Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame (französisch: Maigret et la vieille dame) ist ein Kriminalroman des belgischen Schriftstellers Georges Simenon. Er ist der 33. Roman einer Reihe von insgesamt 75 Romanen und 28 Erzählungen um den Kriminalkommissar Maigret. Der Roman entstand vom 29. November bis 8. Dezember 1949 in Carmel-by-the-Sea[1] und wurde im Folgejahr vom Verlag Presses de la Cité veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung von Hansjürgen Wille und Barbara Klau erschien 1954 bei Kiepenheuer & Witsch. 1978 veröffentlichte der Diogenes Verlag eine Neuübersetzung von Renate Nickel.[2]

Maigret wird in ein Seebad in der Normandie gerufen. Ein Dienstmädchen starb, weil es vom vergifteten Schlaftrunk ihrer Herrin kostete. Maigret lernt die reizende alte Dame kennen, die glaubt, dass der Anschlag ihr gegolten hat. Die Tochter eines Fischers kehrte einst als reiche Frau in ihre Heimatstadt zurück. Zu ihrem Geburtstag fand sich die gesamte Familie ein, deren Mitglieder nicht alle gut auf die alte Dame zu sprechen sind.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Panorama von Étretat

Maigret reist im September zum Ende der Saison in das Seebad Étretat nahe Le Havre an der Küste des Ärmelkanals. Gleich zwei Personen haben unabhängig voneinander um seine Unterstützung bei der Aufklärung eines Mordfalls gebeten: eine reizende alte Dame namens Valentine Besson, die persönlich nach Paris gereist ist, um den Kommissar um Hilfe zu bitten, und ihr Stiefsohn, der Abgeordnete Charles Besson, der den Minister dazu veranlasst hat, die Unterstützung Maigrets anzufordern. Gestorben ist Rose Trochu, das Hausmädchen Valentine Bessons. Und die Umstände ihres Todes, sie trank ein mit Arsen vergiftetes Schlafmittel, das eigentlich für ihre Herrschaft bestimmt war, lassen vermuten, dass in Wahrheit Valentine Besson das Opfer des Mordanschlags hätte sein sollen.

In Étretat lernt Maigret den lokalen Inspektor Castaing kennen. Und er besucht Valentine Bicoque, die im Ort respektvoll die „Schlossherrin“ genannt wird. Sie war die Tochter eines Fischers aus Étretat, ehe sie in zweiter Ehe Ferdinand Besson heiratete, der nach der Erfindung einer Akne-Creme das Kosmetik-Imperium Juva aufbaute, doch in Wahrheit stets der kleine Apotheker blieb, der nicht mit Geld umgehen konnte und seine Firma am Ende auch wieder ruinierte. Nach seinem Tod blieb Valentine nichts als eine kleine Rente und die Villa La Bicoque, die ihr Mann einst in ihrem Geburtsort bauen ließ, voll wertloser Möbel und falschem Schmuck.

Zu ihrem wenige Tage zurückliegenden Geburtstag war ihre Verwandtschaft angereist: Valentines Tochter aus erster Ehe Arlette, die mit dem Zahnarzt Julien Sudre verheiratet ist, der es vorzog in Paris zu bleiben, um zu malen, sowie die beiden Stiefsöhne aus erster Ehe ihres Mannes: der gutgläubige Politiker Charles mit Gattin Emilienne nebst vier Kindern und der alleinstehende Lebemann Théo Besson, der in Kleidung und Gesten den Herzog von Windsor imitiert. Während Emilienne Valentine vorwirft, die Söhne Ferdinands um ihr Erbe gebracht zu haben, hat sich auch der verarmte Théo mit seiner Stiefmutter überworfen. Selbst Arlette liebt ihre Mutter so wenig wie diese ihre Tochter. Sie hatte in der Nacht heimlich Besuch von ihrem Geliebten Hervé Peyrot.

Valentine präsentiert sich Maigret mit einnehmender Offenheit und deckt schonungslos die Schwächen jedes Mitglieds ihrer Familie auf. Der einzige Mensch, über den Maigret kaum etwas erfährt, ist das tote Dienstmädchen, und er muss sich immer wieder selbst ins Gedächtnis rufen, dass es Rose ist, die tot ist. Nur Théo kennt Rose näher und ist einige Male mit ihr ausgegangen. Er beschreibt sie als kleines Bauernmädchen, das zu viel las und zu viele Fragen stellte. In Roses Heimatort Yport findet sich Maigret vor einer Mauer des Schweigens, doch allmählich gelingt es ihm, die Familie Trochu zu überzeugen, dass er nicht voreingenommen im Dienste Madame Bessons steht. So erfährt er, dass Rose sich von ihren Eltern entfremdete, weil sie nach Höherem strebte. Auch ihre Dienstherrin verachtete sie nur und hielt sie für gleichermaßen geizig und neidisch. Rätselhaft ist die Herkunft eines wertvollen Rings mit Smaragd, der sich inmitten der ärmlichen Hinterlassenschaft des Dienstmädchens findet.

Schließlich kommt es zu einem zweiten Toten: Roses Bruder Henri wird von Valentine Besson mitten in der Nacht in ihrem Garten erschossen, weil sie ihn angeblich für einen Einbrecher hielt. Es stellt sich heraus, dass Théo Besson beide Geschwister benutzt hat, um seinen Verdacht zu bestätigen, dass Valentine Geld aus dem Erbe seines Vaters unterschlug. Er schmeichelte Rose, um durch den Diebstahl von Valentines Schmuck den Beweis zu erlangen, dass dieser niemals wie behauptet gegen Imitationen ausgetauscht worden war. Théo verlangte von seiner Stiefmutter einen Anteil des beiseite geschafften Vermögens, doch als Valentine einem mitternächtlichen Treffen zustimmte, witterte er eine Falle und schickte Henri vor, den Valentine statt seiner erschoss. Auch ihr Dienstmädchen Rose hatte Valentine ermordet, als sie realisierte, dass diese Théo Informationen zutrug. Dabei nutzte sie die Neugier des Mädchens auf alle für ihre Herrin bestimmte Medizin aus, um sie zu vergiften. Während Théo kein justiziables Verbrechen nachzuweisen ist, wird Valentine festgenommen. Doch Maigret ist sich sicher, dass sie auch vor Gericht ihre Rolle der reizenden alten Dame spielen wird.

Interpretation

Hans Altenhain verwies auf den ungewöhnlichen Anfang eines Kriminalromans, als Maigret sich bei seiner Reise nach Étretat in seine Kindheit zurückversetzt fühlt: „Alles hatte etwas Unwirkliches an sich und erinnerte an ein Spielzeug, eine Kinderzeichnung. […] Für einen Augenblick vergaß Maigret sein Alter […] Obwohl er natürlich genau wusste, dass es nicht stimmte, hatte er jedes Mal, wenn er ans Meer kam, die Vorstellung, sich in einer künstlichen, unwirklichen Welt zu bewegen, in der nichts Schlimmes geschehen konnte.“[3][4] Den Roman hindurch hat Maigret immer wieder sentimentale Anwandlungen.[5] Und er gesteht: „Er wünschte sich die Welt so, wie man sie als Kind entdeckt. In Gedanken sagte er immer: ‚Wie auf den Bildern.‘ […] Er verbrachte sein Leben irgendwie damit, die Kehrseite der Medaille zu betrachten, aber er hatte sich die kindliche Sehnsucht nach der Welt ‚wie auf den Bildern‘ bewahrt.“[6]

Auch die alte Dame scheint ein so ideales Leben im Ruhestand zu führen, dass sie Maigret zu Beginn vollkommen bezaubert. Als er am Ende entdeckt, dass sie aus blanker Geldgier zwei Menschen ermordet hat, fühlt er sich regelrecht betrogen.[7] Simenons Krimi-Kollegin Patricia Highsmith sah die Figur „jener düsteren und reizenden alten Dame in Etretat“ in einer ganzen Reihe von „Schurken in Frauengestalt“, die etwa über die tigerhafte Aline in Maigret lässt sich Zeit bis zur alten „Geiergestalt“ in Maigret contra Picpus reichen.[8] Lucille F. Becker beschrieb gar eine Ansammlung von „mörderischen, kastrierenden Müttern in den Maigret-Romanen“, die „zwei-dimensionale Karikaturen eines pathologischen psychologischen Profils“ seien.[9]

Rezeption

Das Literaturmagazin Time & Tide urteilte 1958: „Die Handlung von Maigret und die alte Dame […] wäre nicht viel wert, wenn sie von einem anderen Autor umgesetzt würde, doch Maigrets Methoden und Simenons Begabung, eine örtliche Atmopshäre zu erzeugen und zu beschwören, halten gemeinsam den Leser gefangen.“[10] Peter Foord beschrieb den Roman dagegen als uninteressanter als andere, da die Ermittlungen komprimiert auf lediglich zwei Tage in einer methodischen Routine ohne größere Unterbrechungen und Abschweifungen abliefen.[5]

Für den Rezensenten der Welt bewies Maigret und die alte Dame, „dass ein Bär sich im Puppenhaus durchaus zu Recht finden kann und sich auch mit großen Calvados-Karaffen nicht an der Nase herumführen lässt. Simenons menschliche Komödie gewinnt hier Züge eines subtilen Kammerspiels.“[11] Laut Tilman Spreckelsen rückte im Roman „das Leid der Familie des Opfers dezent, aber unabweislich ins Blickfeld. Ihnen gehört das Mitgefühl des Autors, für sie ergreift er Partei, wie sonst nur selten für eine seiner Schöpfungen.“[12] Auch für Oliver Hahn auf maigret.de war Simenons Befragung der Familie des Opfers eine „besonders eindrucksvolle Szene“. Daneben hob er die Kuriosität hervor, „wie sich Maigret stetem Alkoholkonsum ausgesetzt sieht, und nie die Gelegenheit findet, nein zu sagen“, weil er die Leute nicht vor den Kopf stoßen wolle.[13]

Die Romanvorlage wurde insgesamt vier mal verfilmt: im Jahr 1974 als russischer Kinofilm Maigret i staraya dama unter der Regie von Vyacheslav Brovkin mit Boris Tenin als Maigret, sowie im Rahmen der Fernsehserien mit Rupert Davies (1960), Jean Richard (1979) und Bruno Cremer (1994).[14] 1955 produzierte der NDR ein Hörspiel unter dem Titel Maigret und die nette alte Dame. Regie führte Raoul Wolfgang Schnell, den Maigret sprach Gustav Knuth. Im Jahr 2006 veröffentlichte der Diogenes Verlag eine Hörbuch-Lesung von Friedhelm Ptok.[13]

Ausgaben

  • Georges Simenon: Maigret et la vieille dame. Presses de la Cité, Paris 1950 (Erstausgabe).
  • Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Übersetzung: Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1954.
  • Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Übersetzung: Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Heyne, München 1966.
  • Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Übersetzung: Renate Nickel. Diogenes, Zürich 1978, ISBN 3-257-20503-1.
  • Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Sämtliche Maigret-Romane in 75 Bänden, Band 33. Übersetzung: Renate Nickel. Diogenes, Zürich 2008, ISBN 978-3-257-23833-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Biographie de Georges Simenon 1946 à 1967 auf Toutesimenon.com, der Internetseite des Omnibus Verlags.
  2. Oliver Hahn: Bibliografie deutschsprachiger Ausgaben. Georges-Simenon-Gesellschaft (Hrsg.): Simenon-Jahrbuch 2003. Wehrhahn, Laatzen 2004, ISBN 3-86525-101-3, S. 49–50.
  3. Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Lesung von Friedhelm Ptok. Diogenes, Zürich 2006, ISBN 3-257-80042-8, Kapitel 1, Track 1.
  4. Hans Altenhain: Maigret geht in sich. Zum 70. Geburtstag von Georges Simenon. In: Merkur, 27. Jahrgang 1973, S. 202.
  5. a b Maigret of the Month: Maigret et la vieille dame (Maigret and the old lady) auf der Maigret-Seite von Steve Trussel.
  6. Georges Simenon: Maigret und die alte Dame. Lesung von Friedhelm Ptok. Diogenes, Zürich 2006, ISBN 3-257-80042-8, Kapitel 5, Track 1.
  7. Gavin Lambert: The Dangerous Edge. Grossmann, New York 1976, ISBN 0-670-25581-5, S. 183.
  8. Patricia Highsmith: Simenon vor Gericht. In: Franz Cavigelli, Fritz Senn (Hrsg.): Über Patricia Highsmith. Diogenes, Zürich 1980, ISBN 3-257-20818-9, S. 96.
  9. „Even the series of murderous, castrating mothers in the Maigrets are two dimensional caricatures of a pathological psychological profile.“ In: Lucille F. Becker: Georges Simenon. Haus, London 2006, ISBN 1-904950-34-5, S. 11. Siehe auch Fußnote 40, S. 137.
  10. „The plot of Maigret and the Old Lady […] might not amount to much if it were handled by another, but Maigret's methods and Simenon's gift for creating and evoking local atmosphere combine to hold the reader captive.“ In: Time & Tide Band 39, Time and Tide Publishing 1958, S. 892.
  11. Wie ein großer Bär in einem Puppenhaus. In: Die Welt vom 23. August 2003.
  12. Tilman Spreckelsen: Maigret-Marathon 33: Maigret und die alte Dame. Auf FAZ.net vom 30. November 2008.
  13. a b Maigret und die alte Dame auf maigret.de.
  14. Maigret Films & TV auf der Internetseite von Steve Trussel.

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