- Ian Morris (Historiker)
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Ian Morris (* 27. Januar 1960 in Stoke-on-Trent, England) ist ein englischer Althistoriker und Archäologe, der seit 1995 an der Stanford University lehrt.
Leben
Morris studierte an der Birmingham University und an der University of Cambridge, wo er 1986 promoviert wurde. Das Thema seiner Doktorarbeit war die Gesellschaft Griechenlands um 700 v.Chr. Von 1987 bis 1995 war Morris Geschichtsprofessor an der University of Chicago. Seit 1995 ist er Willard Professor of Classics und Professor für Geschichte an der Stanford University.
Ian Morris' Arbeiten werden u. a. von der Guggenheim Stiftung und der National Geographic Society gefördert.
Why the West Rules
In seinem Buch Why the West Rules — for now (2010) erläutert Morris, weshalb der Westen zur Zeit noch in Führung ist und prognostiziert durch Extrapolation aus der Zeitreihe seines Entwicklungsindexes ein Ende der Vorherrschaft um das Jahr 2100. Er gibt in seinem Werk einen Überblick über die letzten 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte der von ihm definierten „Kernentwicklungsgebiete“ (Europa, Orient, USA) und (China, Japan)[1]. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der jeweils dominierenden Region in Ost und West und auf dem Wechselspiel von geographisch-kulturellen Randbedingungen und deren sich im Laufe der sozialen Entwicklung ändernden Bedeutung. Er geht auch auf die Evolutionsgeschichte ein, argumentiert jedoch, dass hier nicht der Schlüssel für die heutigen Unterschiede liegen kann und fokussiert seine Untersuchung auf die letzten 10.000 Jahre.
Zentral für Morris Untersuchung ist der "Entwicklungsindex" (index for social development), mit dem er den Entwicklungsstand von Gesellschaften zu quantifizieren und vergleichbar zu machen sucht. In den Index gehen gleichgewichtet die vier Merkmale Energiegewinnung, Organisation, Informationstechnologie und Kriegsführungskapazität (energy capture, organization, information technology, war-making capacity) ein.[2] Zur Bestimmung des Indexwerts der ersten beiden Merkmale werden der Energieverbrauch pro Kopf und die Bevölkerungszahl der größten Stadt im zu bewertenden Kerngebiet herangezogen. Die Abschätzung der beiden anderen Merkmale anhand technologischer beziehungsweise militärischer Fähigkeiten wird in [2] ausführlich dargestellt. Anhand der so für die beiden Kerngebiete berechneten Indexwerte schließt Morris, dass in der Vergangenheit sowohl West wie Ost schon in Führung gelegen haben und der derzeitige westliche Vorsprung erst seit zirka 1770 besteht. "Führung" wird nun anhand des Indexstands gemessen und die zeitliche Entwicklung des Index von 14.000 v. Chr. bis heute diskutiert und erklärt.
Morris möchte in seinem Buch zwei vorherrschende Theorien widerlegen: Die Theorie der längerfristigen Determiniertheit und jene der kurzfristigen Zufallsereignisse. Nach der Determinationstheorie ist alles schon seit Urzeiten festgelegt, manche Anhänger dieser Theorie begründen die Überlegenheit des Westen mit seiner überlegenen Kultur. Andere sehen in Politik, Religion, Klima, Verfügbarkeit von Ressourcen oder topografischen Verhältnissen den entscheidenden Faktor.
Morris kritisiert diese Theorien. So habe China (Kerngebiet des Ostens) zwischen 500-1700 eine höher entwickelte Gesellschaftsstruktur geherrscht, als in den Kerngebieten des Westens (Orient bis 1400, West und Mitteleuropa bis 1700). Der Theorie der kurzfristigen Zufallsereignisse setzt er die These entgegen, dass die Geschichte nach gewissen Mustern verlaufe.
Vollständig lehnt er eine Überlegenheit des Westens anhand der Gene oder der Abstammung ab. Weiter meint er, dass große Menschenmassen prinzipiell die gleichen Menschen hervorbringen, d.h., in allen Völkern seien gleichviel Ressourcen vorhanden und kein Volk auf der Welt besonders begabt. Alle hätten die gleichen geistigen Fähigkeiten (schöpferische, intellektuelle, zerstörerische). Die Entwicklung neuer Maschinen und Arbeitsprozesse betrachtet Morris als Produkte menschlicher Faulheit, Gier und Angst. Des Weiteren denkt er, dass Geschichte primär von einem Volk geschrieben wird und nicht von ein paar grossen Persönlichkeiten, wie bspw. von Monarchen oder Intellektuellen.
Kritik
Kritiker wie Ricardo Duchesne bemängeln die unscharfe, unhistorische Definition des Westens, unter dem Morris nicht nur Europa, sondern alle Zivilisationen in der Nachfolge des Fruchtbaren Halbmonds verstehen möchte, darunter auch den Islam. Morris' Analyse zeige ausgeprägte Tendenz, die grundlegenden Unterschiede in der Entwicklung des Westens und der restlichen Welt einzuebnen und so den singulären Beitrag Europas zur Entstehung der Moderne unterzubewerten.[3]
Werke
- Burial and Ancient Society (Cambridge 1987) ISBN 978-0-521-38738-5.
- Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity (Cambridge 1992) ISBN 978-0-521-37611-2
- mit Kurt Raaflaub (Hrsg.): Democracy 2500? Questions and Challenges, Kendall/Hunt, Dubuque, Iowa 2008 ISBN 0-78724466X
- Archaeology as Cultural History (Blackwell 2000) ISBN 978-0-631-19602-0.
- mit Barry Powell: The Greeks: History, Culture, and Society (Prentice-Hall. 1. Aufl. 2005; 2. Aufl. 2009) ISBN 978-0-205-69734-2.
- Why the West Rules - for Now: The Patterns of History, and What They Reveal About the Future. Farrar, Straus and Giroux, 2010. ISBN 0374290024. (deutsch Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2011 ISBN 978-3-593-38406-1)
Weblinks
- Literatur von und über Ian Morris (Historiker) im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Homepage an der Universität Stanford
- Biographie auf Morris' Homepage
Einzelnachweise
- ↑ Morris identifiziert zunächst sieben "ursprüngliche Kerngebiete" ("original cores"), in denen sich nach Ende der Eiszeit zuerst gesellschaftliche Strukturen entwickelten, darunter vier in Asien (Mesopotamien, Neuguinea, Pakistan/Nordindien, China), einer in Afrika und zwei in Amerika (Mexiko, Peru). Als "Ost" und "West" bezeichnet er das östlichste bzw. das westlichste der asiatischen Kerngebiete sowie jeweils auch die Gesellschaften, die von diesen abstammten bzw sich aus diesen entwickelten (z.B.: Westen = "all societies descended from the westernmost Eurasian core"). Solch eine Abstammung sieht er u.a. zwischen den Reichen der Sumerer, Ägypter, Römer, Araber, Briten und der heutigen westlichen Welt.
- ↑ a b Ian Morris: Social Development. 2010, abgerufen am 11. März 2011 (pdf, englisch).
- ↑ Ricardo Duchesne: Review in Reviews in History
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