Suiten für Violoncello solo (Bach)

Suiten für Violoncello solo (Bach)
Die erste Seite von Anna Magdalena Bachs Abschrift (Prélude der Suite Nr. 1)

Die sechs Suiten für Violoncello solo (BWV 1007–1012) von Johann Sebastian Bach gehören zu den bedeutendsten und meistgespielten Solostücken für Streichinstrumente. Sie gelten als „oberster Prüfstein für jeden Cellisten“[1] und „Quintessenz von Bachs Werk“[2].

Inhaltsverzeichnis

Die Suiten

Suite I G-Dur BWV 1007
Suite II d-Moll BWV 1008
Suite III C-Dur BWV 1009
Suite IV Es-Dur BWV 1010
Suite V c-Moll BWV 1011
Suite VI D-Dur BWV 1012


Besonderheiten

Bei der fünften Suite ist die a-Saite auf g heruntergestimmt (Skordatur). Diese Stimmung war in Bologna, wo das Violoncello nach 1650 „erfunden“ wurde, üblich und wurde nach 1700, als sich das Violoncello in Europa allmählich verbreitete, von der Quintenstimmung wieder abgelöst. Bach bezieht sich in dieser Suite offenbar auf diese „alte“ Stimmung

Diese Suite hat auch in anderer Hinsicht einen Sonderstatus: Es existiert eine zweite Version für Laute (BWV 995). Kopierfehler deuten darauf hin, dass beiden Versionen eine – verschollene - Urversion zugrunde liegt. Außerdem fällt die c-Moll-Suite unter mehreren Aspekten aus dem Rahmen, was die musikalische Machart betrifft. So verwendet sie als einzige der Suiten ein zweiteiliges Prélude, das aus einer langsamen Einleitung und einem Fugato im schnellen Dreiertakt besteht. Die Gigue sticht durch ihre markante punktierte Rhythmik deutlich hervor. Courante und Sarabande bewegen sich, was Stimmführung bzw. harmonisches Gerüst betrifft, am äußersten Rand dessen, was in Bachs Musiksprache noch möglich ist.

Die sechste Suite ist für ein fünfsaitiges Instrument mit zusätzlicher hoher e-Saite geschrieben. Es ist nicht sicher, ob dieses Instrument am Bein (Violoncellotyp) oder am Arm (Violentyp) gespielt wurde. Ob das Instrument identisch ist mit dem Violoncello piccolo, das Bach in einigen Leipziger Kantaten angibt, oder mit der Viola pomposa, die Bach erfunden haben soll, ist ebenfalls offen. Auch ist die sechste Suite die bei weitem anspruchsvollste, was das Akkordspiel betrifft. Heutzutage wird sie meist auf ganz normalen, viersaitigen Celli aufgeführt. Die Akkorde verlangen teilweise ungewöhnliche, sonst in der Celloliteratur nicht anzutreffende Grifftechniken.

Entstehung

Zur Entstehung ist wenig bekannt. Man geht davon aus, dass Bach die Cellosuiten in seiner Köthener Zeit um 1720 komponiert hat, vermutlich für die beiden am Hof von Leopold von Anhalt-Köthen amtierenden Gambisten und Cellisten Christian Ferdinand Abel und Christian Linike. Das Autograph gilt als verschollen, so dass als Quellen nur einige frühe Kopien zur Verfügung stehen. Die früheste stammt von Johann Peter Kellner. Allerdings gilt die Abschrift von Bachs Ehefrau Anna Magdalena inzwischen als die bedeutendste.

Auch aufgrund des Fehlens eines Urtextes finden sich in heutigen Ausgaben erhebliche Unterschiede, was Artikulation, Notation von Mehrklängen (als Akkord oder Vorschlag) und Verzierungen betrifft. Teilweise gibt es auch Abweichungen bei den Taktangaben (alla breve oder 4/4), und an einigen Punkten betreffen die Varianten sogar die Tonhöhe. So gibt es beispielsweise im Menuett II der 1. Suite eine Stelle (der letzte Ton in Takt 3), an der einige Ausgaben ein E fordern, andere ein Es. Es haben sich viele Herausgeber der Suiten sehr kritisch mit den vorhandenen Quellen auseinandergesetzt, so der polnische Cellist Kazimierz Wilkomirski in seiner Ausgabe von 1977, die auch eine frühe Handschrift der Suiten abbildet. Es könnte sich hierbei um die Abschrift von Anna Magdalena Bach handeln. Wilkomirski gibt als früheste Quelle eine Kopie an, die seit 1814 in der Deutschen Nationalbibliothek Berlin lagert.

Aufbau

Der standardisierten Suitenform Allemande – Courante – Sarabande – Gigue wird in den Cellosuiten jeweils ein Prélude vorangestellt. Außerdem werden zwischen Sarabande und Gigue so genannte Galanterien eingefügt - zwei gleichartige Tanzsätze in Form einer Da-capo-Arie.

Als Muster ergibt sich also:

  • Prélude
  • Allemande
  • Courante
  • Sarabande
  • Galanterie I – Galanterie II – Galanterie I da capo
  • Gigue


Die Préludes unterscheiden sich stark, was Form und Charakter betrifft. Alle Tanzsätze – das sind: alle Sätze außer den Préludes - bestehen aus zwei Teilen, die jeweils zu wiederholen sind. Sie haben also sämtlich die Form AABB. Bis auf wenige Ausnahmen nehmen sie alle denselben harmonischen Verlauf: Der Formteil A bewegt sich zur Dominanttonart, Teil B beginnt ebendort und kehrt wieder zurück zur Ausgangstonart. Dieses Schema lässt sich auf 29 der insgesamt 36 Tänze anwenden (die beiden Galanterien gelten zwar nur als ein Satz, müssen hier aber logischerweise als zwei Tänze gezählt werden). In den Stücken, in denen dieses Schema nicht greift, wird meist anstatt der Dominante die Tonikaparallele angesteuert. Nur in einem einzigen Satz schließt der B-Teil in harmonischer Hinsicht nicht direkt ans Ende des A-Teils an: In der Gigue der zweiten Suite erreicht der A-Teil zum Ende die Dominante (A-Dur), der B-Teil fängt aber mit der Tonikaparallele (F-Dur) an. Ein Pendant hierzu kann man darin sehen, dass in der Gigue der fünften Suite der A-Teil mit der Tonikaparallele beginnt.

Sehr augenfällige Merkmale verklammern die Suiten sowohl in Zweier- als auch in Dreiergruppen. Die paarweise Gruppierung geschieht durch die Auswahl der Galanterien. Diese sind in den ersten beiden Suiten jeweils zwei Menuette, in den Suiten III und IV sind es Bourrées, und in den letzten beiden Suiten verwendet Bach Gavotten. Genauso deutlich ist die Unterteilung in zwei Gruppen à drei Suiten. Hier ist das Merkmal die Tonart, in der die jeweils zweite Galanterie steht. In den ersten drei Suiten behält Bach für diese Sätze (Menuet II bzw. Bourrée II) den Grundton bei, verändert aber das Tongeschlecht – er benutzt also g-Moll in der G-Dur-Suite, D-Dur in der d-Moll-Suite, und c-Moll in der C-Dur-Suite. Die Moll-Sätze haben in diesen Fällen eine dorische Vorzeichnung, g-Moll hat mithin nur ein b, c-Moll deren zwei. Alle anderen Sätze des Zyklus - also auch die jeweils zweiten Galanterien in den Suiten IV bis VI - stehen in der Haupttonart der betreffenden Suite.

Was die Spielbarkeit betrifft, entwickeln sich die ersten vier Suiten deutlich von leicht nach schwer. Die fünfte Suite erfordert wegen der Skordatur eine besondere Spieltechnik, die sechste ist auf einem fünfsaitigen Violoncello den beiden Vorgängern an technischen Ansprüchen ebenbürtig, auf einem modernen Violoncello jedoch durch das Erfordernis sehr hohen Lagenspiels über längere Passagen nur erschwert zu realisieren.

Die Suiten nehmen von der ersten zur sechsten hin an Länge zu. Am Beispiel der Aufnahme von Heinrich Schiff:

Suite I 14:49
Suite II 18:17
Suite III 20:46
Suite IV 21:05
Suite V 21:55
Suite VI 26:24

Auch hier fällt der größere Abstand der „Randsuiten“ (Suite I und VI) auf.

Rezeption

Nach Bachs Tod gerieten die Cellosuiten schnell in Vergessenheit, was vermutlich auch daran lag, dass Bach die zeitgenössischen Cellisten in den letzten Suiten heillos überforderte. Man mutmaßt, dass speziell die sechste Suite damals als unspielbar gegolten haben dürfte. Natürlich beschäftigten sich weiterhin Musiker mit den Stücken, die vor allem als Etüden begriffen wurden. Robert Schumann komponierte eine Klavierbegleitung und sorgte damit für eine gewisse Wiederentdeckung, aber einer breiten Öffentlichkeit kamen die Cellosuiten erst durch Pablo Casals ins Bewusstsein. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war er der erste, der sie komplett aufführte. Und erst Jahre später fühlte er sich auch bereit, Aufnahmen von den Suiten zu machen. Die Popularität der Stücke nahm daraufhin rasch zu, und heute sind die Suiten für Violoncello solo aus dem Konzertleben nicht mehr wegzudenken. Gerade für viele Cellisten haben Bachs Stücke einen ganz besonderen Stellenwert. Bei Mischa Maisky etwa klingt das so: „Wenn ich sage, dass Musik meine Religion ist, dann sind diese sechs Solo-Suiten meine Bibel.“[3] Casals spielte sein Leben lang täglich aus den Suiten[4], und Rostropowitsch sagte: „Ohne Bach gibt es kein Leben für mich.“[5]

Sonstiges

  • Die Cellosuiten werden oft in einem Atemzug genannt mit Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo (Bach). Das Autograph jener Violinstücke ist mit „Libro Primo“ („Erstes Buch“) bezeichnet. Ob die Suiten für Violoncello das „zweite Buch“ darstellen, ist unklar. Im Vergleich zu ihrem Gegenstück sind die Cellosuiten weniger auf Brillanz und Virtuosentum ausgerichtet. Beide Werke gelten als exemplarisch für latente Polyphonie.
  • Zwei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer reiste der ausgebürgerte russische Cellist Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch nach Berlin, um sich am Checkpoint Charlie auf die Straße zu setzen und aus den Bach-Suiten zu spielen. Die Bilder von dieser „seltsamen Mischung aus großer PR-Geste und grandioser humanistischer Umarmung“[6] gingen damals um die Welt.
  • Es gibt Spekulationen, dass möglicherweise Anna Magdalena Bach einige der Werke komponiert haben könnte, die Johann Sebastian zugeschrieben werden. Dies bezieht sich unter anderem auf die Cellosuiten. Jedoch steht die Musikwelt dieser These bisher eher skeptisch gegenüber.
  • In der Courante der fünften Suite findet sich in Takt 22 das Motiv B-A-C-H. Allerdings wird es durch die Skordatur verschleiert. Die geschriebenen Noten sind C-H-D-Cis. Dadurch, dass die A-Saite einen Ganzton heruntergestimmt ist, erklingt B-A-C-H. (Dies spricht dafür, dass die angenommene Urversion, auf der sowohl die c-Moll-Suite als auch die Lautensuite g-Moll BWV 995 beruhen, auch in c-Moll steht.)
  • Ingmar Bergman verwendete die Sarabande aus der fünften Suite in seinem Film „Schreie und Flüstern“, in Bergmans „Wie in einem Spiegel“ kommt die Sarabande aus der zweiten Suite vor. In seinem letzten Film „Sarabande“ spielt die Sarabande aus der fünften Suite eine zentrale Rolle. Der Titel des Films bezieht sich auf diese.
  • Das Prélude der ersten Suite erscheint unter anderem in den Filmen Der Solist, Der Pianist, Master & Commander – Bis ans Ende der Welt und You Can Count on Me. Eine besondere Rolle spielt es zudem im Film „Jazz On a Summer’s Day“, einem Dokumentarfilm über das Newport Jazz Festival 1958. Zwischen den Auftritten vom Jazzfestival zeigt der Film den Cellisten Fred Katz, der mit nacktem Oberkörper allein in einem Zimmer sitzt und das Prélude in G-Dur spielt, von dem er einige Takte auslässt, um sich eine Zigarette anzuzünden.

Quellen

  • August Wenziger, Vorwort und Kritischer Bericht zu Sechs Suiten für Violoncello solo, Bärenreiter, Kassel 1950
  • Gavriel Lipkind, A Personal Reassessment, Berlin 2006
  • Kazimierz Wilkomirski, Vorwort zu den den Sechs Suiten für Violoncello Solo von Johann Sebastian Bach, Ausgabe mit Autograph, Polskie Wydawnictwo Muzyczne, Krakow, 1977

Einzelnachweise

  1. Truls Mork – Cellosuiten. klassikaktuell.at. Abgerufen am 20.05.
  2. Otto-Friedrich-Universität Bamberg: Sensibles Spiel. unibamberg.de. Abgerufen am 20.05.
  3. Geboren um Bach zu spielen – Mischa Maisky. klassikakzente.de. Abgerufen am 20.05.
  4. Pablo Casals. cello.org. Abgerufen am 20.05.
  5. Mstislaw Rostropowitsch – Biographie. klassik-heute.com. Abgerufen am 20.05.
  6. Rostropowitsch – der lächelnde Titan. welt.de. Abgerufen am 20.05.

Weblinks


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