Chthonismus

Chthonismus

Chthonismus (von (griechisch Χθόν) Chthon - Erde) bezeichnet eine mythologische Weltanschauung, in der die als Mutter personifizierte Erde im Mittelpunkt steht. Der Begriff wird insbesondere in der Religionsphilosophie und in der Ethnologie verwendet. Häufig findet sich ein Dualismus von väterlichem Himmel und mütterlicher Erde. Ein frühes Beispiel Chthonischer Götter sind bei Hesiod die Titanen mit Gaia und Uranos als Ursprung des Göttergeschlechts. Einen ähnlichen Gegensatz bilden die erdverbundenen Götter Hades und Demeter.

Im 19. Jahrhundert finden sich bei Friedrich Creuzer[1] und Karl Otfried Müller[2] Hinweise auf eine Interpretation der griechischen Mythologie als chthonische Religion. Johann Jakob Bachofen entwickelte eine regelrechte Geschichtsphilosophie auf dieser Grundlage, indem er Polaritäten wie Tag/Nacht, Tod//Wiedergeburt oder Stoff/Geist mit dem Gegensatz von weiblich/männlich verband.[3] Die Menschheitsgeschichte ist nach Bachofen durch drei Entwicklungsstufen zu charakterisieren. Im Anfang steht der Hetärismus mit einem schrankenlosen „Sumpfleben“ (Promiskuität) nach dem Vorbild der ägyptischen Erde, die jährlich durch die Überschwemmungen des Nils fruchtbar wird. Die zweite Phase ist die Gynaiokratie (Matriarchat), wie Bachofen sie bei verschiedenen mediterranen Völkern (Lyker, Kreter, Lemnier, Lesbier, Lokrer) rekonstruierte. In dieser Phase gibt es schon rechtliche Regeln wie die Ehe, aber es dominiert das Mutterrecht (zum Beispiel im Erbrecht) und es herrscht eine chthonische Religion, in der die Mutter als Erzieherin der Welt und durch die Geburt als Symbol der ewigen Wiederkehr gilt. Erst in einer dritten Phase kommt es zur Paternität, dem Vaterrecht, in dem der Geist dominiert. Das Christentum ist ihm das Ergebnis der Überwindung des Gegensatzes von Leben und Tod und damit Vollendung der geschichtlichen Menschheitsentwicklung.

Das Bild einer Mutter, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückkehrt, findet sich am Anfang eines dualistischen Modells auch bei manchen schwarzafrikanischen Völkern in der Sudanregion, bei denen die Erde regelmäßig als Frau des Himmels- und Regengottes erscheint und beide von einer Urmutter abstammen. Eine Verbindung dieser chthonistischen Religion zu den mediterranen Völkern ist nicht bekannt.

Die Rezeption Bachofens erfolgte zunächst durch linke Theoretiker wie Friedrich Engels[4] im Sinne eines Arguments für die Gleichberechtigung. Im 20. Jahrhunderts nahmen mit Alfred Schuler und Ludwig Klages Vertreter des George-Kreises das Thema auf und verbanden es mit einer am Mythos orientierten Lebensphilosophie.[5] Eine verzerrte Interpretation der weltoffenen Philosophie Bachofens findet sich schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus bei Alfred Baeumler, Ernst Bergmann und Alfred Rosenberg, die aus mütterlichen Symbolen des Leibes und Blutes einen Rassismus entwickelten, der bei Bachofen nicht zu finden ist.[6]

Literatur

  • Alfred Bäumler: Der Mythus vom Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Einleitung in: J.J. Bachofen, Auswahlg hrsg. Von M. Schroeter, 1926
  • Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Eine Auswahl, hrsg. v. Hans-Jürgen Heinrichs, Suhrkamp, 9. Aufl. 1997, ISBN 3-518-27735-9
  • Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos: zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-826035111
  • E. Haberland: Stichwort „Chthonismus“. in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, Sp. 1017-1018
  • Jürgen Zwernemann: Die Erde in Vorstellungswelt und Kulturpraktiken der sudanischen Völker. Reimer, Berlin 1968

Einzelnachweise

  1. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, 1812
  2. Karl Otfried Müller: Geschichten Hellenischer Stämme und Städte. 3 Bände, Breslau 1820/1824
  3. Hélène Laffont: Zur Rezeption Bachofens im Nationalsozialismus, in Marion Heinz und Goran Gretic (Hrsg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus, Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, 143-162, 143
  4. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884
  5. Ludwig Klages: Über Bachofen. Würdigung, in: J.J. Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten. Helbing & Lichtenhahn, 2. Aufl. Basel 1925, IX-XIII
  6. Hélène Laffont: Zur Rezeption Bachofens im Nationalsozialismus, in Marion Heinz und Goran Gretic (Hrsg.): Philosophie und Zeitgeist im Nationalsozialismus, Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, 143-162

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