- Ensel und Krete
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Ensel und Krete, dessen Untertitel Ein Märchen aus Zamonien lautet, ist ein Roman von Walter Moers (Erstausgabe: Juni 2000). Er spielt, wie auch andere Werke Moers', auf dem fiktiven Kontinent Zamonien. Vom Autor selbst als Märchenparodie bezeichnet, stellt er eine Bearbeitung des Grimmschen Märchens Hänsel und Gretel mit zwei „Fhernhachenkindern“ – äußerst liebenswürdigen und anständigen Halbzwergen – als Helden dar.
Auf der anderen Seite steht er in der Tradition romantischer Kunstmärchen, denn Moers setzt hier zum ersten Mal die Figur des zamonischen Dichterfürsten Hildegunst von Mythenmetz als fiktiven Autor des Buches, das man gerade im Begriff ist zu lesen, ein. Wie in bekannten Werken romantischer Literatur (vgl. beispielsweise E. T. A. Hoffmanns Roman Kater Murr) fungiert der eigentliche Autor Walter Moers nur als Vermittler des Textes – in diesem Fall als fiktiver „Übersetzer“ aus dem Zamonischen. Dieser übersetzt nicht nur, sondern greift zusätzlich in das angebliche Original ein, indem er es mit zahlreichen Abbildungen, Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, einigen Kommentaren zur Schwierigkeit des Übersetzens sowie der halbe[n] Biographie des Hildegunst von Mythenmetz ergänzt.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt des Märchens
Ensel und Krete spielt im sogenannten „Großen Wald“ Zamoniens. Dieser wurde vor Jahrzehnten von den Buntbären bevölkert und zu einer vorbildlichen Naturkolonie ausgebaut. Hier verbringt die Familie „von Hachen“ ihre Ferien. Die beiden Kinder, der Knabe Ensel und seine Schwester Krete, verirren sich eines Tages im verbotenen, unzivilisierten Teil des Forstes. Eine lange erlebnisreiche Wanderschaft beginnt, bei der sie zunächst harmloseren zamonischen Daseinsformen wie Einhörnchen, Doppelköpfigen Wollhühnchen, Dreiäugigen Schuhus, Elfenwespen und Fledertratten begegnen. Nach ihrem Abenteuer mit einem gefährlicheren Rarlebewesen, dem Laubwolf, in dem sie das erste Mal in Lebensgefahr geraten, führt Moers die Geschichte zu einem ersten scheinbaren Happy End: Die Fhernhachenkinder werden von einem Trupp Buntbären gerettet. Der Buntbärenbürgermeister stellt die beiden als Helden dar, die den Laubwolf erlegt haben, und die beiden werden bejubelt und gefeiert. Da er gleichzeitig einen wertvollen Schatz entdeckt hat, wähnt sich Ensel sogar als finanzieller Retter der Buntbärenkolonie. Die ganze Geschichte um den Laubwolf herum erweist sich jedoch als Halluzination, womit die eigentliche Gefahr des Waldes benannt ist: Die giftigen Dämpfe, die von der Verbrennung der Waldspinnenhexe übrig geblieben waren und Wahnvorstellungen hervorrufen können („Halluzinationen. Großes Thema hier im Wald“, S. 206.).
Die Kinder werden nun in eine Serie gefährlicher phantastischer Abenteuer verwickelt, an deren Wirklichkeitsgehalt der Leser von nun an zweifeln muss: Ein Eismeteorit mit telepathischen Kräften lässt Ensel sein Fhernhachenleben vergessen, egoistische Sternenstauner versuchen eloquent und überzeugend die Kinder zu einer Selbstopferung zu überreden, eine Halmmuräne lauert im Treibgras auf die kleine Krete – und immer wieder begegnen sie dem verschlagenen Stollentroll, der sie in die Irre schickt – bis sie sich endlich von dem Hexenhaus anlocken lassen. Sobald sie dies betreten haben, verschließen sich Türen und Fenster und Magensäfte strömen hinein, um die Opfer aufzulösen, damit die Hexe dann ihre Seelen verzehren kann. Hier lässt Moers das Märchen ein zweites Mal enden – doch nur um dann fortzufahren und den Leser erneut zu verwirren („Vielleicht konnten sie sich ja doch noch befreien?“ S. 201).
Als Retter in letzter Not eilt ihnen ein goldener Buntbär zu Hilfe: Boris Boris, an dessen Verstand („Hallo, Kinder! Mein Name ist Boris Boris. Ich bin verrückt.[...] Ich bin gekommen, um euch zu befreien und die Hexe kaltzumachen.“ S. 205), Güte („Vielleicht bin ich hier, weil ich Lust auf ein kleines Fhernhachengulasch habe. [...] Er hob zähnefletschend die schleimbedeckte Axt und wankte auf Ensel und Krete zu.“ S. 208) und mal wieder Existenz gezweifelt werden muss („Ensel fragte sich, ob der Bär tatsächlich existierte.[...] Vielleicht verwandelte er sich gleich in einen Küchenstuhl. Oder in einen Hexenhutpilz. In diesem Wald konnte man sich auf gar nichts verlassen.“ S. 206). Doch Boris Boris nimmt tatsächlich den Kampf auf. In einem groß angelegten splatterfilmartigen Showdown wird die Hexe mit Hilfe der Tiere des Waldes langsam und grausam vernichtet und Boris Boris führt die Kinder glücklich nach Haus.
Multiperspektivisches Erzählen
Moers arbeitet in Ensel und Krete zum ersten Mal dezidiert multiperspektivisch. Die Textstruktur weist verschiedene Ebenen auf. Neben der eigentlichen Märchenbearbeitung setzt Moers als Erzähler die Autorfigur Hildegunst von Mythenmetz ein, der wiederum einerseits den erzählten Text kommentiert und reflektiert, andererseits sein eigenes Leben zum Thema des Erzählens macht.
Ebene I: Traum und Wirklichkeit
Auf der ersten Ebene finden die Abenteuer der beiden Kinder statt. Doch bereits innerhalb dieser erzählten Geschichte spielt Moers mit verschiedenen Daseinszuständen: Die halluzinogenen Giftpilze (Hexenhutpilze), die in dem großen Wald wachsen, versetzen sie immer wieder in „Wahnzustände“. Ein See, der ehemals „ein gewaltiger Eismeteorit mit telepathischen Kräften“ war, nimmt Ensel zu einer imaginären Spritztour durch das Universum mit, der selbst glaubt, sich in einen Meteor verwandelt zu haben. Der Leser kann zunehmend nicht unterscheiden, ob die Handlung auf einer „realen“ oder geträumten Ebene spielt. Dies erinnert an Kunstmärchen der Romantik (wie etwa Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck oder Der goldene Topf von E.T.A. Hoffmann), in denen die Dichotomien Traum und Wirklichkeit, Mögliches und Unmögliches, Geglaubtes und Gewusstes gegeneinander gehalten und deren Grenzen durch rasche Wechsel vom einen zum anderen verwischt werden.
Ebene II: Die Mythenmetzsche Abschweifung
Eine weitere Erzählebene kommt durch die Mythenmetzsche Abschweifung hinzu. Diese ist ein literarisches Stilmittel, das Moers’ Figur Hildegunst von Mythenmetz angeblich für Ensel und Krete erfunden hat. Sie erlaubt dem Autor – ein Begriff, der an dieser Stelle sowohl Mythenmetz als auch Moers bezeichnen kann – den Erzählfluss seiner Geschichte zu unterbrechen und entweder zu einem ganz anderen Thema abzuschweifen (z.B. das Mittagessen, das Wetter, etc.), um dann unvermittelt mit der Geschichte fortzufahren, oder seine eigenen literarischen Techniken zu reflektieren und stolz vor dem Leser auszubreiten, um dadurch seine Leistung als Autor hervorzuheben:
- Darf ich an dieser Stelle einmal auf meine schriftstellerische Raffinesse hinweisen? Natürlich darf ich das, innerhalb einer Mythenmetzschen Abschweifung darf ich alles. (Taschenbuch: S.169)
Erzählereinschübe dieser Art sind keineswegs neu: Es gibt sie in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Eine besondere Ausformung erfuhr diese Spielart der Metafiktion in der Romantik. Der Witz liegt in Moers spezifischem Umgang damit: Er nutzt sie, um den Auftritt des überaus eitlen und von sich selbst hybrisch überzeugten „größten Dichters Zamoniens“, dessen Name und Größe dem Leser bereits aus dem Blaubär bekannt ist, plastisch zu inszenieren. Dass diese literarische Technik von Mythenmetz selbst als seine persönliche Erfindung deklariert und mit seinem eigenen Namen versehen wird, ist Teil dieser Inszenierung.
Dabei geht Moers ins Extrem, wenn er seine Autorfigur eben nicht nur für den Verlauf des Romanes wichtige Techniken der Literaturproduktion preisgeben lässt, sondern den Inhalt der Abschweifungen teilweise besonders banal gestaltet, indem er den Autor z.B. seinen Schreibtisch beschreiben lässt. Erneut wird der Leser auf eine scheinbar ‘realere’ Ebene geführt. Dass sich dies wiederum keinesfalls banal, sondern äußerst vergnüglich liest, liegt wiederum daran, dass es sich hierbei um den Schreibtisch eines hypochondrischen Lindwurms handelt und nicht etwa um den des ‘realen’ Autors Walter Moers.
In dem Nachwort des dritten übersetzten mythenmetzschen Roman (Der Schrecksenmeister) berichtet Moers davon, dass es in diesem Buch einen der Höhepunkte der mythenmetzschen Abschweifungen gab. Ihr Inhalt war zumeist überflüssig, laut Moers nahmen sie mehr als 700 Seiten in Anspruch, die er dringend streichen musste.
Intertextualität
Moers' Erzähltechnik lebt davon, dass er eine Fülle anderer literarischer Werke anzitiert und erweitert. In Ensel und Krete überwiegt die Märchenmotivik. Andererseits zieht der Leser aber auch ein Vergnügen daraus, dass er bestimmte Elemente aus anderen Zamonien-Romanen, vornehmlich Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär, wiedererkennen kann.
Ein „Moerschen“: Die Märchenmotivik und ihre Variationen
Wie für jeden alten wie jungen Leser unschwer zu erkennen, stellt Ensel und Krete eine Bearbeitung des Grimmschen Märchens dar. Von der Brotspur, die zur Himbeerspur wird, über die furchtsamen Nächte im Wald bis zum Hexenhäuschen, das nur gebaut wurde, um kleine Kinder herbeizulocken (und sich hier als Magen der Hexe erweist), lässt Moers kaum eine Anspielung auf Hänsel und Gretel aus. Zudem füllt der Autor seinen kleinen Roman mit anderen klassischen Märchen- und Kinderbuchmotiven: Dass die Kinder eine Art Zwerge sind, verweist auf Schneewittchen. Auch in diesem Wald treibt der obligatorische „böse Wolf“ (wie ihn der Leser etwa aus Rotkäppchen oder Der Wolf und die sieben jungen Geißlein kennt) sein Unwesen und die 'Zunge der Orchidee' erinnert an das Haar von Rapunzel. In den militärischen Forst-Buntbären lassen sich die typischen Jägerfiguren wiedererkennen. Und häufig versteht ein Märchen-Held wie Boris Boris die Sprache der Tiere (so z. B. in Aschenputtel, Rotkäppchen, Der goldene Vogel oder Die zwei Brüder).
Bezüge zu anderen Zamonien-Romanen
Die Hauptfigur des ersten Romans in der Serie der Zamonien-Romane, die Figur des Käpt'n Blaubär, kommt in Ensel und Krete nicht vor. Es sind jedoch auf mehreren Ebenen Elemente des Blaubär-Romans aufgegriffen worden. An erster Stelle sind hier der Ort – der „große Wald“ – und die Buntbärenkolonie zu nennen. Der Blaubär endet mit einem Happy End, einer leicht überzogenen Idylle:
- Der Große Wald wurde bald wieder zu einer der touristischen Attraktionen Zamoniens, beliebt wegen seiner romantischen Gasthäuser, in denen die Tiere des Waldes aus und ein gingen und man von Buntbären paradiesisch bekocht wurde. (Blaubär, S. 701)
Es ist ein Motiv, das Moers in Ensel und Krete ironisch aufgreift und ins Sarkastische steigert, indem er die Buntbären in einer ätzend-süßlichen, sauberen Touristen-Idylle leben lässt, in dem sich laut Mythenmetz – unter Hinweis auf die militärischen Helme und Uniformen der Brandwacht, Volkstümelei und autoritäre Lehrer – ein totalitäres System entwickelt. Moers ironisiert die Kritik allerdings durch den über das Ziel hinausschießenden, emotional („hysterisch polierten Idylle“, „Grauen“) formulierenden Dinosaurier-Autor, der der Brandwacht auch militantes Singen unterstellt und die Geheimpolizei kritisiert, die sich als Halluzination entpuppt.
Einzelnen Figuren bzw. „zamonischen Daseinsformen“ aus dem Blaubär begegnen wir jedoch wieder: Der Stollentroll, der einst im Blaubär von dem weichherzigen aber kurzsichtigen Flugsaurier Mac im Buntbärenwald abgesetzt wurde, hat nichts von seiner Fiesheit eingebüßt. Er spielt nun eine tragende Rolle, indem er die verirrten Kinder immer wieder aufs Neue absichtlich in die falsche Richtung schickt. Die Waldspinnenhexe, der der Blaubär nur mit Mühe entrinnen konnte, kommt zwar nicht mehr direkt vor, doch ihr Tod hat seine Spuren in den Giftpilzen hinterlassen, die für die beiden Fhernhachenkinder zur Gefahr werden. Der „große Wald“ erweist sich als noch ebenso unwegsam wie seinerzeit im Blaubär.
Das Lexikon von Professor Dr. Abdul Nachtigaller
Moers setzt in Ensel und Krete die Tradition fort, seine fantasievollen Gebilde und Figuren in fiktiven Artikeln des Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller zu erläutern. War im Blaubär das Lexikon fest im Gehirn des Ich-Erzählers installiert, der manchmal selbst von seinem plötzlich und teilweise zur Unzeit aus ihm herausbrechenden Wissen überrascht wurde, wählt Moers für seinen Autor Mythenmetz die schriftlich-gebildete Form der Wissenseinschübe: Die Fußnote. Es handelt sich dabei wieder um eine neue Ebene, die der fiktionalen Seriosität, die auch in der angehängten Biographie von Mythenmetz erreicht werden soll, dient. In ihnen werden nun, teilweise mit Passagen aus dem Blaubären identische, Texte abgedruckt. So findet sich folgender Artikel sowohl im Blaubär (S. 690f.) als auch in Ensel und Krete (S. 11–13):
Buntbären, die: Zamonische Sonderform aus der Familie landbewohnender Allesfresser mit dichter Fellbhaarung (Ursidae); kräftige, bis zu zwei Meter große Säugetiere mit Sprachbegabung. Das Einzigartige an den Buntbären ist ihre farbliche Individualität. Jeder Buntbär trägt ein farbiges Fell, aber keines ist von gleicher Färbung. Es gibt zum Beispiel zahlreiche rote Buntbären, aber jeder trägt eine eigene Variation der Farbe Rot: Ziegelrot, Kupferfarben, Zinnober-, Scharlach-, Mahagoni- oder Klatschmohnrot, Purpur, Karmesin, Bronzefarben, Rosa, Rubin oder Flamingorot. [...]
Mythenmetz’ Beziehung zum Blaubären
Auch auf der Ebene der fiktiven Autoreinschübe wird der Blaubär erwähnt. Abgesehen davon, dass die Figur des Mythenmetz als „größter zamonischer Dichter“ dort bereits eingeführt wurde, wissen wir über ihn, dass er Die Finsterbergmade verfasste (der wir persönlich mit dem Blaubären begegnet waren). Dies erwähnt die Biographie des Dichters selbstverständlich:
- „Dunkel ist’s, die Berge schweigen
Schaurig still: Das Labyrinth
Vor mir noch des Lebens Reigen
Ohne Licht und ohne Wind. - Welcher bildungsbeflissene Zamonier kennt sie nicht auswendig, alle achtundsiebzig Strophen der Finsterbergmade“. (S. 233)
Der Blaubär selbst taucht – wenngleich nicht namentlich genannt – auf, wenn Mythenmetz den „Lügengladiator in Atlantis“ erwähnt, der das Happy End in die zamonische Dichtkunst eingeführt habe.
- Ich habe gerüchteweise von einem atlantischen Lügengladiator gehört, der seiner Geschichte einen glücklichen Ausgang gegeben hat und dafür von seinem Publikum auf Händen getragen wurde. Nun haben Vorträge von Lügengladiatoren herzlich wenig mit zamonischer Literatur zu tun, aber man sollte seine Augen vor den Zeichen der Zeit nicht verschließen. (S. 202)
An dieser Stelle verweben sich das „literarische Leben“ des Blaubären als Lügengladiator mit dem des Schriftstellers von Zamonien. Für Ensel und Krete ist dies auf der Ebene der Literaturreflexion von Bedeutung, denn indem das Buch die Gattung „Märchen“, die klassischerweise mit dem Happy End par excellence verbunden ist, aufruft, erwartet der (menschliche) Leser ein glückliches Ende, wobei der zamonische Leser angeblich stets einen negativen Ausgang erwartet. Dies diskutiert Mythenmetz in seinem Märchenroman – er verfasst sogar zwei verschiedene Schlüsse – und verweist wie gesagt dabei auf den erfolgreichen Lügengladiator. So hat also die Lügentechnik des Blaubären Auswirkungen auf die Schreibweise des Mythenmetz und somit auf den Verlauf der Geschichte, die in Ensel und Krete erzählt wird.
Die zeitliche Kohärenz ist dabei fraglich: Das Buntbärenszenario legt nahe, dass Ensel und Krete viele Jahre nach der Blaubär-Handlung spielt. Dann wäre der Blaubär als Lügengladiator längst Geschichte. Mythenmetz hingegen beruft sich auf ihn als auf eine neue populär-literarische Strömung. Unklar bleibt, ob sie bloß im Zeitgefühl des uralten Sauriers (subjektiv) so empfunden wird oder ob Moers die zeitliche Kohärenz bewusst bricht und damit die Überlegenheit von Fiktion über die Realität zeigt, die er bereits im Blaubär etablierte.
Eine dritte Ebene: Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz
Der Roman dient hauptsächlich dazu, die Figur des Hildegunst von Mythenmetz – in einem Interview von Moers als sein Alter ego bezeichnet – für das „Zamonien-Projekt“ zu etablieren. Als angebliches Nachwort, aber für das Verständnis der Figur von essentieller Bedeutung, hat Moers deshalb an die eigentliche Abenteuergeschichte Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz angefügt. Unter dem Titel „Von der Lindwurmfeste zum Bloxberg“ erzählt er eine Künstlerbiographie, die kein Klischee dieser Gattung auslässt. Die lange Lebensdauer der Lindwürmer ermöglicht es Moers dabei, seinen Helden die verschiedensten Formen von Dichterleben – von der drogenabhängigen Kaffeehausliteratenexistenz bis zur Korrumpierung durch die Industrie – durchlaufen zu lassen. Damit kommt jedoch eine weitere Erzählebene dazu: Moers installiert als weitere Erzählinstanz „sich selbst“, d. h. einen Erzähler gleichen Namens, als angeblich wissenschaftlichen Biographen seiner erfundenen Figur.
Immer wieder wird dabei – wie sich das für eine gute Künstlerbiographie gehört – auch die schriftstellerische Leistung des „Dichterfürsten“ gewürdigt. Dabei verarbeitet Moers Elemente der Weltliteratur, indem er auf berühmte Romane anspielt (Im „Natifftoffenhaus“ kann man unschwer Thomas Manns Buddenbrooks erkennen) oder die Charakteristika bestimmter Gattungen ironisch auf die Spitze treibt (So wird die barocke Dingdichtung zur „Totmateriedichtung“, die ihren Anfang und Höhepunkt in Mythenmetz’ Roman Der sprechende Ofen findet). Das Ganze nutzt Moers zu einigen Seitenhieben auf die Literaturwissenschaft, indem er pseudowissenschaftliche Fußnoten und Belege einfügt, die den Anschein erwecken, dass es sich bei der Biographie um ein ernsthaftes literaturwissenschaftliches Werk handelt.
Rezeption: Von der Kindertauglichkeit eines zamonischen Märchens
Die Kritik hat Moers Buch durchgehend positiv aufgenommen, wenngleich sich junge und alte Leser der Zamonien-Romane manchmal nicht ganz einig sind, ob Ensel und Krete qualitativ an den Blaubär heranreicht. Wie jedoch auch bei anderen Büchern des Zamonien-Komplexes stellen sich die Rezipienten vornehmlich die Frage, ob dieser Roman ein Kinder- und Jugendbuch sei, oder ob nur Erwachsene das rechte Vergnügen daran finden. Gerade hier ist die Gattungsbezeichnung Märchen irreführend, da sie zunächst suggeriert, dass es sich um ein Kinderbuch handele. Dem entgegen stehen jedoch die deutliche Spannung, die aufgebaut wird – für ein Kind schwer zu ertragen – sowie die Härte, mit der der Abschlusskampf von Boris Boris und den Tieren gegen die Hexe geführt wird. Das Hauptargument gegen Moers als pädagogisch wertvolle Lektüre bleibt jedoch, dass manche Leser Teile des Buches als Darstellungen von Drogenerfahrungen und Rauschzuständen deuten und daher das Buch als für Kinder ungeeignet ansehen. Damit wird Ensel und Krete – trotz zahlreicher klassischer Kindermärchenelemente – zu einem „Märchen für Erwachsene“. Des Weiteren ist das Buch als Satire zu lesen: Moers verteilt vornehmlich Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb, Kritiker und die Literaturwissenschaft, doch auch politisch-soziale Fragen wie Tourismus, Militärherrschaft oder Bildungssystem werden diskutiert. Hinzu kommt, dass sich die Geschichte als Parabel auf Tschernobyl lesen lässt. Dies ist dann eine Rezeptionsebene, die für Kinder endgültig nicht mehr nachvollziehbar ist.
Moers arbeitet diese voraussehbare Debatte auf der zweiten (der kommentierenden Mythenmetz-)Ebene selbst mit ein, indem er die Frage nach dem glücklichen oder schlechten Ausgang seiner Geschichte permanent mitreflektiert. So stellt sich allmählich heraus, dass die Gattungsbezeichnung „zamonisches Märchen“ (Ein Märchen aus Zamonien lautet der Untertitel) bei den Lesern geradezu die Erwartung auf Grausamkeiten und Horrorszenarien weckt:
- Ich [Mythenmetz] weiß nicht, ob Sie mit meinem Gesamtwerk vertraut sind, aber ich habe bis dato über 500 Romane und zweitausend Kurzgeschichten verfaßt – alle mit negativem Ausgang. Der Blutzoll in meinem Werk ist höher als der der gesamten zamonischen Militärgeschichte.[...] Der Raum fing an, sich mit Magensäften zu füllen. Das finden Sie hart? Aber das ist doch völlig harmlos! Kennen Sie die zamonischen Märchen der Geschwister Zalpeter und Regine von Coma? Der Smörg ohne Gesicht? Die Hand mit den fünfundreißig Fingern? Das ofengebackene Männlein? Die drei Prinzessinnen und die hungrige Bratwurst?[...] Zamonische Märchen sind nichts für zarte Gemüter, meine Lieben. (S. 200f)
In ironischen Wendungen verweist der Roman permanent auf eine der wichtigsten Diskussionen, die um eben diesen und andere Zamonien-Romane geführt werden. Damit wird Ensel und Krete zu einem Buch, das seine eigene Kritik vorwegnimmt.
Textausgaben
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz, Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2000. ISBN 3821829494 (Gebundene Ausgabe)
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz (Luxusausgabe), Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2000. ISBN 3821851287 (Gebundene Ausgabe)
- Ensel und Krete, Eichborn Verlag, München 2001. ISBN 3821851643 (Hörbuch, gelesen von Dirk Bach)
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz, Goldmann Verlag, München 2002. ISBN 3442450179 (Taschenbuch-Ausgabe)
Theater
Am 12. November 2010 feierte Ensel und Krete in der Bearbeitung durch Michael Miensopust als erster Moers-Roman Theaterpremiere (am Landestheater Tübingen).
Quellen
- Alle Seitenangaben beziehen sich auf die gebundenen Erstausgaben der Zamonien-Romane.
- Interview in der Ausgabe 17/2003 des Magazins Falter, Wien.
- Rezension von Christof Siemes in der Ausgabe 27/2000 der Wochenzeitung Die Zeit, Hamburg.
- Exemplarisch für eine Fandiskussion: Büchereule
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