- Kontrapunkt
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Kontrapunkt (von lat. punctus contra punctum = „Note gegen Note“) ist ein musiktheoretischer Begriff mit mehrfacher Bedeutung.
In seiner einfachsten Bedeutung steht er zunächst für „Gegenstimme“ und bezeichnet eine Tonfolge, die gleichzeitig mit einer gegebenen Melodie erklingt. So nennt man beispielsweise die Stimme, die in einer Fuge gleichzeitig mit dem Thema bzw. Soggetto erklingt, dessen Kontrapunkt.
Davon ausgehend bezeichnet der Begriff Kontrapunkt auch die Kunst bzw. Technik, Gegenstimmen zu gegebenen Tonfolgen zu erfinden, die sowohl einen vertikal (harmonisch) sinnvollen Zusammenklang ergeben als auch eine horizontal-lineare (melodisch) sinnvolle Eigenständigkeit aufweisen.
Der Kontrapunkt als Kompositionstechnik unterlag in der Musikgeschichte sich wandelnden Regeln, die von der wechselnden Bewertung von Konsonanzen und Dissonanzen abhingen. Eine wichtige Rolle spielt der Kontrapunkt in polyphoner Musik, in der die beteiligten Stimmen nach Gleichwertigkeit und Unabhängigkeit streben (im Gegensatz zur Homophonie, die von einer Hierarchie zwischen übergeordneter Melodie und untergeordneter Begleitung geprägt ist).
Da die Beherrschung kontrapunktischer Gesetze für die Komposition polyphoner Musik von großer Bedeutung ist, wird der Begriff Kontrapunkt in seiner umfassendsten Bedeutung auch häufig mit Polyphonie gleichgesetzt.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Als der Name Contrapunctus im 14. Jahrhundert aufkam, war die Kunst des mehrstimmigen Satzes schon sehr entwickelt; die als Regulae de contrapuncto (Regeln des Kontrapunkts) betitelten theoretischen Traktate eines Johannes de Muris, Philippe de Vitry unter anderem bringen daher nichts eigentlich Neues, sondern sind Abhandlungen über die vorher Discantus genannte Schreibweise mit veränderter Terminologie. Sie gehen dabei vom „Note-gegen-Note“-Prinzip (punctus contra punctum oder nota contra notam) aus, das von Muris ausdrücklich als Grundlage der Mehrstimmigkeit (fundamentum discantus) bezeichnet wird.
Den ungleichen Kontrapunkt, bei dem sich verschieden große Notenwerte in den Stimmen gegenüberstehen, nennt Muris „Diminutio contrapuncti“ (eigentl.: „Verkleinerung des Kontrapunktes“, also: „verkleinerter Kontrapunkt“), eine Auffassung, die noch heute besteht.
Notenbeispiel nach Muris (Diminutio contrapuncti):
Die imitatorischen Formen des Kontrapunktes, bei denen die Themen beziehungsweise Motive des Musikstückes nacheinander in verschiedenen Stimmen auftreten, reichen zurück bis ins 13. Jahrhundert; Walter Odington (1228 Bischof von Canterbury) gibt vom Rondellus die Definition: „Wenn das, was einer singt, (dann) alle der Reihe nach vortragen“ (Si quod unus cantat, omnes per ordinem recitent, Coussemaker, Script. I, 245).
Die Kontrapunktisten des 15. und 16. Jahrhunderts bedienten sich ausgiebig der Imitation in komplexen Formen. Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich daraus die Fuge. Der strenge Kanon mit schneller Stimmenfolge ist eine besondere Form des Kontrapunkts, die Konstruktion seiner Melodie bedarf der besonderen Sorgfalt des Komponisten.
Der doppelte Kontrapunkt ist so angelegt, dass die beiden Stimmen vertauscht werden können (die obere Stimme wird zur unteren), ohne in Konflikt mit den zeitbedingt gültigen Regeln und Verboten in Bezug auf musikalische Intervalle und andere Faktoren zu geraten. Man unterscheidet den doppelten Kontrapunkt in der Oktave, in der Dezime und in der Duodezime, je nachdem, ob er für die Umkehrung durch Versetzung in die Oktave, Dezime oder Duodezime berechnet ist. Eine klare Darlegung der verschiedenen Arten des doppelten Kontrapunktes und des Kanons gibt schon Zarlino in seinen Istitutioni armoniche (1558).
Höhepunkte erlebte die kontrapunktische Satzweise in der Renaissance und später im Werk von Johann Sebastian Bach, Jan Dismas Zelenka, Johannes Brahms, Max Reger und in der Musik des 20. Jahrhunderts u. a. bei Anton Webern und Paul Hindemith; Moondog und Gentle Giant verwendeten sie fast in jeder Komposition.
Jedoch behielt der stylus gravis, wie etwa bei Giovanni Pierluigi da Palestrina, vor allem in der römisch-katholischen Kirchenmusik lange Zeit seine Bedeutung.
Im 19./20. Jahrhundert befasste sich besonders Ferruccio Busoni mit dem Kontrapunkt, und der große Kontrapunktiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der schon erwähnte Paul Hindemith.
Lehrbücher des Kontrapunktes im alten Stil (mit Zugrundelegung der Kirchentöne) sind die von Martini, Albrechtsberger, Cherubini, Fétis, Bellermann, Bußler, Fux u. a.; für diese ist die Harmonielehre nur ein Accidens, die Regeln sind im Grunde dieselben wie zu den Zeiten des Discantus, als man von Harmonie noch keinen klaren Begriff hatte (Intervallenlehre statt Harmonielehre).
Dagegen lehnen sich die Werke von Dehn (B. Scholz), Richter, Tiersch u. a. enger an die Harmonielehre an, bei ihnen ist die Harmonielehre die eigentliche Schule und der Kontrapunkt die Probe aufs Exempel, durch die der Schüler lernen muss, diesen instinktiv zu handhaben.
Stimmführungsregeln
Die wichtigsten Prinzipien des Kontrapunkts sind:
- die einzelnen Stimmen so zu führen, dass sie als selbstständige Objekte wahrgenommen werden können (dies geschieht in erster Linie durch asynchrone bzw. komplementäre Rhythmik)
- einen ausgeglichenen Wechsel zwischen stufenweiser Bewegung und Sprungbewegung anzustreben
- die drei Bewegungsarten Seiten-, Parallel- und Gegenbewegung in einer ausgewogenen Mischung zu verwenden
- Elemente, die zur Gruppenbildung neigen, z. B. Sequenzen, Tonwiederholungen, Dreiklangsschritte und Ähnliches sparsam einzusetzen oder ganz zu meiden
- die Harmonik des Satzes als Resultat der linearen Fortschreitung der Stimmen aufzufassen und nicht umgekehrt
Natürlich hat die Selbstständigkeit ihre Grenzen. Da das Ohr einen Zusammenklang mehrerer Töne, wie eine schnelle Folge von Tönen, nur dann versteht, wenn es sie zur Einheit der Bedeutung eines Klanges zusammenfasst, so wird die selbstständige Bewegung mehrerer Stimmen nur verständlich sein, wenn sie die Auffassung im Sinn derselben Harmonie zulässt.
Dass sich zum Beispiel nicht die eine Stimme in der As-Dur-Tonleiter, die andere aber in der G-Dur-Tonleiter bewegen kann, ist an sich verständlich. Doch ist es noch nicht genügend, dass die Fortschreitungen beider im Sinn desselben Klanges geschehen, sondern es muss auch die Stellung dieses Klanges zu anderen in beiden gleich aufgefasst sein.
In der klassischen Harmonielehre, die in ihren Ursprüngen auf die Vokalpolyphonie Palestrinas zurückgeht, werden unter anderem folgende Stimmführungsregeln aufgestellt.
Gebot der Gegenbewegung
Von den drei Möglichkeiten des Fortschreitens
sollen in den zusammen erklingenden Stimmen bei wechselnder Harmonie immer mindestens zwei gleichzeitig verwendet werden. Bewegt sich der Bass nach unten, ist die Bewegung der Oberstimme nach oben von Vorteil und umgekehrt. Schließen andere Gründe dies aus, sollte versucht werden, eine Gegenbewegung zwischen Bass und Mittelstimmen (im vierstimmigen Satz sind dies Alt und Tenor) zu erzeugen.
Parallelenverbot
Das gleichzeitige Fortschreiten um dasselbe Intervall zweier Stimmen, die einen Abstand einer Prime, reinen Quinte oder reinen Oktave haben, ist verboten, da es wegen der starken Verschmelzungstendenz dieser Intervalle die Unabhängigkeit der Stimmen gefährdet. Terzen und Sexten können allerdings parallel geführt werden, es sollte jedoch (je nach Stil) darauf geachtet werden, dass selten mehr als drei Terzen oder Sexten parallel geführt werden. Das beste Mittel, offene Parallelführungen zu vermeiden oder zu korrigieren, ist die Gegenbewegung der Stimmen.
Verdeckte Parallelen
Bewegen sich zwei Stimmen gleichzeitig in dieselbe Bewegungsrichtung und enden in einer Prime, Quinte oder Oktave, so sollen nach Möglichkeit nicht beide einen Sprung (Intervall einer Terz oder größer) machen, sondern eine einen Schritt (Sekunde). Dies ist besonders wichtig, wenn es sich nur um wenige, drei oder nur zwei Stimmen handelt. Von verdeckten Parallelen spricht man i. d. R. dann, wenn eine Unterstimme schrittweise geht und eine Oberstimme dazu in dieselbe Richtung in eine reine Quinte oder Oktave springt. Daher spricht man nicht von verdeckten Parallelen, wenn eine Unterstimme springt und eine Oberstimme dazu in dieselbe Richtung in eine Quinte oder Oktave mündet. Im doppelten Kontrapunkt allerdings (d. h. eine Unterstimme muss auch als Oberstimme funktionieren) sind beide Parallelführungen (vor allem in der Zweistimmigkeit) zu vermeiden.
Dahinter verbirgt sich der Umstand, dass immanente Töne (Partiale) dann parallel verlaufen würden, wenn man sie wirklich spielte. Der Eindruck der Parallelführung bleibt trotzdem bestehen. In diesem Beispiel sind dies:
Das C (verdeckte (immanente) Quinte des F-Dur-Klangs) das parallel zur Oberquinte D von G-Dur geführt würde, und das Cis (verdeckte (immanente) Großterz des A-Dur-Klangs) das parallel zur Oktave D geführt würde.
Diether de la Motte beschreibt in seinem Buch Harmonielehre, dass verdeckte Parallelen in der Praxis von allen großen Komponisten angewendet wurden. Es handelt sich also bei dem Verbot der verdeckten Parallelen um eine Spitzfindigkeit, die für die Praxis nicht relevant ist.
Antiparallelen
Von Antiparallelen spricht man, wenn Ausgangs- und Zielintervall (unter Berücksichtigung von Oktavversetzungen) gleich sind, die Bewegungen aber in unterschiedliche Richtungen gehen, z. B. der Bass von C nach G, der Alt von g' nach d'. Der Abstand zwischen den beiden Stimmen beträgt hier zuerst eine Duodezime plus Oktave, dann eine Duodezime. Auch Antiparallelen sind bei Quinte und Oktave zu vermeiden.
Dissonanzbehandlung
Dissonanzen, zum Beispiel Vorhalte, sollen eingeführt und aufgelöst werden. Dissonanzen als Vorhalt, Wechselnote (auch Drehnote) und Durchgang sind also erlaubt.
Einführung von Dissonanzen
Die Einführung einer Dissonanz geschieht dadurch, dass der später dissonante Ton zunächst in einem konsonanten Zusammenklang steht, bei Fortschreiten der übrigen Stimmen unverändert liegenbleibt und erst durch dieses Fortschreiten der übrigen Stimmen in dem neu entstehenden Klang dissonant wird.
Auflösung von Dissonanzen
Die Auflösung von Dissonanzen erfolgt grundsätzlich stufenweise (das heißt mit Sekundschritt). Ausnahme ist etwa der Chopin-Akkord, dessen dissonante Tredezime durch eine Terz zum Grundton aufgelöst wird.
Bestimmte Intervalle
- Die Terz der Dominante steigt zum Grundton der Tonika (bzw. im Trugschluss zur Terz der Tonikaparallele).
- Die kleine Septime des Dominantseptakkords löst sich abwärts in die Terz der Tonika (bzw. im Trugschluss zur Quinte der Tonikaparallele).
- Die kleine None des erweiterten Dominantseptakkords löst sich in die Quinte der Tonika, die große None ebenso oder in den Grundton.
- Die Sixte ajoutée der Subdominante bleibt liegen, wenn nach ihr die Dominante eintritt.
Mehrfacher Kontrapunkt
Lassen sich die Stimmen so vertauschen, dass jede Stimme sowohl Oberstimme, Mittelstimme als auch Unterstimme sein kann, ohne die jeweiligen kontrapunktischen Regeln zu verletzen, so spricht man vom mehrfachen Kontrapunkt. Sind nur zwei Stimmen vertauschbar, so nennt man dies doppelten Kontrapunkt (bei drei Stimmen dreifachen usw.). Dabei ist zu beachten, dass sich dabei die Intervalle umkehren, d. h. aus der Quinte wird eine Quarte, aus der Terz eine Sexte. Dies ist insofern von Bedeutung, als im doppelten Kontrapunkt beim Stimmentausch die Quinte zur Unterquarte wird und somit denselben Restriktionen wie die Quarte unterliegt.
Darüber hinaus unterscheidet man den doppelten Kontrapunkt der Oktave, bei der die beiden betreffenden Stimmen in der Oktavlage versetzt werden können, ohne dass unerlaubte Fortschreitungen entstehen, und den doppelten Kontrapunkt der Duodezime (Oktave+Quinte). Dabei passt die Gegenstimme sowohl in ihrer ursprünglichen Form (in der Oktave) als auch um eine Quinte transponiert (in der Duodezime) zum Thema. Beispiele dafür sind die Kyrie-Fuge in Mozarts Requiem KV 626 und einige Fugen aus Bachs „Kunst der Fuge“ BWV 1080. Die Intervallverhältnisse verändern sich nach dem Muster: Duodezime wird zur Prim, Undezime zur Sekund, Dezime zur Terz usw.
Wichtige musikalische Formen, die eine kontrapunktische Satztechnik voraussetzen, sind Kanon und Fuge.
Im musikalischen Satz insgesamt und insbesondere im Kontrapunkt wird die Quarte als dissonant aufgefasst. Die konsonanten Intervalle sind jeweils die große und kleine Terz und Sexte sowie die perfekt konsonanten Intervalle Quinte und Oktave.
Die Methoden und Satzregeln des Kontrapunktes stehen in Abhängigkeit zum Tonsystem, in der abendländischen Musik also den Kirchentonarten oder der Dur- und Molltonalität. Den Versuch einer Verschmelzung hat Hugo Riemann in seiner „Neuen Schule der Melodik“ (1883) gemacht.
Kontrasubjekt
Das Kontrasubjekt ist eine Form des Kontrapunktes, der eine Gegenstimme zum Thema einer Fuge darstellt und die Linienführung fortsetzt.
Im Gegensatz zum freien Kontrapunkt, der nur einmal innerhalb einer Fuge auftaucht, ist das Kontrasubjekt eine kontrapunktische Gegenstimme, die im späteren Verlauf der Fuge wiederholte Verwendung findet (=beibehaltener Gegensatz). Dabei sind kleinere Abweichungen erlaubt, solange Rhythmus, Bewegungsrichtung und entweder schrittweise oder sprungweises Vorgehen gleich bleiben.
Quellen
- Kontrapunkt. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 10, Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1892, S. 50.
- Brockhaus Riemann Musiklexikon, München 1979 (Ergänzungen)
- Knud Jeppesen, Kontrapunkt, Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie, Wiesbaden 1985
- Geschichte/Geschehen 5/6, 2006
Literatur
- Bellermann, Heinrich: Der Contrapunkt. Mit zahlreichen Notenbeispielen und 5 lith. Tafeln in Farbendruck. Berlin, Springer Verlag 1901, XVIII, 480 SW
- De la Motte, Diether: Kontrapunkt. Ein Lese- und Arbeitsbuch, München, dtv 2002, ISBN 3-423-30146-5
- Manicke, Dietrich: Der polyphone Satz, zwei Bände, Regensburg, Laaber Verlag 1965 bzw. 1979.
- Klaus-Jürgen Sachs: Der Contrapunctus im 14. und 15. Jahrhundert. Untersuchungen zum Terminus, zur Lehre und zu den Quellen. Stuttgart, Franz Steiner Verlag 1974, ISBN 3-515-01952-9
Weblinks
Wiktionary: Kontrapunkt – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
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