Verwirkung (Deutschland)

Verwirkung (Deutschland)

Ein Recht ist verwirkt, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht hat und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde.

Die Verwirkung ist im deutschen Recht nicht gesetzlich geregelt, sondern ihre Grundsätze wurden von der Rechtsprechung aus der Generalklausel des § 242 BGB (Treu und Glauben) entwickelt. Systematisch handelt es sich um einen Fall unzulässiger Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens, ein sogenanntes venire contra factum proprium.

Um die Verwirkung eines Rechts anzunehmen, bedarf es dreier Voraussetzungen:

  • Zeitmoment, das heißt seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, muss ein längerer Zeitraum verstrichen sein. Was ein „längerer Zeitraum“ ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Mit anderen Worten, das Zeitmoment beginnt – da keine sonderlich hohen Anforderungen diesbezüglich bestehen – wenn der Berechtigte von den Umständen Kenntnis erlangt, die seinen Anspruch begründen.[1]
  • Untätigsein des Berechtigten bezüglich der Durchsetzung des Rechts.
  • Umstandsmoment, das heißt der Verpflichtete hat sich darauf eingestellt und durfte sich darauf einstellen, der Berechtigte werde aufgrund des geschaffenen Vertrauenstatbestandes sein Recht nicht mehr geltend machen. Mit anderen Worten, das Umstandsmoment liegt vor, wenn der Berechtigte unter solchen Umständen untätig geblieben ist, die den Eindruck erwecken, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wird.[1]

Ein möglicher Fall einer Verwirkung könnte vorliegen, wenn ein Mieter seinen Vermieter so schwer beleidigt, dass der Vermieter seinen Mieter sofort fristlos kündigen könnte. Jedoch spricht der Vermieter seine Kündigung erst nach sechs Monaten aus. Der Vermieter schafft folglich den Vertrauenstatbestand beim Mieter, dass keine Kündigung wegen der Beleidigung folgt und sich die Sache "erledigt" hat. Der Vermieter kann sich also nicht mehr auf das verwirkte Recht wegen § 242 BGB berufen.[2]

Die Verwirkung ist eine rechtsvernichtende Einwendung und im Prozess von Amts wegen zu berücksichtigen.

Von der Verwirkung zu unterscheiden ist die Verjährung. Letztere ist von dem genannten Umstandsmoment unabhängig und wird im Prozess nur auf ausdrückliche Einrede hin berücksichtigt. Jedoch muss die Verwirkung restriktiv angewendet werden, ansonsten würden die Verjährungsregeln ihren eigentlichen Sinn verlieren.[3]

Von der Verwirkung eines Rechtes im oben beschriebenen Sinn strikt zu unterscheiden ist der in der alltäglichen Rechtssprache nur noch relativ selten verwendete Begriff der Verwirkung einer Strafe. Eine Strafe oder sonstige Sanktion ist „verwirkt“, wenn die Voraussetzungen für ihre Verhängung oder Vollstreckung eingetreten sind. In diesem Sinne hat der Delinquent die Ahndungsfolge „verwirkt“, sobald er den straf- oder bußbewehrten Tatbestand verwirklicht, also etwa eine strafbare Handlung begeht.

In diesem zweiten Sinne wird der Begriff der Verwirkung zum Beispiel verwendet:

  • Im Zusammenhang des § 339 BGB („Verwirkung der Vertragsstrafe“): Eine Strafe, die der Schuldner dem Gläubiger für den Fall verspricht, dass er seine Verbindlichkeit nicht oder nicht in gehöriger (vereinbarter) Weise erfüllt, ist verwirkt, wenn der Schuldner mit seiner Leistung in Verzug kommt. Mit „Verwirkung“ ist hier analog zu der strafrechtlichen Bedeutung gemeint, dass der Anspruch auf die Entrichtung der Konventionalstrafe entsteht.[4]
  • Im Zusammenhang mit Säumniszuschlägen § 240 AO.

Literatur

  • Karl Spiro: Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen, Band II: Andere Befristungen und Rechte. Bern 1975.

Einzelnachweise

  1. a b LAG Köln, Urteil vom 3. Juni 2003 – 13 (3) Sa 2/03
  2. Sachverhalt nach Looschelders, Schuldrecht AT, 8. Auflage, Rndr. 86.
  3. Looschelders, Schuldrecht AT, 8. Auflage, Rndr. 87.
  4. Jos Mehrings: Grundlagen des Wirtschaftsprivatrechts. Pearson Studium, 2006
Rechtshinweis Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Verwirkung — bezeichnet: Verwirkung (Deutschland) Verwirkung (Schweiz) Diese Seite ist eine Begriffsklärung zur Unterscheidung mehrerer mit demselben Wort bezeichneter Begriffe …   Deutsch Wikipedia

  • Verwirkung von Grundrechten — Unter Grundrechtsverwirkung versteht man den Verlust einzelner Grundrechte in einem bestimmten Verfahren gemäß Artikel 18 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Wortlaut Artikel 18 Wer die Freiheit der Meinungsäußerung,… …   Deutsch Wikipedia

  • Verwirkung (Schweiz) — In der Schweiz bezeichnet Verwirkung den Untergang eines Rechts aufgrund des Ablaufs einer Verwirkungsfrist (die analogen Fristen heißen in Deutschland Ausschlussfristen). Eine Verwirkungsfrist kann weder unterbrochen noch (von ganz seltenen… …   Deutsch Wikipedia

  • Unterhalt (Deutschland) — Das Unterhaltsrecht gibt Bedürftigen, die ihren eigenen Unterhalt nicht selbst bestreiten können, einen Anspruch auf Gewährung von Unterhalt. Unterhaltsverpflichtet können Ehegatten, geschiedene Ehegatten, Eltern ehelicher und nichtehelicher… …   Deutsch Wikipedia

  • Öffentliches Baurecht (Deutschland) — Das öffentliche Baurecht ist in Deutschland ein Teilgebiet des besonderen Verwaltungsrechts und umfasst die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, die die Zulässigkeit und die Grenzen, die Ordnung und die Förderung der baulichen Nutzung des Bodens,… …   Deutsch Wikipedia

  • Artikel 18 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland — Unter Grundrechtsverwirkung versteht man den Verlust einzelner Grundrechte in einem bestimmten Verfahren gemäß Artikel 18 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Wortlaut Artikel 18 Wer die Freiheit der Meinungsäußerung,… …   Deutsch Wikipedia

  • Politisches System der Bundesrepublik Deutschland — Zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland gehören die politischen Institutionen, die politischen Entscheidungsprozesse und die Inhalte der politischen Entscheidungen in Deutschland. Das politische System Deutschlands ist… …   Deutsch Wikipedia

  • Politisches System in Deutschland — Zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland gehören die politischen Institutionen, die politischen Entscheidungsprozesse und die Inhalte der politischen Entscheidungen in Deutschland. Das politische System Deutschlands ist… …   Deutsch Wikipedia

  • Elternunterhalt (Deutschland) — Elternunterhalt ist die rechtliche Verpflichtung von Kindern und (indirekt) auch Schwiegerkindern, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten durch Unterhaltszahlungen den Lebensbedarf der (Schwieger )Eltern zu sichern. Die Rechtsgrundlage für… …   Deutsch Wikipedia

  • Verjährung (Deutschland) — Verjährung ist im Zivilrecht der durch den Ablauf einer bestimmten Frist bewirkte Verlust der Möglichkeit, einen bestehenden Anspruch durchzusetzen. Im öffentlichen Recht führt die Verjährung regelmäßig zum Erlöschen des Anspruchs. Die… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”