- Entwicklungsroman
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Der Ausdruck Entwicklungsroman bezeichnet einen Romantypus, in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Der Entwicklungsroman schildert den Reifeprozess des Protagonisten, der seine Erlebnisse und Erfahrungen reflektierend verarbeitet und seiner Persönlichkeit einverleibt.
Die Begriffe Bildungsroman und Erziehungsroman sowie Entwicklungsroman grenzen eng aneinander, wobei letzterer sich dadurch auszeichnet, dass aus Sicht des Lesers betrachtet nicht unbedingt eine höhere Befähigung oder Bildung als Ergebnis am Ende der Entwicklung der Hauptfigur stehen muss.
Häufig sind es in Entwicklungsromanen negative Erfahrungen, die die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen. Sie veranlassen den Romanhelden, „in sich zu gehen“, verhelfen ihm zur Erkenntnis, dass er unerreichbare Ziele verfolgt, ungerechtfertigte Ansprüche erhoben oder schwere Fehler begangen hat. Indem er dies eingesteht, schafft er sich die Möglichkeit, umzukehren und seiner Entwicklung eine andere Richtung zu geben (Desillusion) im Falle eines Bildungsromans – oder zu scheitern bzw. neutral auszugehen aus Sicht des Betrachters im Erziehungsroman oder Entwicklungsroman.
Beispiele
Zu den Entwicklungsromanen zählen:
- Parzival (Wolfram von Eschenbach, Anfang 13. Jahrhundert)
- Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (Grimmelshausen, 1668)
- Geschichte des Agathon (Christoph Martin Wieland, 1766/67)
- Anton Reiser (Karl Philipp Moritz, 1785-90)
- Wilhelm Meisters Lehrjahre (Johann Wolfgang von Goethe, 1795/96)
- Ahnung und Gegenwart (Joseph von Eichendorff, 1815)
- Vittoria Accorombona (Ludwig Tieck, 1840)
- Der grüne Heinrich (Gottfried Keller, 1854/55)
- Der Nachsommer (Adalbert Stifter, 1857)
- Der Hungerpastor (Wilhelm Raabe, 1864)
- Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (Robert Musil, 1906)
- Demian (Hermann Hesse, 1919)
- Siddhartha (Hermann Hesse, 1922)
- Der Zauberberg (Thomas Mann, 1924)
- Der Junge Tobias (Karl Scheffler, 1927)
- Boëtius von Orlamünde (Ernst Weiß, 1928)
- Das Glasperlenspiel (Hermann Hesse, 1931-1943)
- Die Morgenlandfahrt (Hermann Hesse, Erzählung, 1932)
- Der arme Verschwender (Ernst Weiß, 1936)
- Transit (Anna Seghers, 1944)
- Die Blechtrommel (Günter Grass, 1959)
- Gefangen in New York (Ben Bova, 1976)
- Der Fliegenfänger (Willy Russell, 2000)
Seit dem 19. Jahrhundert werden Entwicklungs„romane“ häufig auch speziell für junge Leser geschrieben. Beispiele:
- Little Women (Louisa May Alcott, 1868/69)
- Anne of Green Gables (Lucy Maud Montgomery, 1908)
- Familien-Spiel (Anne Fine, 1995)
- Bloß (k)eine Heirat (Bali Rai, 2001)
- Harry Potter (Joanne K. Rowling, 1997-2007)
Literatur
- Heinz Hillmann, Peter Hühn: Der Entwicklungsroman in Europa und Übersee. Literarische Lebensentwürfe der Neuzeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, ISBN 3-534-15055-4.
- Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht. Metzler, Stuttgart 1969.
- Herbert Tiefenbacher: Textstrukturen des Entwicklungs- und Bildungsromans. Zur Handlungs- und Erzählstruktur ausgewählter Romane zwischen Naturalismus und Erstem Weltkrieg. Forum Academicum in der Verlagsgruppe Athenäum u. a., Königstein/Ts. u. a. 1982, ISBN 3-445-02235-6 (Hochschulschriften, Literaturwissenschaft 54).
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