Chiemgau-Einschlag

Chiemgau-Einschlag

Der Begriff Chiemgau-Einschlag oder Chiemgau-Impakt bezeichnet eine inzwischen widerlegte[1] Hypothese über den Einschlag eines Kometen, der nach dem Eindringen in die Erdatmosphäre in der Luft explodiert sein soll und dessen Trümmer angeblich im Chiemgau niedergingen. Der Einschlag sollte sich um das Jahr 200 v. Chr., nach anderen Quellen um 500 v. Chr. ereignet haben, als der Chiemgau von Kelten besiedelt war. Im Jahr 2010 änderten die Vertreter der Hypothese die Datierung des Einschlags auf 2000 bis 428 v. Chr.[2] Die im Jahr 2000 erstmals von Hobby-Geologen geäußerte Vermutung der Existenz des Chiemgau-Impakts wird von der Fachwelt überwiegend abgelehnt.

Inhaltsverzeichnis

Mutmaßliches Streufeld

Im Jahr 2000 stießen Schatzsucher im Chiemgau mit Metalldetektoren an einem kraterähnlichen Loch in nur wenigen Zentimetern Tiefe auf große Mengen von fremdartigem metallischen und seltsam gebildeten Gestein. Daraufhin bildete sich unter der Bezeichnung Chiemgau Impact Research Team (CIRT) ein Forschungsteam aus den Hobby-Archäologen, dem aber auch der Geologe und Geophysiker Kord Ernstson angehören. Weitere Mitglieder des CIRT sind der Archäoastronom Michael Rappenglück, die Historikerin Barbara Rappenglück, der experimentelle Archäologe Till Ernstson, und Ralph Sporn, einer der Finder der Neuschwanstein-Meteoriten.

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Tüttensee (Deutschland)
Tüttensee
Tüttensee

Das CIRT dokumentierte nach eigenen Aussagen über 100 vermutete Einschlagskrater in einem elliptischen Streufeld mit einer Länge von 58 Kilometer und einer Breite von bis zu 27 Kilometer, das sich von einer Anhäufung kleinerer Krater nordwestlich von Burghausen bis zum Chiemsee erstreckt. Nach Ansicht der CIRT zeigt ein Vergleich mit anderen irdischen Streufeldern Ähnlichkeiten in Anordnung und Verteilung der Objekte.[3] Als größter Krater im Streufeld wird der annähernd kreisförmige Tüttensee bei Grabenstätt mit einem Durchmesser von 370 Meter angesehen.

Aus der Größe und Verteilung der postulierten Krater wurde vom CIRT auf einen möglichen Ablauf des Impakts zurück geschlossen. Demnach trat ein etwa ein Kilometer großer Komet, vom Nordosten kommend, mit einer Geschwindigkeit von 12 km/s unter dem Winkel von 7° in die Erdatmosphäre ein. In etwa 70 Kilometern Höhe sei dieser explodiert, und die Bruchstücke schlugen mit der Zerstörungskraft von 8000 Hiroshimabomben ein. Der Einschlag soll sich im Zeitraum 1000 v. Chr. bis 200 v. Chr. ereignet haben, vermutlich um das Jahr 500 v. Chr.[4]

Untersuchungen

In den postulierten Kratern und in deren Umgebung lagern Brekzien oder zerbrochene Gesteine.

Darüber hinaus wurden verglaste Gesteine gefunden, deren Entstehung nach Meinung des CIRT auf die Hitzeeinwirkung beim vermuteten Einschlag zurückzuführen sind. Metallische Partikel, die in Teilen Ostbayerns gefunden und als Eisensilizid (FeSi), Gupeiit (Fe3Si) und Xifengit (Fe5Si3) identifiziert wurden, wurden von dem CIRT ursprünglich als präsolare Einschlüsse des Chiemgau-Kometen gedeutet, deren Alter das des Sonnensystems übertreffen soll. Es könne allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Partikel einen Rückstand aus der Metallverarbeitung durch den Menschen darstellen.[5]

Von einer Arbeitsgruppe der Universität München liegt eine Untersuchung der Region bei Burghausen vor. Die Größe des postulierten Streufeldes wird hier mit 11 mal 7 Kilometern deutlich kleiner angegeben als vom CIRT. Eine Untersuchung der Eisensilizide hat gezeigt, dass es sich um irdisches Material industrieller Abkunft handeln könnte. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es derzeit keine klaren Hinweise für eine anthropogene Herkunft der Bodenstrukturen gibt. Um eine Entstehung durch einen Impakt beweisen oder auch verwerfen zu können, wären jedenfalls weitere geologische und archäologische Untersuchungen notwendig.[6]

Eine Arbeitsgruppe der Eberhard-Karls-Universität Tübingen berichtet von der Untersuchung einer „kraterähnlichen Struktur“ mit einem Durchmesser von etwa elf Meter, deren Gesteine auf die Einwirkung von Temperaturen von bis zu 1500 °C schließen lassen: Die Entstehung dieser Struktur durch einen Impakt sollte in Betracht gezogen werden, könne derzeit aber noch nicht bewiesen werden.[7]

Rund um den Tüttensee

Der Tüttensee ist nach geologischer Lehrmeinung ein eiszeitlicher Toteiskessel, der beim Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit entstand, wie sie als solche im Alpenvorland häufiger anzutreffen sind. Geologen des Bayerischen Geologischen Landesamts favorisieren auch nach einer Begehung sowie einer Laserbefliegung diese Theorie gegenüber der Impakt-Hypothese. Das Vorkommen von Brekzien und splittrig zerbrochenen Gesteinen aus den tektonisch stark beanspruchten Alpen ist im gesamten nördlichen Alpenvorland normal und ein weit verbreitetes Phänomen. Weiterhin ist der Wall um den Tüttensee keinesfalls ein geschlossener Ring; er entspricht mit seinen eher unregelmäßigen Formen Kamesterrassen beziehungsweise südlich des See einem langgestreckten Oszug. Diese These wird durch sortierte Schmelzwassersande und -kiese gestützt, die in einer Kiesgrube am Wall aufgeschlossen sind. Sie zeigen Deltaschichtung. Bei einer Entstehung durch einen Impakt muss man hingegen mit chaotisch gelagertem Material rechnen, was nicht der Fall ist.[8]

Die Gläser und Metallpartikel wurden auch von Wissenschaftlern an verschiedenen europäischen Universitäten und Forschungsinstituten untersucht. Hinweise auf einen Kometeneinschlag haben sich dabei nicht ergeben.

Neuere Altersbestimmungen des Bayerischen Landesamt für Umwelt (LfU) an Torf- und Seeablagerungen innerhalb der umgebenden Wälle des Tüttensees ergaben ein Alter von über 12.000 Jahren,[1][9] womit ein Chiemgau-Einschlag vor 2.500 Jahren, der unter anderem zur Bildung des Tüttensees führte, damit eindeutig widerlegt wurde. Ebenso finden sich für weitere Annahmen über einen Kometeneinschlag vor 12.500 Jahren keinerlei Hinweise. Diese Untersuchungsergebnisse bestätigen vielmehr die Annahmen von Gareis, der bereits 1978 aufgrund geomorphologischer und sedimentologischer Untersuchungen die Toteisgenese des Tüttensees nachwies.[10]

Weitere Argumente und Gegenargumente

In der Flachwasserzone des östlichen Chiemsees finden sich regelmäßig Kalkgerölle mit auffälligen Oberflächen, die als Furchensteine bezeichnet werden[11]. Von den Impaktbefürwortern werden sie als Regmaglypten angesehen, deren Entstehung mit dem Anschmelzen des Gerölles beim Impakt zu erklären ist. Furchensteine sind hingegen nicht auf den Chiemsee beschränkt, sondern in Seen des Alpenvorlandes und anderer Regionen weit verbreitet und durch die Tätigkeit von Cyanobakterien und Algen im Flachwasser entstanden. Die glasigen Oberflächen mancher silikatischer Gerölle sind nach Ansicht der Kritiker bei der vorindustriellen Rohstoffgewinnung, etwa in kleinen Eisenhütten oder Kalkbrennöfen entstanden. Sowohl die Furchensteine als auch die Gerölle mit glasierter Oberfläche finden sich ausschließlich an der Erdoberfläche, nicht aber in natürlich gewachsenem Material.

Kulturelle Implikationen

Das CIRT-Team veröffentlichte 2010 im archäologischen Fachblatt Antiquity die These, nach der die Beobachtung des Einschlags durch Kelten den Kern der aus der griechischen Mythologie überlieferten Legende von Phaethon bildete.[2] Das CIRT verwies dabei auf frühere Forscher, die in der Beschreibung des außer Kontrolle geratenen Sonnenwagens die Eindrücke der Beobachtung eines Meteoriteneinschlags sahen. Danach passten alle bekannten Einschläge nicht zum Entstehungszeitpunkt des Mythos, wohl aber die CIRT Datierung des Chiemgau-Einschlags, die sie jetzt in dieser Publikation gegenüber früheren Veröffentlichungen auf 2000 bis 800 v. Chr. anpassten. Allerdings ist diese Folgerung abhängig von der Akzeptanz des Chiemgau-Einschlags und seiner Datierung in keltischer Zeit, was durch neuere Forschungen am Tüttensee ausgeschlossen werden konnte.

Der Publikation wurde in der nächsten Ausgabe von Antiquity von Mitarbeitern des Bayerischen Landesamt für Umwelt widersprochen. Sie beriefen sich auf die ungestörten Moor-Horizonte des Tüttensees und wiesen die Identifizierung der glazialen Strukturen als Einschlagkrater zurück. Auch zu den Gesteinen führten sie die in der Geologie etablierten Entstehungsmodelle ohne einen Einschlag an. Die kulturelle Interpretation des vermeintlichen Einschlags wurde als „reine Spekulation“ eingestuft.[12] Darauf antworteten in der selben Ausgabe wiederum die Autoren des ursprünglichen Artikels und erklärten, dass sie ihre These aufrechterhalten.[13]

Medienresonanz

Trotz der unsicheren Sachlage wurde die Hypothese vom Chiemgau-Impakt mehrfach von den Massenmedien aufgegriffen. Unter anderem wurde darüber im Alpen-Donau-Adria-Magazin des Bayerischen Fernsehens, in der Süddeutschen Zeitung, in der Zeitschrift Der Spiegel und auf verschiedenen Internet-Seiten berichtet.

Auch in der Reihe „Terra X“ des ZDF am 8. Januar 2006 wurde die Diskussion um den sogenannten Chiemgau-Kometen vorgestellt. Die in dieser Sendung dargestellten, weitreichenden kulturhistorischen Auswirkungen sind allerdings spekulativer Natur und werden auch vom CIRT nicht gestützt,[14] und auch die Darstellung des Kometen-Einschlags selbst wurde heftig kritisiert.[15]

Auch die RTL-2-Serie "Welt der Wunder" verschloss sich nicht vor der unsicheren aber medienwirksamen Theorie und strahlte einen ausführlichen Bericht mit computergenerierten Spezialeffekten und einer erfundenen Rahmengeschichte aus. Jegliche Kritik an der Realität dieses Vorgangs blieb jedoch unerwähnt.

Stellungnahme anderer Wissenschaftler zu den Aktivitäten des CIRT

Nach Medienberichten im Herbst 2006 gab eine Gruppe von über 20 Wissenschaftlern zu der Theorie eine Erklärung ab, in der kritisiert wurde, dass „trotz Mangels an Beweisen und fehlender Dokumentation in wissenschaftlichen Fachzeitschriften […] die ‚Chiemgau Impakt-Theorie‘ in den Medien sehr einseitig publik gemacht worden“ sei, und „die Herkunft der Krater durch den Einschlag eines Kometen eindeutig zurückgewiesen“ wird.[16][17] In einer Erwiderung[18] wies das CIRT darauf hin, dass es in dieser Presseaussendung keine ihrer Forschungsergebnisse widerlegt sah und es sich durch die sehr umfangreiche Forschungsarbeit 2006 in ihren Erkenntnissen bestätigt sieht. Weitere Stellungnahmen folgten.[19][20][21]

Aufgrund von Presseberichten in Lokalzeitungen, die die Impakt-Theorie als wissenschaftlich anerkannt bezeichneten, aber auch, weil das CIRT zunehmend öffentlich und politisch präsent sei, um seine Ideen zu verbreiten, veröffentlichten im Mai 2011 16 unabhängige Wissenschaftler einen „Offenen Brief“[22] in dem die bis heute getätigten Nachweisversuche des CIRT als abstrus dargelegt werden. In dem Brief wird entschieden dem Eindruck entgegengetreten, dass die Impakt-Theorie auf einer wissenschaftlichen Basis beruhe oder gar einer wissenschaftlichen Überprüfung standhielte. In der Stellungnahme[23] des CIRT zu dem Brief wird dargelegt, dass diese Kritik mit nachweislich falschen Behauptungen arbeite, und von einer gezielten Diffamierungskampagne gesprochen.

Ausstellungen des CIRT

  • Grabenstätt Schloßökonomie[24]
  • Tüttensee Rundweg, Lehrpfad mit Schautafeln[25]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Pressemitteilung des Bayerischen Landesamts für Umwelt: Neue Altersdaten: Kein Kelten-Komet im Chiemgau
  2. a b Barbara Rappenglück, Michael A. Rappenglück, Kord Ernstson, Werner Mayer, Andreas Neumair, Dirk Sudhaus and Ioannis Liritzis: The fall of Phaethon: a Greco-Roman geomyth preserves the memory of a meteorite impact in Bavaria (south-east Germany). In: Antiquity, Volume 84 (2010), Seiten 428–439
  3. Streuellipse und Kraterdimensionen auf chiemgau-impakt.de
  4. U. Schüssler, M. Rappenglück, K. Ernstson, W. Mayer, B. Rappenglück: Das Impakt-Kraterstreufeld im Chiemgau. In: European Journal of Mineralogy. 17, Beiheft 1, 2005, S. 124.
  5. M. Rappenglück., U. Schüssler, W. Mayer, K. Ernstson: Sind die Eisensilizide aus dem Impakt-Kraterstreufeld im Chiemgau kosmisch? In: European Journal of Mineralogy. 17, Beiheft 1, 2005, S. 108.
  6. K. T. Fehr, J. Pohl, W. Mayer, R. Hochleitner, J. Fassbinder, E. Geiss, H. Kerscher: A meteorite impact crater field in eastern Bavaria? A preliminary report. In: Meteoritics & Planetary Science. 40, Nr. 2, 2005, S. 187–194.
  7. V. Hoffmann, W. Rösler, A. Patzelt, B. Raeymaekers, P. van Espen: Characterization of a small crater-like structure in southeast Bavaria, Germany. In: Meteoritics and Planetary Science. 40, 2005, S. A69.
  8. Gerhard Doppler, Erwin Geiss: Der Tüttensee im Chiemgau – Toteiskessel statt Impaktkrater. Bayerisches Geologisches Landesamt, 2005.
  9. E. Kroemer: Sedimententnahme und Datierungen in der Verlandungszone des Tüttensees. Laborbericht des Bayrischen Landesamt für Umwelt 2010: http://www.lfu.bayern.de/geologie/doc/tuettensee_datierungen_kurztext_kea_end.pdf
  10. J. Gareis: Die Toteisfluren des bayerischen Alpenvorlandes als Zeugnis für die Art des spätwürmzeitlichen Eisschwundes, Würzburger Geographische Arbeiten, Würzburg 1978, 101 Seiten
  11. Robert Darga & Johann Franz Wierer: "Der Chiemgau-Impakt - eine Spekulationsblase - Oder: Der Tüttensee ist KEIN Kometenkrater". S. 174-185 in: "Auf den Spuren des Inn-Chiemsee-Gletschers - Exkursionen". 192 S., München (Pfeil) 2009, ISBN 978-3-89937-104-8
  12. Gerhard Doppler, Erwin Geiss, Ernst Kroemer, Robert Traidl: Response to ‘The fall of Phaethon: a Greco-Roman geomyth preserves the memory of a meteorite impact in Bavaria (south-east Germany)’ by Rappenglück et al. (Antiquity 84) In: Antiquity, Volume 85, No 327 Seiten 274–277
  13. Barbara Rappenglück, Michael A. Rappenglück et al.: Reply to Doppler et al. ‘Response to “The fall of Phaethon: a Greco-Roman geomyth preserves the memory of a meteorite impact in Bavaria (south-east Germany) (Antiquity 84)”’ In: Antiquity, Volume 85, No 327 Seiten 278–280
  14. CIRT: Die Terra X-Sendung in der Diskussion.
  15. Elmar Jessberger: Eine Märchenstunde im ZDF. In: Sterne und Weltraum. März 2006 (Leserbrief)
  16. Gesine Steiner: Vermeintlicher Einschlag eines Kometen im Chiemgau entbehrt wissenschaftlicher Grundlage. Presseerklärung des Museums für Naturkunde, Berlin, 21. November 2006
  17. U. Reimold u. a.: Vermeintlicher Einschlag eines Kometen im Chiemgau entbehrt wissenschaftlicher Grundlage. Voller Wortlaut der Presseerklärung des Museums für Naturkunde, Berlin, 21. November 2006
  18. CIRT: Erwiderung zur Presseerklärung (Gesine Steiner) des Naturkunde-Museums Berlin vom 21. November 2006.
  19. CIRT: Kritischer Kommentar von Ferran Claudin, Spanien, zur Presseerklärung des Naturkunde Museums Berlin. (spanischer Originaltext, deutsche Übersetzung)
  20. CIRT: Chiemgau-Impact-Research-Team mahnt die Beantwortung der 10 Fragen aus der Erwiderung zur Presseerklärung des Berliner Naturkundemuseums an.
  21. R. Darga und J. F. Wierer: Erläuterung der Argumente für und wider die Kometentheorie.
  22. Offener Brief zum „Chiemgau-Impakt“ und zu den Aktivitäten des „Chiemgau Impact Research Teams“ in der Öffentlichkeit
  23. Chiemgau Impakt – Diffamierungskampagne gegen einen Meteoriteneinschlag imChiemgau
  24. Ausstellung Grabenstätt: eine Ausstellung unter dem Motto:"Chiemgau-Impakt - ein bayerisches Meteoritenkraterfeld"
  25. Video über Tüttensee Lehrpfad:http://www.youtube.com/watch?v=jmLpMm__EoY]

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