Maigret und die junge Tote

Maigret und die junge Tote

Maigret und die junge Tote (französisch: Maigret et la jeune morte) ist ein Kriminalroman des belgischen Schriftstellers Georges Simenon. Er ist der 45. Roman einer Serie von insgesamt 75 Romanen und 28 Erzählungen um den Kriminalkommissar Maigret. Der Roman entstand vom 11. bis 18. Januar 1954[1] und wurde im gleichen Jahr vom Verlag Presses de la Cité veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung von Hansjürgen Wille und Barbara Klau erschien 1958 bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Maigret und die Unbekannte. 1978 veröffentlichte der Diogenes Verlag eine Neuübersetzung von Raymond Regh unter dem Titel Maigret und die junge Tote.[2]

Der Roman dreht sich um eine junge Frau im Abendkleid, die nachts in den Pariser Straßen ermordet aufgefunden wird. Niemand scheint die Tote zu kennen. Doch bevor Maigret daran denkt, nach einem Mörder Ausschau zu halten, will er erst das junge Mädchen verstehen und ihren Lebensweg nachvollziehen. Erschwert werden Maigrets Ermittlungen durch einen alten Bekannten, Inspektor Griesgram, den trotz gewohnt schlechter Laune sein Ehrgeiz antreibt, dem Kommissar zuvorzukommen und den Fall alleine zu lösen.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

März, Quai des Orfèvres, 3 Uhr morgens. Nach einem 30-stündigen Verhör hat die berüchtigte Mauerbrecher-Band endlich gestanden. Kommissar Maigret und Inspektor Janvier sind erschöpft und wollen die Nacht bei einer Zwiebelsuppe ausklingen lassen. Da erreicht sie ein Anruf: Am Place Vintimille nahe dem Vergnügungsviertel von Montmartre ist eine junge Tote aufgefunden worden. Vor Ort befindet sich schon der lokale Inspektor Lognon, den alle nur Inspektor Griesgram nennen, ein Mann, der alles Unglück der Welt gepachtet zu haben glaubt und der insbesondere im Wahn lebt, die vom Quai des Orfèvres schnappten ihm alle brisanten Fälle weg, mit denen er sich profilieren und Karriere machen könnte. Maigret, der Lognon bereits von früheren Fällen kennt, behandelt den Inspektor zwar mit Samthandschuhen, am beleidigten Auftreten des Griesgrams ändert dies freilich nichts.

Die junge Tote starb durch den Schlag eines schweren Gegenstands auf den Kopf, zuvor war ihr schon ins Gesicht geschlagen worden. In ihrer Aufmachung wirkt sie wie ein junges Animiermädchen aus dem Viertel, doch Maigret ist bald klar, dass sie nicht am Fundort umgebracht wurde. Das Kleid hatte sie sich noch am Abend bei einer Händlerin namens Mademoiselle Irène geliehen, die ebenfalls geliehene Handtasche ist verschwunden. Im Verlauf der Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Tote Louise Laboine hieß, zwanzig Jahre alt war, bei einer alten Dame zur Untermiete wohnte, und so arm war, dass sie nicht mehr als ein Kleid besaß.

Louise stammte ursprünglich aus Nizza, ihre Mutter ist eine ehemalige Tänzerin und nun dem Glücksspiel verfallen, ihr Vater, der international gesuchte Trickbetrüger Julius Van Cram, verließ Frau und Tochter, als sie zwei Monate alt war. Mit sechzehn riss sie von zu Hause aus, lernte im Zug nach Paris ein anderes junges Mädchen namens Jeanine Armenieu kennen, bei der sie lange Zeit wohnte. Doch während Jeanine sich schnell in der Großstadt einfand und einen reichen Mann namens Marco Santoni angelte, blieb Louise allein, ängstlich und lebte lange Zeit von der Gnade der Freundin. Am Mordabend wurde sie bei Jeanines Hochzeit vorstellig, um die Freundin erneut um Geld zu bitten. Dort erfuhr sie auch, dass ein Mann nach ihr gefragt und in der Pickwick’s Bar einen Brief für sie hinterlassen habe. Danach verliert sich ihre Spur.

Während der Ermittlungen ist Inspektor Lognon Maigret, der sich ganz darauf konzentriert, sich in die Tote einzufühlen, ehe er überhaupt daran denken will, nach einem Mörder zu suchen, immer einen kleinen Schritt voraus. Er verschafft sich die Spuren unter höchstem Einsatz im zumeist strömenden Pariser Regen, während Maigret alle Informationen in seinem Büro wie von selbst zufallen und er kein einziges Mal von Lognon zu überraschen ist. Plötzlich aber ist der Inspektor verschwunden, und die Ermittlungen gelten nicht mehr nur der Toten, sondern auch dem Schicksal des Griesgrams.

Der Barkeeper der Pickwick’s Bar, der vorbestrafte Korse Albert Falconi, behauptet, den Brief an das Mädchen ausgehändigt zu haben. Dann habe sich jedoch ein mysteriöser Amerikaner an ihre Fersen geheftet. Und er weiß sogar zu sagen, dass der Mann nach Brüssel reisen und im Hotel Palace absteigen wollte. Nun ahnt Maigret, dass der ehrgeizige Lognon auf eigene Faust nach Brüssel gereist ist, wo er noch immer vergeblich nach dem Amerikaner sucht, und er lässt ihn wieder zurückrufen. Zwar hatte Lognon in seinen Ermittlungen alles richtig gemacht, doch er konnte sich nicht in Louise einfühlen. Dabei glaubte am Ende auch sie, nachdem in ihrem Leben alles schiefgegangen war, die Welt habe sich gegen sie verschworen. Dass Falconi ihn anlügt, erkennt Maigret sofort, weil er das verschüchterte Mädchen in einer ihm fremden Bar beschreibt wie eine seiner üblichen Kundinnen.

Es braucht keine 30 Stunden wie bei den Mauerbrechern, bis Falconi gesteht: Er hatte den Brief längst gelesen. Er war das Vermächtnis von Louises Vater, der in Sing Sing verstorben war und wurde von seinem ehemaligen Komplizen überbracht. In ihm erklärt sich Julius Van Cram gegenüber seiner Tochter und vermacht ihr seine Diebesbeute, die sie gegen Vorlage ihres Ausweises in New York abholen könne. Falconi überbrachte die Nachricht Bianchi, dem Kopf der korsischen Bande. Dieser lauerte in der Nacht dem Mädchen auf, wollte ihren Ausweis rauben, weil sich die Handtasche aber an einer Armkette verhakt hatte, schlug er dem Mädchen ins Gesicht, als sie um Hilfe rief, erschlug er sie mit einem Totschläger. Für Maigret ist es eine Ironie des Schicksals, dass Louises Leben letztlich an einem kleinen Kettchen hing. Und er fragt sich, was das Mädchen wohl mit dem Geld angefangen hätte, das jetzt einem Bankier oder seiner Versicherung ausgezahlt wird.

Maigrets Ermittlungsmethode

Volker Neuhaus untersuchte den Roman unter dem Blickwinkel multiperspektivischen Erzählens. Im Mittelpunkt der Ermittlung stehe das Opfer, das aus den unterschiedlichen Perspektiven der Zeugen geschildert werde. Sein Bild gewinne mit jeder Zeugenaussage an Plastizität, wofür Simenon selbst im Roman das Bild der Entwicklung einer Fotografie findet, die die Züge einer Person allmählich deutlicher hervortreten lässt. Nachdem alle Aussagen zu einem Bild des Mädchens ineinandergefügt wurden, kennt Maigret die Unbekannte, die er zuvor nie gesehen hat, so gut, dass er den Barkeeper sofort entlarvt, als dessen Aussage nicht ins Bild passt. Inspektor Lognon dagegen wird auf die falsche Fährte gelockt, weil er nicht beherrscht, was laut Simenon keine Polizeischule lehre, sich in die Haut eines anderen Menschen zu versetzen. Neuhaus zieht das Fazit: „Gerade an dieser Lösung läßt sich das Besondere der Methoden Maigrets zeigen.“[3]

Auch für Stanley G. Eskin ist der Roman „ein ausgezeichnetes Beispiel“ für die Rolle, die Maigrets Vorstellungskraft bei der Lösung eines Falles spiele. Maigret rekonstruiere in seiner Vorstellung das Leben des Opfers, wobei ihn Madame Maigret mit ihrem Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche unterstütze. Diese Einbildungskraft führt in einigen Romanen am Ende gar dazu, dass Maigret seine Fälle bis in die Träume verfolgen.[4] Für Ulrike Leonhardt nimmt die junge Tote auch für den Leser am Ende so lebendig Gestalt an, dass man sie „nicht vergißt, auch wenn man den Mörder längst vergessen hat.“[5]

Rezeption

Das Literaturmagazin Time & Tide wertete den Roman 1955 als „einen schnörkellosen Krimi“, dessen Story „ein Modell von Ökonomie, Klarheit und Lesbarkeit“ sei.[6] Stanley. G. Eskin ordnete Maigret et la jeune morte im Rückblick unter „eine Handvoll erstklassiger Romane“ aus der dritten Periode der Maigret-Serie ein. [7] Für das Magazin Galore war Maigret und die junge Tote der „beste Maigret für den Anfang […], weil in der Geschichte über ein zunächst vollkommen gesichtsloses Opfer die Maigret-Methode des Herantastens deutlich gemacht wird.“[8] Tilman Spreckelsen freute sich über das „Wiedersehen mit dem unglückseligen Inspektor Lognon“. Angesichts der gegeneinander gestellten Schicksale zweier junger Mädchen in Paris fragte er sich allerdings: „Soll man das nun konstruiert nennen oder weise?“[9]

Die Romanvorlage wurde drei mal im Rahmen von Fernsehproduktionen verfilmt: 1959 unter dem Titel Maigret and the Lost Life mit Basil Sydney als Maigret, sowie 1963 und 1973 in den Maigret-Fernsehserie mit Rupert Davies und Jean Richard.[10] Unter dem Titel Maigret und die Unbekannte wurden zwei deutschsprachige Hörspiele produziert: 1959 vom Südwestfunk unter der Regie von Gert Westphal mit Leonhard Steckel, 1961 vom Bayerischen Rundfunk unter der Regie von Heinz-Günter Stamm mit Paul Dahlke.[11] 2006 veröffentlichte der Diogenes Verlag eine Lesung von Gert Heidenreich.

Ausgaben

  • Georges Simenon: Maigret et la jeune morte. Presses de la Cité, Paris 1954 (Erstausgabe).
  • Georges Simenon: Maigret und die Unbekannte. Übersetzung: Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1958.
  • Georges Simenon: Maigret und die Unbekannte. Übersetzung: Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Heyne, München 1966.
  • Georges Simenon: Maigret und die junge Tote. Übersetzung: Raymond Regh. Diogenes, Zürich 1978, ISBN 3-257-20508-2.
  • Georges Simenon: Maigret und die junge Tote. Sämtliche Maigret-Romane in 75 Bänden, Band 45. Übersetzung: Raymond Regh. Diogenes, Zürich 2009, ISBN 978-3-257-23845-7.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Biographie de Georges Simenon 1946 à 1967 auf Toutesimenon.com, der Internetseite des Omnibus Verlags.
  2. Oliver Hahn: Bibliografie deutschsprachiger Ausgaben. Georges-Simenon-Gesellschaft (Hrsg.): Simenon-Jahrbuch 2003. Wehrhahn, Laatzen 2004, ISBN 3-86525-101-3, S. 62–63.
  3. Volker Neuhaus: Typen multiperspektivischen Erzählens. Böhlau, Köln 1971, ISBN 3-412-00871-0, S. 113–114.
  4. Stanley G. Eskin: Simenon. Eine Biographie. Diogenes, Zürich 1989, ISBN 3-257-01830-4, S. 406–407, 414.
  5. Ulrike Leonhardt: Mord ist ihr Beruf. Die Geschichte des Kriminalromans. C. H. Beck, München 1990, ISBN 3-406-34420-8, S. 101.
  6. Maigret and the Young Girl is straightforward whodunit […]. This story is a model of economy, vividness and readability.“ In: Time & Tide Band 36, Time and Tide Publishing 1955, S. 1300.
  7. Stanley G. Eskin: Simenon. Eine Biographie, S. 414.
  8. Zitiert nach: Maigret und die junge Tote beim Diogenes Verlag.
  9. Tilman Spreckelsen: Maigret-Marathon 45: Die junge Tote. Auf FAZ.net vom 8. März 2009.
  10. Maigret und die junge Tote auf maigret.de.
  11. Maigrets und die Unbekannte in der Hörspieldatenbank HörDat.

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