten Quote: Mindestens 16 % der Bilanzsumme müssen aus Gesellschafterhand (Eigenkapital oder Fremdkapital) stammen. Wenn dieser Wert unterschritten wird, scheidet Unterkapitalisierung nur dann aus, wenn eine einzelfallbezogene Betrachtung von cash flow, Schuldentilgungsdauer, Buchwert, Risikovorsorge, Ertragskraft usw. ergibt, dass das Geschäftsmodell gesund ist. Ist dies nicht der Fall, haften die Gesellschafter, sofern ihre unternehmerische Entscheidung über die Kapitalausstattung ihrer Gesellschaft nicht unter dem Schutz der business judgment rule steht.

Es geht letztlich nicht mehr um ein festes Mindestkapital, sondern um ein Mindestrisiko, das Gesellschafter tragen sollen, damit sie ihre Position nicht zulasten der Gläubiger missbrauchen.

Rechtsfolgen der quotalen Unterkapitalisierung

Eine Durchgriffshaftung, wie sie in der deutschen gesellschaftsrechtlichen Literatur lange propagiert wurde[2], hat den Nachteil, dass ein Wettlauf der Gesellschaftsgläubiger um den Zugriff auf das (begrenzte) Privatvermögen der Gesellschafter entsteht; manche Gläubiger werden dann voll befriedigt, andere gar nicht.

Wiederum in Analogie zur Trihotel-Doktrin des BGH führt die Haftung wegen quotaler Unterkapitalisierung zu einer Binnenhaftung der Gesellschafter gegenüber ihrer Gesellschaft: Sie müssen dieser im Wege des Schadensersatzes den Betrag zuführen, der erforderlich ist, um die quotale Unterkapitalisierung zu beseitigen, d.h. Kapital zuführen, bis wieder mindestens 16 % der Bilanzsumme aus ihrer Hand stammen. Um der Finanzierungsfreiheit nach dem MoMiG Rechnung zu tragen, bleibt es den Gesellschaftern überlassen, ob sie Eigenkapital oder Fremdkapital zuführen wollen. Alternativ können sie die Gesellschaft in einem geordneten Verfahren liquidieren. Kommen sie dem nicht nach und führen eine unterkapitalisierte Gesellschaft in die Insolvenz, haften sie unter dem Gesichtspunkt der Existenzvernichtungshaftung.

Dieses abgestuften System von Rechtsfolgen bietet sich als die deliktsrechtliche Lösung des Unterkapitalisierungsproblems an, die der BGH in seiner Gamma-Entscheidung[3] hat anklingen lassen.

Europarechtskonformität der Unterwerfung von EU-Auslandsgesellschaften unter die Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung

Deutsches Kapitalgesellschaftsrecht kann nicht mehr ohne Blick auf die Niederlassungsfreiheit gestaltet werden. Denn es sinnlos Regulierungskonzepte einzuführen, die durch die Wahl einer ausländischen Gesellschaftsform unter dem Schutz der Niederlassungsfreiheit umgangen werden können. Der Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung können Gesellschafter aber nicht entgehen, weil sie deliktsrechtlich zu qualifizieren ist, sodass deutsches Recht auch auf ausländische Gesellschaften mit Tätigkeitsschwerpunkt in Deutschland Anwendung findet. Das steht auch nicht im Widerspruch zur Niederlassungsfreiheit. Nach dem Vier-Konditionen-Test des EuGH kommt es darauf an, dass die nationale Maßnahme in nicht diskriminierender Weise angewendet wird, einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses dient und zu dessen Erreichung geeignet und erforderlich ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, da der Gläubigerschutz ein hohes Gut ist, die Haftungsfigur auf in- und ausländische Gesellschaften gleichermaßen angewendet wird und auch genügend Raum für wertende Betrachtung im Einzelfall verbleibt. Ferner versagt das vom EuGH propagierte Informationsmodell, demzufolge Beeinträchtigungen der Niederlassungsfreiheit wegen der Möglichkeit des Selbstschutzes der Gesellschaftsgläubiger nicht erforderlich seien[4] - denn nach der Konzeption der Binnenhaftung wegen quotaler Unterkapitalisierung ist die Gesellschaft selbst die unmittelbar Geschädigte und nicht etwa ihre Gläubiger.

Literatur

  • Gerold Niggemann: Die Reform des Gläubigerschutzsystems der GmbH im Spiegel der Niederlassungsfreiheit Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-13112-9.

Einzelnachweise

  1. BGHZ 173, 246.
  2. Etwa Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, 4. Aufl., § 29 Rn. 46.
  3. BGHZ 176, 204, juris-Tz. 25.
  4. EuGH, Rs. C-212/97, NJW 1999, 2027, Tz. 36 f. ("Centros").

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