Explosion der Feuerwerksfabrik von Enschede

Explosion der Feuerwerksfabrik von Enschede
Schwarze Rauchwolken über Enschede nach der Explosion der Feuerwerksfabrik

Die Explosion der Feuerwerksfabrik von Enschede am 13. Mai 2000 in der niederländischen Stadt Enschede kostete 23 Menschen das Leben, 947 Personen wurden verletzt und ein ganzes Stadtviertel zerstört.

Inhaltsverzeichnis

Verlauf

Gegen 15 Uhr erreichte die Feuerwehr ein erster Notruf über ein Feuer auf dem Gelände der Feuerwerksfabrik S.E. Fireworks im nördlich des Enscheder Stadtzentrums gelegenen Stadtteil Roombeek.[1] Zur Bekämpfung des Brandes waren zunächst zwölf Feuerwehrleute mit einem Tanklöschfahrzeug und einer Drehleiter im Einsatz,[2] die rasch im Glauben waren, den Brand kurzfristig unter Kontrolle bringen zu können. Da bereits zu diesem Zeitpunkt Feuerwerksraketen in Brand gerieten, in den Himmel schossen und dort explodierten, drängten sich (auch begünstigt durch die Tatsache, dass es sich um einen hochsommerlichen Samstagnachmittag handelte) zahlreiche Schaulustige auf den Straßen, um das ungewöhnliche Schauspiel zu beobachten. Dementsprechend wurde die Szenerie auch von einigen Videofilmern festgehalten.

Gegen 15:30 Uhr kam es auf dem Gelände schließlich zu einer Reihe schwerer Explosionen, die durch in Brand geratene und mit eingelagerten Feuerwerkskörpern gefüllte Container verursacht wurden. Bei den beiden Hauptexplosionen, die im Abstand von circa 60 Sekunden erfolgten, detonierten wahrscheinlich größere Mengen illegal gelagerter sog. Salutbomben, die bei einem Großfeuerwerk reine Blitz- und Detonationseffekte erzielen sollen. Dazu sind sie an Stelle von Schwarzpulver mit Blitzknallsatz (BKS) gefüllt, der eine erheblich größere Sprengkraft besitzt. Die erste Explosion hatte das Äquivalent von ca. 800 kg TNT, die zweite, viel größere das von 4.000 bis 5.000 kg. Die vor allem durch die zweite Explosion verursachte Druckwelle war derart stark, dass die aus Stahlbeton konstruierten Gebäude rund um den Explosionsherd bis auf die Grundmauern zerstört wurden, im Umkreis von 1,5 km Entfernung Fensterscheiben zersprangen und Trümmer bis zu 800 m weit flogen. Der Druck der Explosion konnte noch in 60 km Entfernung wahrgenommen werden; die Rauchsäule über Enschede war in bis zu 50 km Entfernung sichtbar.[3] Auch die Infraschall-Messanlagen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe im Bayrischen Wald in rund 625 km Entfernung zu Enschede (IS26) registrierten die Explosionen.[4]

Insgesamt explodierten 177 Tonnen Feuerwerkskörper.[5] Zusätzliche Schadwirkung wurde durch umherfliegende Feuerwerkskörper erzeugt, die in die Dächer der umliegenden Häuser einschlugen und diese nachfolgend in Brand setzten. Die benachbarte Brauerei Grolsch brannte ebenfalls in voller Ausdehnung. Das dortige Feuer konnte aber noch gelöscht werden bevor es die Kältemittelanlagen erreichte, was die Freisetzung von mehreren Tonnen giftigen Ammoniaks verursacht hätte. Insgesamt war ein Gebiet von rund 5 km² von den Schäden betroffen.[6][7]

Beim Rettungseinsatz in Enschede unterstützen Rettungsdienst und Feuerwehren aus dem Kreis Borken und anderen Kommunen die niederländischen Kräfte. Allein aus Deutschland waren 200 Einsatzkräfte mit 40 Fahrzeugen sowie acht Rettungshubschrauber im Einsatz.[5]

Zeitachse (GMT +1)

Ereignis Zeitpunkt
Auslösung der Brandmeldeanlage 15:01
Erste Meldung des Feuers durch Passanten 15:02
Das erste Löschfahrzeug erreicht mit vier Mann Besatzung den Einsatzort 15:08
Der erste Rettungswagen trifft am Einsatzort ein 15:16
Das Feuer gilt als unter Kontrolle 15:27
Erster Feuerwerkscontainer explodiert und löst eine Kettenreaktion aus 15:33
Erste große Explosion 15:34
Letzte, verheerende Explosion 15:35
Katastrophenplan tritt in Kraft 16:50

Folgen

Denkmal der Feuerwehrleute

Durch die Wirkung der Druckwelle und durch umherfliegende Trümmerteile kamen 23 Menschen ums Leben, darunter auch vier Feuerwehrleute. 947 Personen wurden verletzt.[8]

Über 200 Wohnhäuser/Wohnungen wurden vollständig zerstört und rund 300 für unbewohnbar erklärt;[9] insgesamt wurden rund 1500 Wohnhäuser beschädigt. Als Folge der Zerstörungen wurden 1250 Personen zunächst obdachlos. Der Versicherungsschaden belief sich auf geschätzte eine Milliarde Gulden (rund 454 Millionen Euro).

Die Brauerei Grolsch siedelte sich mit einem Neubau am Stadtrand von Enschede neu an.[10]

Strafrechtliche Aufarbeitung

Am 4. März 2002 begann der Prozess wegen fahrlässiger Tötung sowie Verletzung von Umwelt- und Sicherheitsbestimmungen gegen zwei Manager der Feuerwerksfabrik vor dem Gericht (niederländisch: Rechtbank) in Almelo.[11] Am 2. April 2002 erging gegen beide ein Freispruch in Bezug auf die Fahrlässige Tötung, aufgrund der Nichteinhaltung von Sicherheitsbestimmungen wurden sie aber zu je sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.[12][13] Die Fabrik besaß zum Beispiel nur eine Lizenz zur Lagerung und Herstellung von Feuerwerk bis zur Gefahrgutklasse 1.3g. Bei einer zur Zeit des Unglücks noch auf See befindlichen Lieferung von Großfeuerwerk aus China wurde jedoch festgestellt, dass die Firma diese Bestimmungen bewusst umgangen hatte. Die Artikel waren als Klasse 1.4g und 1.3g deklariert, waren jedoch mit komplett anderem Material gefüllt worden und wurden nach Tests als Klasse 1.2 und 1.1 (Massenexplosionsfähig) eingestuft. Des Weiteren wurden Lagermengen überschritten und elektrische Anlagen nicht vorschriftsmäßig instandgesetzt.

In zweiter Instanz vor dem Berufungsgericht (niederländisch: Gerechtshof) in Arnheim wurden beide Angeklagten am 12. Mai 2003 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt.[14] Einer der Angeklagten legte hiergegen Revision (rechtlich korrekt: Kassation; niederländisch: cassatie) vor dem Hohen Rat der Niederlande (niederländisch: Hoge Raad der Nederlanden) in Den Haag ein, die allerdings am 1. Februar 2005 zurückgewiesen wurde.[15]

Am 22. August 2002 wurde der der Brandstiftung verdächtigte André de Vries von der Rechtbank Almelo zunächst zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.[16][17] In zweiter Instanz wurde de Vries jedoch aus Mangel an Beweisen vom Gerechtshof Arnheim am 12. Mai 2003 freigesprochen.[18] Im Nachhinein klagte de Vries gegen den Niederländischen Staat auf Haftentschädigung in Höhe von einer Million Euro.[19] Der Gerechtshof Arnheim sprach ihm in dieser Sache am 3. Mai 2004 Schadensersatz in Höhe von 125.000 € zu.[20]

Rechtliche Verschärfungen

Schon kurze Zeit nach dem Unglück von Enschede wurde auf europäischer Ebene angeregt, die Bestimmungen für den Umgang und die Lagerung von Sprengstoff zu verschärfen.[21] Diese Diskussionen, ebenso wie Erkenntnisse aus weiteren Unglücksfällen,[22] mündeten dann in der Änderung der Richtlinie 96/82/EG (Seveso-II-Richtlinie), die zum 31. Dezember 2003 in Kraft getreten ist.

Ebenfalls als Konsequenz aus den Geschehnissen in Enschede[23] wurde im Frühjahr 2002 in Deutschland begonnen, über Änderungen des deutschen Sprengstoffrechts zu diskutieren.[24] Das 2. SprengÄndG trat am 5. September 2002 in Kraft.

Verbesserung des Katastrophenschutzes

Um für zukünftige Unglücksfälle ähnlichen Ausmaßes gewappnet zu sein, wurden im Grenzgebiet zahlreiche Verbesserungen am gemeinsamen Katastrophenschutz vorgenommen. Kernelement ist dabei ein grenzüberschreitender Gefahrenabwehrplan, an dem die deutschen Landkreise Grafschaft Bentheim und Borken sowie die niederländischen Regionen Twente und Achterhoek beteiligt sind und der von der Euregio gefördert wurde.[25] Wesentliche Inhalte sind z. B. Regelungen über die Einsatzleitung, Kommunikation und Versorgung von Einsatzkräften sowie gemeinsamer Standards bei Alarmierung und Technik.[26]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. vgl. Helmut Hetzel: Die Katastrophe von Enschede: Zu Angst und Trauer kommt jetzt auch die Wut auf die Stadt - Brandstiftung oder pure Schlamperei?, in: VDI Nachrichten vom 19. Mai 2000, S. 3.
  2. feuerwehrmagazin.de: Vor zehn Jahren: Katastrophe in Enschede, abgerufen am 11. Mai 2011.
  3. Spiegel Online: Mindestens 20 Tote bei Explosion in Feuerwerksfabrik, abgerufen am 11. Mai 2011.
  4. Homepage der BGR: Besondere Ereignisse - Explosion in Enschede, abgerufen am 7. Juli 2011.
  5. a b http://www.ad-hoc-news.de/vor-zehn-jahren-starben-22-menschen-bei-explosion-in--/de/News/21286180, abgerufen am 11. Mai 2011.
  6. Die Brandkatastrophe in Enschede. In: abenteuerwissen.zdf.de.
  7. Kongressheft Präklinische Unfallchirurgie 2002.
  8. FR Online: Riesenexplosion durch Miniknaller, abgerufen am 11. Mai 2011.
  9. Dietrich Eckhardt, Lutz Kuhrt, Hans-Jochen Rodner: schadenprisma.de: Enschede - Ursachen und Folgen der Feuerwerkskatastrophe, abgerufen am 11. Mai 2011.
  10. Felix Holland: Zielpublikum aufgeschlossene Leute. Grolsch definiert Abnehmer von Internationalen Bieren - Deutschlandexport ausgeweitet, in: Lebensmittel Zeitung vom 14. September 2001, S. 77.
  11. beck-aktuell vom 4. März 2002: Prozess um Katastrophe von Enschede begonnen - Anklage bestätigt, abgerufen am 11. Mai 2011.
  12. http://www.dw-world.de/dw/article/0,,489010,00.html, abgerufen am 11. Mai 2011.
  13. Urteile der Rechtsbank Almelo vom 2. April 2002, LJN: AE0934 und LJN: AE0935
  14. Urteile des Gerechtshof Arnheim vom 12. Mai 2003, LJN: AF8393 und LJN: AF8394.
  15. Urteil des Hoge Raads vom 1. Februar 2005, LJN: AP8469.
  16. Handelsblatt: 15 Jahre Gefängnis für Brandstifter von Enschede, abgerufen am 11. Mai 2011.
  17. Urteil der Rechtbank Almelo vom 22. August 2002, LJN: AE6814.
  18. Urteil des Gerechtshof Arnheim vom 12. Mai 2003, LJN: AF8395.
  19. Grafschafter Nachrichten vom 6. April 2004: Ex-Verurteilter de Vries will Schadenersatz.
  20. Urteil des Gerechtshof Arnheim vom 3. Mai 2004, LJN: AO8765.
  21. Ottmar Philipp: Verschärfung der Seveso-Richtlinie, in: EuZW 2002, 579.
  22. vgl. Entscheidungsgründe Nr. 2 und 5 der Änderungs-Richtlinie 2003/105/EG, online verfügbar bei EUR-Lex.
  23. vgl. Gesetzesbegründung zum Entwurf des 2. SprengÄndG, BT-Drs. 14/8771, S. 1.
  24. beck-aktuell vom 22. April 2002: Bundesregierung will Sprengstoffrecht an EU-Vorgaben anpassen, abgerufen am 11. Mai 2011.
  25. Homepage der Euregio: Grenzüberschreitender Gefahrenabwehrplan, abgerufen am 11. Mai 2011.
  26. Grafschafter Nachrichten vom 22. Januar 2005: Hilfe über Grenze hinweg soll freie Bahn haben.
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