Faserland

Faserland

Faserland ist der 1995 erschienene Debütroman des 1966 geborenen Schweizer Schriftstellers Christian Kracht. Von der Kritik zunächst eher zurückhaltend aufgenommen, zählt der Roman heute zu den bekanntesten deutschsprachigen literarischen Texten der 90er Jahre.

Faserland wurde bislang (Stand: 2010) ins Russische, Japanische, Hebräische, Lettische[1] und Litauische übersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Der Roman erzählt die Geschichte einer Reise. Der Ich-Erzähler ist ein namenloser Endzwanziger und der Sohn einer reichen Familie, der von Nord nach Süd durch Deutschland und weiter in die Schweiz fährt bzw. fliegt. Dabei ist er mehr unfreiwilliger Zuschauer als Teilnehmer der geschilderten Ereignisse. Von Sylt aus erreicht er nach Aufenthalten in Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meersburg am Bodensee schließlich Zürich. An jedem dieser Orte erlebt er exzessive Alkohol-, Drogen- und Sex-Partys, die von den Teilnehmenden nicht mehr als positive Erlebnisse erfahren werden, sondern lediglich Ausdruck ihrer Hoffnungslosigkeit sind. Der Protagonist beobachtet die Dekadenz seiner Generation – am ausführlichsten veranschaulicht am Beispiel eines wohlhabenden Jugendfreundes, der in der Villa seiner Eltern am Bodensee eine Luxusparty veranstaltet und anschließend Selbstmord begeht – und registriert, während er gleichzeitig eigene unglückliche Kindheitserinnerungen reflektiert, auch seinen persönlichen Niedergang.

Seine Reise, die als Sinnsuche oder langer Abschied interpretiert werden kann, endet am Zürichsee offen: Anspielungen auf die griechische Mythologie (Charon, Obolus, Hades) ergänzen dabei intertextuelle Verweise auf C.F. Meyer, Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode "Der Zürchersee" oder auch Goethes Gedicht "Ein Gleiches".[2] Ob die nächtliche Fahrt des Protagonisten auf den See hinaus dabei als Vorlauf zum Freitod zu deuten ist, ob sie eher eine frühe Variation des für Krachts Werk typischen Motivs des Verschwindens ist, oder ganz anders zu deuten ist, bleibt dem Urteil des Leser überlassen.

Rezeption

Faserland wurde bei seinem Erscheinen in den deutschsprachigen Feuilletons breit rezipiert[3], zunächst aber eher zurückhaltend besprochen: Martin Halter etwa notierte im Zürcher Tages-Anzeiger: "Da schreibt ein widerlich arroganter Schnösel, der sein "Zeitgeist"-Dandytum schon für Literatur hält und seine banalen Reisenotizen für erbarmunglos scharfe Beobachtungen".[4] Früh wurden Vergleiche des Buchs mit den Werken vor allem der angloamerikanischen Literatur gezogen, etwa zu "Jay McInerney oder Bret Easton Ellis".[5]
Wenige Jahre nach seinem Erscheinen wurde Faserland zudem nachhaltig mit Blick auf seinen möglichen Beitrag zu der sogenannten zweiten deutschen Popliteratur diskutiert.[6] Moritz Baßler beispielsweise schlug vor, Faserland als "Gründungsphänomen" des "Literatur-Pop" zu deuten.[7] Die Entwicklung von Krachts weiterem literarischem Werk hat allerdings gezeigt, dass dem Werk mit der Kategorie der Pop-Literatur nicht angemessen zu begegnen ist. Hubert Spiegel notierte bereits zu Krachts zweitem Roman, der sich mit den Schemata der Pop-Literatur nicht mehr fassen ließ, mit "1979" sei "die kurze Scheinblüte der deutschen Popliteratur [...] an ihrem vorläufigen Ende angelangt".[8] Feuilletons und Literaturwissenschaft sind sich inzwischen einig, dass Kracht zur Tradition der Pop-Literatur mindestens ein "verzwickte[s]" Verhältnis hat[9] und dass die Komplexität des Werkes nach vielschichtigeren Deutungsansätzen verlangt, als die versuchte Engführung auf die popliterarische Tradition sie anbietet. [10]

„Kracht erzählt in ›Faserland‹ vom Ende einer Welt, noch bevor der sogenannte Mainstream überhaupt erkannt hatte, daß es diese Welt gab, geschweige denn, daß sie schon wieder vorbei war. Krachts Kunst ist, die Zeitnähe seiner Erzählung mit einem Gefühl von existentieller Verlassenheit zu verbinden.“

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Die Präzision der Wahrnehmung in einer Welt, die nur noch aus Markenartikeln besteht, diese Hellwachheit in der Leere, die Verdammnis zu kollektiven Banalitäten und das feine Unterscheidungsgefühl dabei – das habe ich noch nirgendwo so glasklar dargestellt gefunden.“

Gregor von Rezzori

Interpretation

Innokentij Kreknin behauptet, bei Faserland handele es sich nicht um einen autobiografischen Bericht, sondern „vielmehr um stilistisch hervorragend umgesetzte Rollenprosa“.[11] Für die Interpretation des Romans sind mehrere Ansätze vorgeschlagen worden: Kracht sei es gelungen, „die Kommunikationsunfähigkeit nicht nur des Helden, sondern seiner Schicht- und Generationsgenossen überhaupt“ darzustellen.[12] Er habe, so eine andere Deutung, „eine Identifikationsfigur für große Teile einer ganzen Generation geschaffen“.[13]

Fabian Lettow deutet den Roman als Darstellung einer Identitätskrise: „Faserland beschreibt die Suche nach einer modernen Identität, welche an den äußeren Umständen eines [...] postmodernen Raumes, in dessen Koordinaten sich der Protagonist des Romans bewegt, scheitert. Dieses Scheitern einer modernen, d. h. vor allem einheitlichen Identitätsstiftung bildet die Folie für den in den weiteren Schriften Krachts auszumachenden Selbstentwurf, der im Sinne einer ‚Bastelexistenz‘ eine im ästhetischen Diskurs konstituierte ‚Identität im Übergang‘ beschreibt.“[14]

Zu den besonderen Leistungen des Romans wird die „enorme Kunstfertigkeit“ seiner Sprache gezählt, „der es vor allem um Eingängigkeit geht, um Rhythmus, um Leichtigkeit“[15], oder auch, dass mit dem Roman „ein bestimmter Detailrealismus und die Abbildung der bundesrepublikanischen Realität einer wahlweise X, Y @ oder Golf genannten Generation prominenteren Einlaß in die Literatur gefunden“ habe[16]. – Zu einer Reihe von Einzelaspekten des Romans liegen inzwischen differenzierte Analysen vor, etwa zur Bedeutung der Schweiz für Faserland[17] oder zur Struktur augenfälliger intertextueller Referenzen.[18]

Literatur

  • Anke S. Biendarra: „Der Erzähler als ‚Popmoderner Flaneur‘ in Christian Krachts Roman Faserland“, in: German Life and Letters 55, 2002, S. 164-179.
  • Stefan Beuse: 154 schöne weiße leere Blätter. Christian Krachts "Faserland", in: Der deutsche Roman der Gegenwart. Hrsg. v. Freund/ Freund. München: Fink, 2001, S. 150-155
  • Frank Finlay: ,„‚Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarauen‘: Surface, Superficiality and Globalisation in Christian Kracht’s Faserland“, in: German Literature in the Age of Globalisation. Hrsg. v. Stuart Taberner. Birmingham: University of Birmingham Press, 2004, S. 189-208.
  • Meike Krüger: Spuren des kollektiven Gedächtnisses im Roman Faserland von Christian Kracht. Växjö: Scripta Minora, 2006. pdf (0,3 MB)
  • Christian Steltz: Wie schreibt man sich in die Geschichte ein? Eine gattungspoetische Betrachtung von Christian Krachts Romandebüt "Faserland", in: Lebensentwürfe. Literatur- und filmwissenschaftliche Anmerkungen. Hrsg. v. Corinna Schlicht. (= Autoren im Kontext, Band 7) Oberhausen: Karl Maria Laufen, 2005, S. 33-48
  • Martin Brinkmann: Unbehagliche Welten. Wirklichkeitserfahrungen in der neuen deutschsprachigen Literatur, dargestellt anhand von Christian Krachts „Faserland“ (1995), Elke Naters „Königinnen“ (1998), Xaver Bayers „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“ (2001) und Wolfgang Schömels „Die Schnecke. Überwiegend neurotische Geschichten“ (2002). In: Weimarer Beiträge 53 (2007), H. 1, S. 17-46
  • Claude Conter und Johannes Birgfeld (Hrsg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009, 280 S.
  • Marco Borth: Christian Krachts Faserland an den Grenzen der Erlebnisgesellschaft, in: Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis der Verausgabung. Hrsg. v. Bähr, Bauschmid, Lenz, Ruf. Bielefeld: Transcript-Verlag, 2009.
  • Lothar Bluhm: Zwischen Auslöschung und Salvierung. Intertextuelle Ambivalenzen im Romanausgang von Christian Krachts 'Faserland'. In: Produktive Rezeption. Beiträge zur Literatur und Kunst im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Lothar Bluhm und Achim Hölter. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2010, S. 91-104.
  • Möckel, Magret: Christian Kracht: Faserland. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 457). Hollfeld: Bange Verlag, 2. Aufl. 2010.
  • Iris Meinen: Wertherland. Krachts Faserland in der Tradition des Werther. In: „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Hrsg. v. Helga Arend. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2010. ISBN 978-3-89528-814-2

Einzelnachweise

  1. http://www.satori.lv/autors/107/Kristians_Krahts
  2. Vgl. dazu etwa: Oliver Jahraus: Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente. In: Birgfeld/Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. München: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 13-23, hier S. 18
  3. Besprechungen erschienen etwa in der FAZ (22. Mai 1995), der ZEIT (7. April 1995], dem Zürcher Tages-Anzeiger (29. April 1995), der Wiener Presse (17./18. Juni 1995), der Neuen Zürcher Zeitung (4./5. März 1995), der taz (23. März 1995), der Süddeutschen Zeitung (6. April 1995) sowie in fast allen größeren regionalen Zeitungen (Hamburger Abendblatt am 16. Mai 1995, Berliner Zeitung am 23. März 1995 etc.
  4. Vgl. Martin Halter in: Tages-Anzeiger, Zürich, vom 29. April 1995.
  5. Vgl. Hajo Steinerts Rezension von Faserland "Dandy, Schnösel oder Ekel" in: Die Weltwoche vom 30. März 1995.
  6. Zur Debatte um eine Unterscheidung zwischen "Pop 1" und "Pop 2" vgl. etwa Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil-Verlag 2001.
  7. Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C.H. Beck 2002, S. 110.
  8. Vgl. Hubert Spiegel: Wir sehen und mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Blick auf die Oberfläche reicht nicht mehr: Aus Christian Krachts Roman "1979" spricht der Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens. In: FAZ, 9. Oktober 2001.
  9. Vgl. dazu ausführlich Christoph Rauen: Schmutzige Unterhose wird sauberer büstenhalter. Zur "Überwindung" von Postmoderne und Pop bei Christian Kracht". In: Birgfeld/Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. München: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 116-130.
  10. Vgl. dazu auch: Innokentij Kreknin: Spaßausfall im Spiegelsaal. Christian Kracht und einige Korrekturen am überalterten Diskurs Popliteratur. In: Zonic No 14-17, 2009, S. 140-145.
  11. Siehe: Innokentij Kreknin: Spaßausfall im Spiegelsaal. Christian Kracht und einige Korrekturen am überalterten Diskurs Popliteratur. In: Zonic No 14-17, 2009, S. 140-145, hier S. 142.
  12. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C.H. Beck 2002, S. 113.
  13. Stefan Beuse: 154 schöne weiße leere Blätter. Christian Krachts "Faserland". In: Wieland Freund/Winfried Freund (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München: Fink 2001, S. 150-155, hier S. 151.
  14. Fabian Lettow: Der postmoderne Dandy – die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärererischem Sendungsbewusstsein. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800-2000. Ich-Identitäten als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001, S. 285-305, hier S. 286.
  15. Stefan Beuse: 154 schöne weiße leere Blätter. Christian Krachts "Faserland". In: Wieland Freund/Winfried Freund (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München: Fink 2001, S. 150-155, hier S. 154.
  16. Anke S. Biendarra: Der Erzähler als ‚Popmoderner Flaneur‘ in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters 55, 2002, S. 164-179, hier S. 164.
  17. Vgl. Patrick Bühler/Franka Marquardt: Das „große Nivellier-Land“? Die Schweiz in Christian Krachts Faserland. In: Birgfeld/Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. München: Kiepenheuer & Witsch, 2009, S. 76-91.
  18. Vgl. Lothar Bluhm: Zwischen Auslöschung und Salvierung. Intertextuelle Ambivalenzen im Romanausgang von Christian Krachts 'Faserland': In: Lothar Bluhm/Achim Hölter (Hrsg.): Produktive Rezeption. Beiträge zur Literatur und Kunst im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Trier: WVT, 2010, S. 91-104.

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