Der vitruvianische Mensch

Der vitruvianische Mensch
Der vitruvianische Mensch mit Feder und Tinte (1492)

Der vitruvianische Mensch ist eine berühmte, 34,4 × 24,5 cm große Zeichnung von Leonardo da Vinci aus dem Jahr 1492. Es handelt sich um eine Skizze mit Notizen aus einem seiner Tagebücher, die einen Mann mit ausgestreckten Extremitäten in zwei überlagerten Positionen zeigen. Mit den Fingerspitzen und den Sohlen berührt die Figur ein sie umgebendes Quadrat (homo ad quadratum) bzw. einen Kreis (homo ad circulum).

Das Original ist in der Galleria dell’ Accademia in Venedig gelagert, wird allerdings aus Konservierungsgründen nur zu sehr seltenen Gelegenheiten öffentlich ausgestellt.

Die Studie zeigt, wie sehr Leonardo an Proportion interessiert war[1] und ist bis heute nicht nur ein Symbol für die Ästhetik der Renaissance, sondern eines der berühmtesten und am meisten vervielfältigten Bildmotive.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft des Namens

Nachzeichnung

Der Name stammt nicht von Leonardo da Vinci selbst, sondern aus der Kunstgeschichte. Er erinnert an den römischen Architekten Marcus Vitruvius Pollio, ca. 80–70 v. Chr. bis ca. 10 v. Chr.

Dieser verfasste zwischen 33 v. Chr. und 22 v. Chr. die einzigen aus der Antike erhaltenen Architekturbücher Zehn Bücher über Architektur (lat. De architectura libri decem), Abhandlungen, die nicht illustriert waren und daher viele spätere Künstler inspirierten, darunter Albrecht Dürer.

Vitruvius stellt darin unter anderem die Theorie des wohlgeformten Menschen (lat. homo bene figuratus) mit einem idealen Verhältnis der Körperteile zueinander auf:

„Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“

Vitruv

Bedeutung für Kunst und Wissenschaft

Mit seiner Federzeichnung illustriert Leonardo da Vinci also, allerdings nicht als Erster, die These des Vitruvius, der aufrecht stehende Mensch füge sich sowohl in die geometrische Form des Quadrates wie des Kreises ein.

Wie auf der Zeichnung ersichtlich, setzt der Künstler für den „homo ad circulum“ den Zirkel tatsächlich exakt im Nabel an. Beim „homo ad quadratum“ ist dagegen der Schritt der exakte Mittelpunkt des Quadrates.

Ob Leonardo da Vinci sich explizit an der Beschreibung Vitruvius’ orientiert hat, ist nicht bekannt.

Weiter liest man bei Vitruvius:

„Der Körper des Menschen ist so geformt, dass das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem unteren Rand des Haarschopfes 1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Fingers ebenso viel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8 […] Vom unteren Teil des Kinns aber bis zu den Nasenlöchern ist der dritte Teil der Länge des Gesichts selbst, ebenso viel die Nase von den Nasenlöchern bis zur Mitte der Linie der Augenbrauen. Von dieser Linie bis zum Haaransatz wird die Stirn gebildet, ebenfalls 1/3 […]“

Das Idealbild der menschlichen Schönheit ist daher kein absolutes, sondern besteht aus der Beziehung einzelner Teile zueinander, wie es auch der Goldene Schnitt fordert.

Die einzige zu dieser Zeichnung erschienene und nach einem Leonardozitat benannte Werkmonografie „Ich aber quadriere den Kreis …“ kam 1998 zu dem ungewöhnlichen Schluss, dass die Doppelfigur in Kreis und Quadrat einen Lösungsvorschlag Leonardos zur in endlich vielen Konstruktionsschritten unmöglichen Quadratur des Kreises darstellt (letzteres wurde auf der Basis der Galoistheorie von Ferdinand von Lindemann 1882 zweifelsfrei bewiesen). Tatsächlich lässt sich der Zeichnung ein sehr eleganter Algorithmus zur annähernden Kreisquadratur (in unendlich vielen Konstruktionsschritten) entnehmen, der eine rekursive Folge von Paaren Kreis und Quadrat erzeugt, die mit hoher Geschwindigkeit gegen ein Flächenverhältnis von ca. 1,0003 konvergiert. Der Algorithmus der Proportionsstudie wurde recht bekannt und ist heute bereits Gegenstand des fächerübergreifenden Unterrichts Mathematik und Kunst nicht nur an deutschen Schulen. Das Verfahren wurde ferner auf Leonardoausstellungen in Wien und Berlin thematisiert und war mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Fachtagungen.

Heutige Verwendung

Das Skylab-3-Emblem (die römische Zwei bezieht sich auf die Crew nicht auf die Mission) ziert ein vitruvianischer Mann
Vitruvianischer Mann (2). Zeichnung von Rob ten Berge (1984)

Der vitruvianische Mann ist eine sehr populäre und häufig adaptierte Figur. Neben Reproduktionen in Wandbildern oder Postern, als Tattoo-Motiv oder als Logo einiger Krankenkassen findet er unter anderem Verwendung als Coverbild des Albums Lola versus Powerman and the Moneygoround, Part One der britischen Band The Kinks sowie des Albums Clayman der Band In Flames, als Figur auf dem Emblem des Skylab 3 und auf der Rückseite der italienischen 1-Euro-Münze. Eine erstaunlich große Rolle spielt Leonardos Zeichnung in der Esoterik- und New-Age-Szene. Mit einem Tierkreis umrandet, gilt der vitruvianische Mann als Symbol für den Neuen Menschen. Dabei lässt sich zeigen, dass diese Figur erst seit den 1930er Jahren über den engsten Kreis der Leonardo-Fachliteratur und der Proportionslehre an den Kunstakademien hinaus internationale Aufmerksamkeit gewann – nämlich durch ihre Verwendung als Symbol von Leonardos naturwissenschaftlichem Ordnungsdenken in der vom faschistischen Regime organisierten Ausstellung zu Ehren des Künstlers 1939 in Mailand (Leuschner).

Zuletzt spielte die Zeichnung im Film The Da Vinci Code – Sakrileg eine Rolle. Der ermordete Jacques Saunière machte damit seine Ziehtochter Sophie und Robert Langdon auf die Verwicklung der Werke Leonardo Da Vincis in das uralte Geheimnis der Prieuré de Sion aufmerksam. Beweise dafür, dass dieser Geheimorden tatsächlich existiert oder jemals existiert hat, oder dass der Maler dessen Großmeister gewesen war, gibt es jedoch keine.

Sonstige Verwendung

Verschiedene Autoren und Zeichner der Neuzeit nehmen da Vincis Original als Vorlage, um es karikaturhaft zu verfremden. Ein Beispiel ist Donald Duck, der als „Vitruvianische Ente“ die Titelseite des Lustigen Taschenbuches Nr. 357 ziert.[2]

Eine weitere comichafte Umsetzung ist das Logo der Linux-Distribution Knoppix („vitruvianischer Pinguin“).

Siehe auch

Literatur

  • Klaus Schröer, Klaus Irle: „Ich aber quadriere den Kreis …“. Leonardo da Vincis Proportionsstudie. Neuaufl. Verlag Monsenstein & Vannerdat, Münster 2007, ISBN 978-3-86582-547-6 (Erstauflage 1998).
  • Eckhard Leuschner: Wie die Faschisten sich Leonardo unter den Nagel rissen Eine architekturgeschichtliche Station des „Vitruvianischen Menschen“ auf dem Weg zum populären Bild. In: Christian Hecht (Hrsg.): Beständig im Wandel. Innovationen, Verwandlungen, Konkretisierungen. Festschrift für Karl Möseneder zum 60. Geburtstag. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009, ISBN 978-3-88221-998-2, S. 425–440.

Einzelnachweise

  1. Vorlesungsmaterialien: The Worlds of Leonardo da Vinci bei der Stanford University
  2. lustige-taschenbuecher.de – Katalogeintrag für LTB 357

Weblinks

 Commons: Der vitruvianische Mensch – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
 Wikisource: Marcus Vitruvius Pollio – Quellen und Volltexte (Latein)



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