Muʿtazila

Muʿtazila

Die Muʿtazila, arabisch ‏المعتزلة‎, DMG al-muʿtazila (auch Muʿtaziliten), ist innerhalb der islamischen Theologie des Kalam eine rationalistisch ausgerichtete Schule, die im 8. bis 9. Jh. am einflussreichsten war.

Inhaltsverzeichnis

Lehre: Die fünf Prinzipien der Muʿtazila

Die Lehre der Muʿtazila war in zwei Hauptprinzipien und drei weitere Prinzipien gegliedert.

  1. at-tauhīd („die absolute Einheit Gottes“)
  2. al-ʿadl („die Gerechtigkeit Gottes“)
  3. al-waʿd wa al-waʿīd („das Versprechen und die Drohung“, d. h. die Taten des Menschen beeinflussen den Eintritt ins Paradies)
  4. al-manzila bayna ʾl-manzilatayn („Es existiert ein Zwischenstadium zwischen dem Gläubigen und dem Ungläubigen, nämlich das des Sünders (fasiq)“)
  5. al-amr bi-ʾl maʿrūf wa-ʾn-nahy ʿan al-munkar („Das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten“)

Eine weitere wichtige These war die Ableitung aus dem Koran, dass der Koran selbst ebenfalls geschaffen (machluq) sei. Dies erlaubte, ihn kritisch zu betrachten, gar zu kritisieren. Nur Gott selbst darf als Schöpfer (al-Chāliq, arabisch ‏الخالق‎) bezeichnet werden.

Ibn Hudhayl vertrat wie viele seiner nachfolgenden Schüler die Auffassung, dass Gott nur Gutes wolle und tue. Das Böse sei nur ein Zwischenstadium zwischen Glaube und Unglaube wie ein sündiger Muslim selbst. Diese Zwischenstufe entspreche dem aristotelischen Suchen nach der Mitte ebenso wie die muʿtazilistische Sicht auf den Islam schlechthin als Weg zwischen Versprechen (auf die sieben Himmel) und Drohung (mit Hölle, Fegefeuer und Verdammnis). Der richtige Weg zwischen diesen beiden Extremen jedoch beruht auf aktivem Handeln für das Gute und gegen das Böse – ähnlich den aristotelischen Tugenden.

Der Koran ist nach Auffassung dieser rationalistischen Theologen nicht ewig, sondern zeitlich, also von Gott für Menschen einer bestimmten Zeit unter bestimmten Umständen erschaffen. Vor allem diese These reizte orthodoxe Sunniten wie Ibn Hanbal.

Hauptargument für die Entscheidungsfindung und Interpretation islamischer Prinzipien sollte die Vernunft sein – als Maßstab an Überlieferung und Offenbarung sowie ihre Anwendung auf veränderte politische und soziale Verhältnisse. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung distanzierten sich (iʿtazala – daher die Bezeichnung Muʿtazila als Part. Aktiv im Arabischen)  von den sunnitischen Doktrinen in der Sündenlehre und stellten die These auf, dass ein Sünder weder gläubig noch ungläubig sei. Im strengen Monotheismus verwurzelt – in al-Ma'muns Dekret ist von der Lehre vom Tauhid („Monotheismus“) die Rede – sind Fragen nach dem göttlichen Wesen, der Prophetie und vor allen Dingen nach der Erschaffenheit des Korans und der Freiheit des Menschen in seinem Handeln von zentraler Bedeutung gewesen.

Entwicklung, Hauptvertreter und Gegner

Legendarischer Anfang

Der Legende nach soll der Kalif al-Ma'mun im Traume Aristoteles gefragt haben, was im eigentlichen Sinne gut sei. Die Antwort soll gewesen sein, dass nur dasjenige gut sei, was vernünftig ist. Es fällt auf, dass diese Antwort, selbst wenn sie nur einem Traum oder einer Legende geschuldet war, zwar typisch aristotelisch, dennoch aber unvollständig ist. Ohne den Einklang der Vernunft mit dem Gefühl bleibt sie einseitig. Angewandt auf die Religion kann das zu schwerwiegenden Disputen und Argumentationsproblemen führen.

Die muslimische Geistlichkeit unter al-Ma´mun sah sich z. B. mit der von ihr selbst aufgeworfenen Frage konfrontiert, wieso Gott das von ihm selbst geschaffene Böse überhaupt bestrafen könne (siehe auch Theodizee). Die Betonung der Vernunft gab ihnen die Antwort und legte die Grundlagen für die neue theologische Ausrichtung der Mu´tazila.

Geschichtliche Anfänge

Als frühe Vordenker dieser theologischen Richtung gelten Al-Hasan al-Basris (gest. 728) abtrünniger Schüler Wasil ibn Ata (gest. 748) und Amr ibn Ubayd, ihr eigentlicher Gründer aber war Abu al-Hudhayl (gest. 841). Über al-Basri erzählt man, dass erstmals sein Schüler Wasil die Lehre vom al-manzilatu bayn al-manzilatayn vertreten habe, worauf al-Basri gesagt haben soll "i'tazala anna wasil ibn ata" (Wasil ibn Ata hat sich von uns getrennt). Dieser berühmten Erzählung zufolge geht das aktive Partizip Muʿtazila auf das von al-Basri verwendete Verb i'tazala zurück.

Gegen die religiöse Staatslehre der muʿtazilitischen Theologien stellte sich sehr bald die sunnitische Geistlichkeit, deren Hauptargument die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung war. Die rationalistische Methode, welche die Kalam-Gelehrten eingeführt hatten, betrachteten einige sunnitische Hauptvertreter als Häresie. Zu den bekanntesten dieser Vertreter zählen Ibn Hanbal (gest. 855) und asch-Schafi'i (gest. 820).

Die Ära der Miḥna

Von 770–847, vor allem aber zu Zeiten des Abbasiden-Kalifen al-Ma´mun erfreute sich die Muʿtazila allerhöchster Protektion. 827 wurde sogar eine Inquisition (arabisch "Miḥna") gegen Andersdenkende, z.B. Ibn Hanbal, eingeführt.

Die in Opposition zum Staat stehenden Schiiten aber gaben die Konzeption der selbstständigen Entscheidungsfindung nicht einfach auf, entwickelten sie aber weiter. Auch die Mu´tazila genoss außerhalb des Kalifenhofes noch eine Duldung und gewisse Förderung an den Höfen der persischen Bujiden (Schiiten), an denen auch der Aristoteles-Kommentator Ibn Sina (auch: Avicenna, gest. 1037) als Arzt wirkte. Weitere Gegner der Muʿtazila waren und sind die Maturiditen, die Anhänger von Abu Mansur al-Maturidi.

Übernahme durch die Schi'a

Die Mu´tazila teilte sich in eine frühe basrensische und eine spätere bagdadische Schule. Letztere darf nicht verwechselt werden mit der „Baghdader Schule“ der imamitischen Schiiten, sie hat diese jedoch entscheidend beeinflusst und kann in gewisser Weise als eine der Wurzeln derselben gelten.

Weitere Entwicklung nach der Miḥna

Mit der Machtübernahme durch die sunnitischen Seldschuken endete in der Mitte des 11. Jahrhunderts die Phase abbasidischer Dominanz im muslimischen Herrschaftsbereich, doch bemühten sich die fremden Machthaber, die Baghdad im Jahr 1055 n.Chr. eroberten und zu Schutzherren über die Abbasidenkalifen wurden, fortan zumindest zeitweise die Muʿtazila als Gegengewicht zu den radikalen Hanbaliten zu erhalten. Gegenläufig zur Zurückdrängung der Muʿtaziliten erlebte die Muʿtazila in Choresmien als abweichende Sonderentwicklung eine wahre letzte Blüte unter Al-Zamachschari (gest. 1144). Zu ihrer Vernichtung kam es erst während des Aufkommens nachfolgender muʿtazilitischer Gelehrtengenerationen infolge eines Einfalls durch die Mongolen in muslimisches Herrschaftsgebiet ab 1220 n.Chr.

Ahmad Amin beurteilt die langfristige geschichtliche Entwicklung wie folgt: "Die Zurückweisung der Muʿtazila war das größte Unglück, das die Muslime traf. Sie haben damit ein Verbrechen gegen sich selbst verübt"[Anmerkung 1] Zahlreiche Experten für arabische Philosophiegeschichte verweisen allerdings auf die Kontinuität rationalistischen Denkens.[Anmerkung 2]

Literatur

  • Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie. C. H. Beck, München 1994.
  • Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra. 6 Bde., de Gruyter, Berlin 1991-1995, ISBN 3-11012-212-X.
  • D. Gimaret: Mu'tazila. In: Encyclopedia of Islam, Second Edition, Bd. VII, Brill, Leiden 1993, S. 783-793 (englisch)
  • Frank, Richard M.: Beings and Their Attributes. The Teaching of the Basrian School of the Mu‘tazila in the Classical Period. State University of New York Press, Albany 1978. (englisch)
  • Dhanani, A.: The Physical Theory of Kalam: Atoms, Space, and Void in Basrian Mu‘tazili Cosmology. [Islamic Philosophy, Theology and Science. Text and Studies, xiv.] Brill, Leiden 1994 (englisch)
  • Neal Robinson: Ashariyya and Mutazila, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy (allgemein hrsg. v. Edward Craig), Islamic Philosophy (hrsg. v. Oliver Leaman (Fachherausgeber)), Routledge, Cambridge, Bd. 1, S. 519-523 (englisch)
  • Wilferd Madelung, Sabine Schmidtke: Rational Theology in Interfaith Communication. Abu l-Husayn al-Basri's Mu'tazili Theology among the Karaites in the Fatimid Age. Brill, Leiden 2006 (englisch).
  • Sabine Schmidtke: Neuere Forschungen zur Mu'tazila, in: Arabica 45 (1998), 379-408.
  • Martin, R.; Woodward, M.R.: Defenders of Reason in Islam. Mu‘tazilism from Medieval School to Modern Symbol. Oneworld Publ., Oxford 1997 (englisch)
  • Camilla Adang, Sabine Schmidtke, David Sklare (Hrsg.): A Common Rationality. Mu'tazilism in Islam and Judaism. [Istanbuler Texte und Studien]. Ergon, Würzburg 2007 (englisch).

Anmerkungen

  1. Diese Aussage aus dem Geschichtswerk Ḍuḥā al-Islām, erschienen im Jahr 1936, stammt von dem ägyptischen Intellektuellen und Professor für arabische Literatur Ahmad Amin. Zitiert nach D. Gimaret: Muʿtazila In: Encyclopedia of Islam, Second Edition, Bd. VII, Brill, Leiden 1993, S. 783-793, darin auf S. 786.
  2. So beispielsweise Oliver Leaman oder Dmitri Gutas.

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