- Der Müll, die Stadt und der Tod
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Der Müll, die Stadt und der Tod ist ein umstrittenes Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, verfasst 1975. Die Verfilmung unter dem Titel Schatten der Engel 1976 durch Daniel Schmid stand im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1976.
Fassbinder verarbeitete Motive des 1973 erschienenen Romans Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond von Gerhard Zwerenz. Zu diesem Roman hatte Fassbinder zunächst ein komplettes Drehbuch ausgearbeitet; das Filmprojekt zu Zwerenz' Roman kam aber nicht zustande.[1]
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Die Straßenprostituierte Roma B. (im Film Lily Brest, dargestellt von Ingrid Caven) wird von ihrem Zuhälter Franz B. (im Film Raoul, dargestellt von Fassbinder selbst) regelmäßig misshandelt, weil sie erfolglos in ihrem Gewerbe ist. Das Mädchen ist zu zart für die Ansprüche der Freier. Weil der Zuhälter sie immer wieder auf den Straßenstrich schickt, ist sie krank geworden.
Eines Tages wird sie von einem Immobilienspekulanten engagiert, der sich selbst als der „reiche Jude“ bezeichnet (dargestellt von Klaus Löwitsch). Dieser erwartet von ihr nicht sexuelle Dienstleistungen, sondern nur, dass sie ihm zuhört. Dafür bezahlt er sie großzügig; sie wird selbst reich, zugleich aber einsam: die anderen Strichmädchen wenden sich ebenso von ihr ab wie ihr Freier.
Der Spekulant benutzt sie, um sich zu rächen; Über das Mädchen will er an ihren Vater kommen, den er verantwortlich für den Tod seiner eigenen Eltern macht. Von der Tochter zur Rede gestellt, erweist sich der Vater als Prototyp des überzeugten nationalsozialistischen Verbrechers, der zum technokratischen Mörder wurde und von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt bleibt.
Das Strichmädchen verzweifelt an dieser Situation; auf ihren Wunsch hin tötet der Immobilienmakler sie, für ihren Tod wird ihr ehemaliger Zuhälter verantwortlich gemacht.
Das Geschehen spielt in der düsteren Atmosphäre einer maroden, verrotteten Stadt, bei deren Sanierung sich Politiker und Immobilienspekulanten gegenseitig in die Taschen arbeiten, unterstützt vom korrupten Polizeipräsidenten (dargestellt von Boy Gobert).
Aufführungsgeschichte
Fassbinder plante, das Stück als seine letzte Arbeit am Frankfurter TAT zu inszenieren, konnte das Vorhaben nach massiver Kritik jedoch nicht durchsetzen.[2] Das Werk wurde in den 1970er und 80er Jahren, z. B. von Joachim Fest, Ignatz Bubis, Salomon Korn, als Teil der politischen Auseinandersetzung im sogenannten Frankfurter Häuserkampf verstanden und Fassbinder wurde des Antisemitismus beschuldigt. In der Figur des jüdischen Immobilienspekulanten glaubten viele Ignatz Bubis erkennen zu können, der Anfang der 1970er Jahre in die Auseinandersetzungen um die Sanierung des Frankfurter Westends als Investor verwickelt war.[3]
Die öffentliche Erstaufführung fand damit 1987 in New York statt, im selben Jahr folgte eine Inszenierung in Kopenhagen, seither wurde das Werk wiederholt im europäischen Ausland und in den USA gespielt.[4]
Aufgrund aller Vorwürfe wurde das Stück – abgesehen von einer Amateur-Inszenierung in Bochum 1979 – zu Fassbinders Lebzeiten nicht aufgeführt und wurde bis 2009 an keinem Theater in Deutschland gespielt.[5] Die für den 31. Oktober 1985 am Schauspiel Frankfurt geplante offizielle Erstaufführung geriet zum handfesten Theaterskandal: Vor dem Eingang der Spielstätte fand eine Demonstration gegen die Aufführung statt und die Vorstellung musste abgebrochen werden, nachdem Zuschauer, viele davon Mitglieder der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, die Bühne nach den ersten Sätzen der Schauspieler besetzt hatten und diese am Weiterspielen hinderten[6]. Nach diesen Ereignissen gab es lediglich noch eine geschlossene Aufführung für die Presse am 4. November 1985.
Am 1. Oktober 2009 fand schließlich im Theater an der Ruhr in Mülheim an der Ruhr die deutsche Erstaufführung statt. Noch vor der Premiere forderten der Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde Duisburg/Mülheim den Theaterleiter Roberto Ciulli auf, das Stück abzusetzen. Das Theater solle aus „Respekt vor den wenigen Überlebenden des Holocaust und den Millionen von Toten auf die Aufführung verzichten“. Ciulli sei mit dem Versuch gescheitert, dem Werk eine „aufklärerische Zielsetzung zu verleihen, die den Antisemitismus entlarvt und damit bekämpft“, kommentieren der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer und Jacques Marx, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Duisburg/Mülheim [7]. Das Theater sah dagegen in der Inszenierung den Versuch, den „bewussten und unbewussten Antisemitismus als Tatsache der bundesrepublikanischen Wirklichkeit festzustellen“.[8]
Literatur
Primärliteratur
- Rainer Werner Fassbinder: Der Müll, die Stadt und der Tod / Nur eine Scheibe Brot. Zwei Stücke. Frankfurt a.M. 1998, Verlag der Autoren ISBN 3886612066
- Die Intendanz des Schauspiels Frankfurt gab im Selbstverlag zwei Dokumentationen zur Kontroverse um die geplante Aufführung 1985 heraus:
- Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anlässlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück ‚Der Müll, die Stadt und der Tod Frankfurt 1985
- Der Fall Fassbinder. Dokumentation des Streits um ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘, Frankfurt 1987
Sekundärliteratur
- Janusz Bodek: Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung. Frankfurt 1991 ISBN 3-631-43729-3
- Janusz Bodek: Ein Geflecht aus Schuld und Rache? Die Kontroversen um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. In: Stefan Braese Holger Gehle, Doron Kiesel (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 351-385, Frankfurt u.a. 1998 ISBN 3-593-36092-6
- Janusz Bodek: "Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um ´Der Müll, die Stadt und der Tod´" In: Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hrsg.) Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, S. 179-205, Metzler Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 3-476-02240-4.
- Janusz Bodek: "Fassbinder-Kontroversen" In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hrsg.) Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, S. 230-232, [transcript], Bielefeld 2007, ISBN 3-899-42773-4.
- Wanja Hargens: "Der Müll, die Stadt und der Tod": Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte. Metropol, Berlin 2010, ISBN 9783938690819.
- Manfred Hermes: Deutschland hysterisieren. Fassbinder, Alexanderplatz. b_books Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-933557-75-9.
- Martin Kraus: Zwei Skandalstücke im Kontext von Antisemitismus: Thomas Bernhards Heldenplatz und Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. University of Waterloo, Waterloo 2009. (MA-Thesis)
- Deborah Vietor-Englander: “Der Jud versteht sich auf sein Gewerbe”. Why Rainer Werner Fassbinder´s "Der Müll, die Stadt und der Tod" should not be performed in Germany. Misinterpretations, misunderstandings and controversies about this play. In: Pól Ó Dochartaigh (Hg): Jews in German Literature since 1945. German-Jewish Literature? Amsterdam 2000 S. 537-548
Artikel in Zeitungen
- Friedrich Uttitz: Fragen an R. W. F. - Zum Theaterstück "Der Müll, die Stadt und der Tod" In: Jüdische Allgemeine 26. März 1976; unter dem Titel Einige Fragen an RWF gekürzt wieder in: ebenda, 12. April 2006, S. 66
- Peter von Becker: Ein Skandal zuviel – War Fassbinder ein Antisemit? In Berlin wiederholt sich eine alte Affäre, in: Der Tagesspiegel, 31. August 1998
Quellenangaben
- ↑ http://www.fassbinderfoundation.de/de/werk2.php
- ↑ http://www.filmzentrale.com/rezis/schattenderengelub.htm
- ↑ http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/BubisIgnatz/
- ↑ http://www.fassbinderfoundation.de/node.php/de/theaterstuecke
- ↑ http://www.fassbinderfoundation.de/node.php/de/theaterstuecke
- ↑ http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/31.08.1998/ak-ku-9385.html
- ↑ DerWesten.de: Absetzung von Fassbinder-Stück gefordert- Abruf am 17. September 2009
- ↑ Focus: Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ feiert Deutschland-Premiere vom 1. Oktober 2009 (aufgerufen am 1. Oktober 2009).
Weblinks
zum Theaterstück:
- Thesen über die Ursachen der Auseinandersetzungen zum Theaterstück Fassbinders – Interview mit Micha Brumlik anlässlich des Streits um eine 1998 geplante Aufführung am Berliner Maxim-Gorki-Theater, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 38/1998, 18. September 1998
zum Film:
- Schatten der Engel, Inhalt und Besetzungsliste bei Filmportal.de
- Schatten der Engel in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database
- Rezension zu Schatten der Engel von Ulrich Behrens bei Filmzentrale.com; der Autor analysiert Inhalt, Wirkung und Rezeption des Films wie des Theaterstücks
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