Reichsidee

Reichsidee
Die Reichskrone – Symbol der Reichsidee des Heiligen Römischen Reiches

Charakteristisch für die Reichsidee ist der Gedanke einer übernationalen Herrschaft, die in christlicher Zeit zumeist von einem Gottesgnadentum getragen wurde. Abgeleitet aus denselben ideellen Kerngedanken, konnten die damit verbundenen konkreten politischen Inhalte von Herrscher zu Herrscher variieren.

Ihren Ursprung hat die Reichsidee in der Antike in der Vorstellung der Einheit der Völker, die dem Erdkreis angehörten und römischer Herrschaft unterworfen waren (Imperium Romanum). Mit dem Reichsgedanken war die Idee der Befriedung (Pax Romana) und der Anspruch auf die Beherrschung des Erdkreises verbunden. In der Spätantike wurde die Reichsidee auf das nunmehr christianisierte Imperium übertragen (Imperium Christianum), das die christlichen Völker in überstaatlicher Einheit unter einem Kaiser als Statthalter Gottes zusammenschließen sollte. In diesem Zusammenhang wurde immer stärker die Ansicht vertreten, dass das römische Imperium das letzte Reich der Geschichte sei. Mit dem Untergang des weströmischen Reich 476 erlosch die Reichsidee nicht, sondern blieb im oströmischen Reich weiter lebendig. Auch die Germanenherrscher im Westen, die infolge der Völkerwanderung dort eigene Reiche gegründet hatten, akzeptierten die allgemeine Vorherrschaft des oströmisch/byzantinischen Kaisers wenigstens formal.

Seit Mitte des 8. Jahrhunderts wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Papsttums im Frankenreich eine an die römische Reichsidee angelehnte Vorstellung ins Leben gerufen. Mit der Kaiserkrönung des Frankenkönigs Karl im Jahre 800 erfolgte in diesem Sinne die Übertragung des Kaisertums auf das Frankenreich (Translatio Imperii), wenngleich es immer noch einen Kaiser im Osten gab, der seinen Anspruch auch nicht aufgab (Zweikaiserproblem). Im Westen wurde nun jedoch die Idee eines erneuerten „römischen Kaisertums“ vertreten. Im Jahre 962 wurde dann mit der Kaiserkrönung Ottos I. das Kaisertum auf die „Deutschen“ übertragen, wenngleich damals freilich kein nationales Selbstverständnis existierte und das Kaisertum stets als supranationale, universale Institution aufgefasst wurde. In diesem Sinne implizierte die Translatio Imperii eine Reichsauffassung, nach der das Reich weniger als territorialer Begriff zu begreifen war, sondern als imperium übergreifend wirkte. Im mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich bildete die Reichsidee und die ihr zugehörige Verbindung von Kaisertum und Kirche (wenngleich es auch hier oft zu Konflikten kam) die Grundlage des Vorherrschaftsanspruchs innerhalb der Christenheit. Dieser Anspruch war jedoch zumeist weniger machtpolitisch, als vielmehr ideell begründet und bedeutete, dass dem Kaiser, der sich in der Nachfolge der römischen Kaiser sah, eine besondere Vorrangstellung zustand und dem Imperium eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugesprochen wurde.

Ab dem 13./14. Jahrhundert wurde der Reichsidee zunehmend die Idee eines souveränen „Nationalstaates“ entgegengestellt. Die Bedeutung des Kaisertums hatte bereits mit dem Ende der Staufer stark abgenommen, erst Heinrich VII., der 1312 zum Kaiser gekrönt wurde und in Schreiben die Größe des universalen Imperiums beschwor, leitete eine gewisse Renovatio imperii ein. Allerdings blieb der Einfluss des Kaisertums weiterhin stark beschränkt und die Machtstellung des Heiligen Römischen Reiches in Europa schwand immer mehr dahin.

Trotz des Niedergangs der politischen Macht des Kaisertums und der zunehmenden Territorialisierung des Reiches blieb die Reichsidee erhalten, bis Napoleon 1806 die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs erwirken konnte. In den Jahren darauf lebte die Reichsidee in der Auseinandersetzung um die deutsche Frage in Favorisierung einer „großdeutschen Lösung“ fort, die aber nicht verwirklicht wurde. Die Reichsidee wurde in diesem Zusammenhang in Deutschland gleichzeitig immer stärker nationalisiert. Im „Dritten Reich“ wurde die Reichsidee dann zur Rechtfertigung der Rassen- und der Expansionspolitik missbraucht. Ihren Fortläufer hat die Reichsidee in der Idee eines geeinten Europas. Deren supranationaler Ansatz versteht sich jedoch nicht als Gegensatz, sondern als Fortentwicklung der Nationalstaatlichkeit.

Literatur

  • Klaus Breuning: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934). München 1969.
  • Robert Folz: L'idée d'Empire en Occident. Paris 1953.
  • Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918–1945. Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung. Aschau 1998.
  • Percy Ernst Schramm: Kaiser, Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit. Leipzig 1929.
  • Hans K. Schulze: Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 3. Stuttgart u. a. 1998, ISBN 3-17-013053-6.

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