Galante Musik

Galante Musik
André Campra, L'Europe galante zweite Auflage (1698)

Galante Musik ist zum einen Musik, die nach Stilempfinden des 17. und 18. Jahrhunderts Moden des Galanten Rechnung trägt. Der Begriff fand zum anderen eine Verengung in der Musikwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts: Im Vordergrund stehen dabei Kompositionen, denen eine Abkehr vom Barock in seiner eher rhetorischen Formensprache attestiert werden kann, die gleichzeitig jedoch noch nur bedingt der Frühklassik beigemessene Qualitäten aufweisen. Der galante Stil lässt sich an dieser Stelle als Schritt auf den formal freieren empfindsamen Stil sehen, der die Frühklassik vorbereitete.

Inhaltsverzeichnis

Urteilsmuster des 17. und 18. Jahrhunderts

Striptease zu Musik aus Der spanische, teutsche, und niederländische Krieg oder: des Marquis von ... curieuser Lebens-Lauff, Bd. 2 (Franckfurt/ Leipzig, 1720), 238.

Der originär auf Conduite, ein spezifisches (ritterliches) Verhalten bezogene Begriff ließ sich im 17. Jahrhundert nur bedingt auf Musik anwenden. Im Blick auf galante Sujets ist das Wort in mehreren Kompositionen ausdrücklich mit Musik verbunden so in André Campras L'Europe galante (1697) wie in Jean-Philippe Rameaus Les Indes galantes (1735). Beide Kompositionen feiern die Übereinkunft Europas respektive der Welt im Galanten. Europa huldigt, so die Insinuation von „L'Europe galante“ allerorten dem Ideal. Die Liebe bestimmt selbst die Menschen Indiens als Lebensbereich, der Verfeinerung und Zivilisation hervorbringt; das feiert Rameaus Ballett.

Von galanter Musik wird im 17. Jahrhundert vor allem in Geschmacksurteilen gesprochen, und diese beziehen sich breitgefächert auf Handlungen, die Darbietung wie Kunst der Komposition. Opern mit Liebeshandlung sind per se galant, sobald man sie etwa gegen geistliche Musik verteidigt. Liebeslieder sind noch klarer in ihrer Interaktion wie in ihrer Verbindung mit galanter Poesie galant. Die Interaktion einer Sängerin mit dem Publikum, kann für das Geschmacksurteil sorgen. Kompositionsstrukturen sind damit anfänglich jedoch nur bedingt abgebildet. Die großen Hauptstile sind italienisch, französisch oder gemischt respektive deutsch. Das Wort Galant steht gegenüber diesen Einordnungen eher frei zur Verfügung, um eine momentane Wirkung zu bezeichnen. Wie in der Poesiekritik kommt es im ausgehenden 17. Jahrhundert zunehmend für alle Kleinformen als Würdigung in Frage. Es steht dabei zumeist für das „Nette“ und angenehm Überraschende der ansonsten gezielt einfachen Komposition, die sich mit anderen Adjektiven gar nicht in ihrem intimen Genuss würdigen ließe.

Louis Fuzelier und Jean-Philippe Rameau, Les Indes Galantes (1735/36)

Zudem werden Kompositionen, bei denen Formvollendung nicht im Vordergrund steht, im späten 17. Jahrhundert zunehmend als galant bezeichnet. Ein Musikstück ist galant, wenn es dem Publikum Freiheit im Urteil und in der Assoziation lässt. Musik, die sich zum Divertissement eignet und als Hintergrundmusik arrangierte Kompositionen gewinnen häufig das Attribut. Campras L'Europe galante und Rameaus Les Indes galantes teilen im selben Moment Kompositionsaspekte mit den Kleinformen: Bezeichnend ist für sie stilistische Vielfalt, Tanzbarkeit, Aufführbarkeit im Rahmen einer galanten Festlichkeit Interaktion, der Blick auf das Detail der einzelnen zusammengefügten Stücke. Vergleichbare Arrangements von galanten Detailstudien bieten die Sammlungen Michel-Richard Delalandes, François Couperins und Marin Marais', die im frühen 18. Jahrhundert kleine Musikstücke zu bunten Themensträußen zusammenfügen. Auf der Suche nach etwas Charakteristischem, das gleichzeitig nicht abstoßen darf, nach Musik für den Moment einer überraschenden Empfindung, die gleichzeitig nicht verstören darf, die allenfalls spielerisch mit Erwartungen umgeht, entstehen hier eigene Kompositionen, die Zeitgenossen als galant einstufen. Wie bei galanter Poesie und Erzählkunst wird der „nette Einfall“ mit dem Wort gewürdigt, wie der Verzicht auf Pedanterie, die Freiheit, die „geschmackvoll“ und „elegant“ genutzt wird.

Galanter Stil

Aus den vagen Würdigungen kurzer und überraschender Effekte und freierer Verwendung der Formen entwickelt sich im frühen 18. Jahrhundert ein eigener Diskurs über den galanten Stil in der Musik. Autoren wie Johann Mattheson, Johann David Heinichen oder Johann Joachim Quantz führen ihn in kritischen Journalen, im Werken des Kompositionsunterrichts wie in Vorworten von Partiturdrucken. Ein wichtiges Definitionskriterium für den galanten Stil wird dabei der Verzicht auf strenge oder gebundenen Schreibart. Geschmacksurteile des frühen 18. Jahrhunderts finden damit Mitte des 18. Jahrhunderts eine theoretische Fundierung. War der Gesang eines Hirtenmädchens in einer Tafelmusik Delalandes zu Beginn des Jahrhunderts galant, da hier eine Darbieterin in einfacher Manier liebenswürdig galant auftrat, so lässt sich nun als Theorie behaupten, dass der galante Stil der Homophonie neuen Wert gibt, auf Kantabilität und Melodielinie achtet, und der Kontrapunktik wie den komplizierten Kompositionsmustern etwa der Fugen Johann Sebastian Bachs eine Absage erteilt. Konnte man im frühen 18. Jahrhundert Überraschungen als galante Momente rechtfertigen, so wird es mit der theoretischen Fixierung der Diskussion möglich, einzelne Dissonanzen für galant zu erklären. Mitte des 18. Jahrhunderts erfasst schließlich die Empfindsamkeitsdebatte das Galante. Wo bei Delalande, Couperin und Marais Möglichkeiten des Scherzes und des überraschenden indes „netten“ Gefühls gesucht wurden, geht es jetzt darum, grundlegend Freiheit für das Gefühl zu gewinnen. Der galante Stil wird nun als Gegenpol zu konventionalisierten, rhetorischeren Kompositionsformen des 17. Jahrhunderts definiert und weist in dieser Konfrontation am Ende in die Frühklassik. Komponisten wie Johann Sebastian Bach wird im selben Prozess die Positionierung im Galanten entzogen, ein Epochenbruch für das mittlere 18. Jahrhundert definiert.

Galanterie

Mit der Bereitschaft, das Adjektiv „galant“ in Anerkennung des angenehm überraschenden Moments, des interessanten und mit spielerischer Leichtigkeit erreichten Effekts zu benutzen, geht im Lauf des 18. Jahrhunderts ein spezielles Sprechen von „Galanterien“ einher. Mit ihnen bezeichnet man effektvolle Kleinkompositionen, die im Verlauf einer Suite etwa nach der festgelegten Folge der Tanzsätze nicht notwendig auftauchen müssten, jedoch zur Überraschung wie zum Divertissement eingebaut werden. Der Artikel zu den Bach'schen Suiten für Violoncello solo bietet hier das charakteristische zeitgenössische Beispiel.

Literatur

  • Wilhelm Seidel: Artikel Galanter Stil. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. neubearbeitete Auflage. Sachteil Band 3. Bärenreiter, Kassel 1995, ISBN 3-7618-1104-7, Sp. 983–989.
  • Daniel Heartz: Music in European Capitals. The Galant Style, 1720–1780. Norton, New York NY u. a. 2003, ISBN 0-393-05080-7.
  • Mark A. Radice: The Nature of the „Style Galant“. Evidence from the Repertoire. In: The Musical Quarterly Vol. 83, No. 4 (Winter, 1999), ISSN 0027-4631, S. 607–647.
  • David A. Sheldon: The Galant Style Revisited and Re-Evaluated. In: Acta Musicologica 47, 1975, ISSN 0001-6241, S. 240–270.

Weblinks


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