Theaterskandal

Theaterskandal

Als Theaterskandal bezeichnet man künstlerisch und/oder politisch motivierte Konflikte um Theateraufführungen, die in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden.

Häufig kommt es dabei zu Drohungen und Tätlichkeiten innerhalb des Publikums oder sogar auf der Bühne, zu Zeitungskampagnen, Demonstrationen oder zu politischen Konsequenzen. Kalkulierte Skandale dienten seit dem 18. Jahrhundert dazu, die Aufmerksamkeit auf das Theater zu richten. Daher wird das Wort auch in der Bedeutung eines Scheinskandals gebraucht, der als Medienattraktion dient.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die französische Klassik hat das Theater zu einer Schule des guten Benehmens gemacht, im Unterschied zum „regellosen“ Renaissancetheater Shakespeares oder Lope de Vegas, und diese Vorstellung hat sich als Vorbild oder Feindbild bis ins 20. Jahrhundert gehalten. Wenn die gesellschaftlichen Regeln auf dem Theater nicht eingehalten werden, entspinnt sich ein Sturm der Entrüstung.

18. Jahrhundert

Die Tradition des Theaterskandals stammt aus einer Zeit, als das Theater der wichtigste, manchmal sogar einzige Ort war, an dem öffentliche Versammlungen zugelassen waren. Eine strenge Zensur kontrollierte, ob die Texte, die vor Probenbeginn zur amtlichen Prüfung eingereicht werden mussten, am Abend der Aufführung nicht verändert wurden. Goethes Götz von Berlichingen (1774) oder Schillers Die Räuber (1781) waren am Hoftheater nicht aufführbar, und die Uraufführung der Räuber am Nationaltheater Mannheim 1782 war ein Skandal, der das bürgerliche „Nationaltheater“ stärkte, weil das Bürgertum mehrheitlich auf Schillers Seite stand.

Politische oder anzügliche Extempores blieben für die Schauspieler allerdings ein Spiel mit dem Feuer und konnten sehr leicht „Skandal machen“. Diese Situation herrschte an manchen Orten mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor.

Bis nach dem Ersten Weltkrieg

In Paris, dem europäischen Theaterzentrum im 19. Jahrhundert, gab es eine jahrhundertelange Tradition, politische Konflikte im Weg über das Theater auszutragen, wie im Buffonistenstreit seit 1752. Zudem waren dort die Spielpläne infolge des Napoleonischen Theaterdekrets (1807) sehr einheitlich: In jedes Theater ging eine bestimmte Gesellschaftsschicht mit ganz bestimmten Vorstellungen. So konnten selbst geringe Störungen dieser Erwartungen Missfallen beim Publikum auslösen, was manche Kulturschaffende als Reiz zur Provokation betrachteten. Ein solcher Theaterskandal war am 25. Februar 1830 die Schlacht um Hernani anlässlich der Uraufführung von Victor Hugos Schauspiel Hernani in der Comédie-Française.

Der Naturalismus am Ende des 19. Jahrhunderts produzierte zahlreiche Theaterskandale, so anlässlich der Uraufführung des Stückes Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann am Lessingtheater in Berlin im Jahr 1889, das Selbstmord und soziales Elend ungeschönt auf die Bühne brachte.[1] Die Uraufführung von John Millington Synges Stück The Playboy of the Western World (Der Held der westlichen Welt) 1907 in Dublin erzeugte einen Theaterskandal, weil sich das Publikum lächerlich gemacht fühlte, und die Auseinandersetzungen um Arthur Schnitzlers Drama Reigen 1921 in Wien und Berlin erregten Widerspruch, weil es die Doppelmoral als ewigen Kreislauf darstellte.

Das Ballett war bis nach dem Ersten Weltkrieg eine erotische Attraktion an der Grenze des Anständigen, weil Frauen im täglichen Leben noch mit langen Röcken bekleidet waren (siehe Hosenrolle), während im klassischen Ballett durch Spitzentanz und Tutu die Sichtbarkeit der Beine betont wurde. Daher waren die moralischen Empfindlichkeiten hier besonders groß. Der Impresario Sergei Djagilew konnte solche Vorurteile mit seinen Ballets Russes zu kalkulierten Theaterskandalen nutzen, die den Werken zum Erfolg verhalfen, wie bei der Uraufführung von Igor Strawinskis Ballett Le sacre du printemps 1913 und Erik Saties Ballett Parade 1917 in Paris. Noch die Kölner Uraufführung von Béla Bartóks Ballettpantomime Der wunderbare Mandarin 1926 verursachte wegen der angeblich unmoralischen Handlung einen Theaterskandal, der so weit ging, dass der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer alle weiteren Aufführungen verbieten ließ.[2]

20. Jahrhundert

Seitdem die Theaterregie als eigenständige künstlerische Leistung gilt, also etwa seit den 1920er-Jahren, stehen Regisseure, die ein Repertoirewerk nach der Meinung mancher Zuschauer zu eigenwillig gedeutet haben, oft im Mittelpunkt von Theaterskandalen. Sprichwörtlich wurde etwa Leopold Jessners "Hamlet im Frack" aus 1926 mit Fritz Kortner in der Titelrolle. Solche Konflikte entzünden sich nicht selten an der Oper, deren Publikum besonders traditionsorientiert ist.

Bei der Premiere von Julius Hays "Haben" am Wiener Volkstheater kam es 1945 zum ersten großen Theaterskandal der hysterisierten Nachkriegszeit und sogar zu einer Saalschlacht im Parkett, als die Hebamme Képes (gespielt von Dorothea Neff) während einer Szene unter einer Madonnenstatue Gift versteckt und Schüler des katholischen Piaristengymnasiums und Angehörige der ehemaligen Hitlerjugend Tumulte vom Zaun brachen. Mitgliedern des Theaters und Kulturstadtrat Viktor Matejka gelang es, die Situation zu beruhigen.

Am 1. Dezember 1948 geriet Ödön von HorváthsGeschichten aus dem Wiener Wald“ bei der österreichischen Erstaufführung am Wiener Volkstheater zu einem der größten Theaterskandale der Nachkriegszeit. Publikum und Presse standen Horváths Vivisektion der Wiener Seele – von Erich Kästner „ein Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“ genannt – empört gegenüber. Bei der zweiten Vorstellung kam es im letzten Bild, in der Wachau, sogar zu Tumulten, als Dorothea Neff als Großmutter den von ihr verschuldeten Tod des kleinen Leopold verkündet. Karl Skraup musste die Störer mit extemporierten Sätzen beruhigen.

Rolf HochhuthsDer Stellvertreter“ wirbelte 1963 bei der Berliner Uraufführung enormen Staub auf und entfachte Polemiken über das Verhalten Papst Pius XII. gegenüber Hitler-Deutschland. Während der Aufführungen am Wiener Volkstheater kam es 1964 zu tumultartigen Szenen, sogar zu Handgreiflichkeiten im Parkett. Direktor und Regisseur Leon Epp erschien bei offenem Vorhang auf der Bühne und verteidigte die Wahl des Stückes mit den Worten: „Jeder, der dieser Aufführung beiwohnt, möge sich doch fragen, ob er nicht an den hier geschilderten Dingen irgendwie mitschuldig gewesen ist!“

Bei Opern provozierte beispielsweise 1971 Mauricio Kagels „Szenische Komposition“ Staatstheater bei der Hamburger Uraufführung zur Zeit der ersten Intendanz von Rolf Liebermann einen solchen Theaterskandal, dass es bis zu anonymen Bombendrohungen einer „„Aktionsgemeinschaft junger Freunde deutscher Opernkunst“ kam.[3]

Seit den 1970er Jahren ist das Publikum zumindest beim Schauspiel toleranter als bei anderen Medien wie dem Fernsehen und akzeptiert Schimpftiraden oder nackte Darsteller, allerdings mit unverminderter Sensibilität für gesellschaftliche Fragen. Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod 1985 in Frankfurt am Main löste etwa Kontroversen über Antisemitismus aus, und die Uraufführung von Thomas Bernhards Stück Heldenplatz am Wiener Burgtheater 1988 regte eine Diskussion über österreichische Vergangenheitsbewältigung an.[4] Der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gelangen mit pornographischen Provokationen wie Raststätte oder sie machens alle (Wiener Burgtheater 1994) noch Theaterskandale. Seit Christoph Schlingensief haben sich die Theaterskandale in die (Medien-)Öffentlichkeit verlagert, wie mit seiner Aktion Ausländer raus! Schlingensiefs Container 2000.

Literatur

  • Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-20855-7.
  • Bernd Noack: Theaterskandale. Von Aischylos bis Thomas Bernhard. Residenz, St. Pölten u. a. 2008, ISBN 978-3-7017-3108-4.
  • Martin Kraus: Zwei Skandalstücke im Kontext von Antisemitismus: Thomas Bernhards Heldenplatz und Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. Waterloo 2009 (Theses, Univ. Waterloo), online.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Online
  2. Wolfgang Lempfrid: Warum diese Töne? Skandal und Provokation in der Musik
  3. SWR2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz, Sendung vom 22. September 2010, S. 5 pdf-Datei
  4. Die Presse, 9. September 2010

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Theaterskandal — The|a|ter|skan|dal, der: Skandal anlässlich einer Theateraufführung. * * * The|a|ter|skan|dal, der: Skandal anlässlich einer Theateraufführung …   Universal-Lexikon

  • Lawinky — Thomas Lawinky (* 3. Oktober 1964 in Magdeburg) ist ein deutscher Schauspieler. Er spielt am Theater vorwiegend in Stücken des Regisseurs Sebastian Hartmann. Im Fernsehen ist er vor allem aus Gastrollen in Krimiserien bekannt. Seit der Spielzeit… …   Deutsch Wikipedia

  • Thomas Lawinky — (* 3. Oktober 1964 in Magdeburg) ist ein deutscher Schauspieler. Er spielt am Theater vorwiegend in Stücken des Regisseurs Sebastian Hartmann. Im Fernsehen ist er vor allem aus Gastrollen in Krimiserien bekannt. Seit der Spielzeit 2008/09 gehört… …   Deutsch Wikipedia

  • Dorothea Neff — (* 21. Februar 1903 in München; † 27. Juli 1986 in Wien) war eine österreichische Schauspielerin. Inhaltsverzeichnis 1 Theater 2 Filmografie 3 Literatur …   Deutsch Wikipedia

  • Sebastian Hartmann — (* 18. Mai 1968 in Leipzig) ist ein deutscher Theaterregisseur und seit der Spielzeit 2008/09 Intendant des Schauspiels Leipzig mit den Spielstätten Centraltheater, Skala, Spinnwerk und Weißes Haus. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Arbeitstechnik 3… …   Deutsch Wikipedia

  • Der wunderbare Mandarin — (ungarischer Originaltitel A csodálatos mandarin) op. 19 (Sz 73) ist eine einaktige Tanzpantomime des ungarischen Komponisten Béla Bartók auf eine Vorlage von Menyhért Lengyel. Die Uraufführung am 27. November 1926 in Köln löste wegen der… …   Deutsch Wikipedia

  • Lehrstück (Theater) — Bertolt Brecht 1954 Bertolt Brecht entwickelte um 1930 in Zusammenarbeit mit den Musikern Kurt Weill, Paul Hindemith, Paul Dessau und Hanns Eisler das avantgardistische Konzept der Lehrstücke, um aus dem klassischen Theater und seinen… …   Deutsch Wikipedia

  • Agnes Straub — Agnes Josephine Straub (* 2. April 1890 in München, Bayern; † 8. Juli 1941 in Berlin Charlottenburg) war eine deutsche Schauspielerin. Inhaltsverzeichnis 1 Leben und Werk 2 Theaterrollen (Auswahl) 3 …   Deutsch Wikipedia

  • Antizionismus — ist die politische Ideologie der Gegenbewegung zum Zionismus. Seit der Gründung des Staates Israel 1948 wendet sie sich gegen diesen Staat als jüdischem Staat. Antizionismus wird sowohl säkular wie religiös begründet und findet sich auf dem… …   Deutsch Wikipedia

  • Auguste de Villiers de L’Isle-Adam — Auguste Villiers de L’Isle Adam Jean Marie Mathias Philippe Auguste Graf von Villiers de L’Isle Adam (* 7. November 1838 in Saint Brieuc; † 18. April 1889 in Paris) war ein französischer Schriftsteller. Sein von der Familie verwendeter Rufname… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”