Ganzheitlichkeit

Ganzheitlichkeit

Der Begriff Ganzheitlichkeit ist von dem Abstraktum Ganzheit des Adjektivs ganz abgeleitet, das sich in der deutschen Sprache bereits vor dem 8. Jahrhundert n. Chr. nachweisen lässt. Ganz bedeutet ursprünglich heil, unverletzt und vollständig.[1] Ganzheitlichkeit ist die Betrachtung einer Sache in der gefügehaften Totalität aller Teile sowie in der Gesamtheit ihrer Eigenschaften und Beziehungen.

Inhaltsverzeichnis

Ganzheitlichkeit als Art der Betrachtung

Die Betrachtung und Behandlung eines Themas, eines Gegenstandes oder einer Beziehung in seiner Ganzheit bedeutet eine umfassende, weitsichtige und weit vorausschauende Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte und Zusammenhänge:

In der Philosophie gibt es mehrere Ansätze, um das Wesen, die Gesamtheit einer Sache oder eines Begriffs zu erfassen und zu beschreiben. Die Dialektik ist ein Oberbegriff für solche Methoden, die fordern, in sich ergänzenden Gegensatzpaaren zu denken und zu forschen: das Oben und Unten, das Gestern und die Zukunft, pro und contra, Interessengegensätze u.a.m.

Zwei verschiedene Arten, das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zu untersuchen, werden durch die Begriffe Analyse und Synthese bezeichnet: Bei der Analyse wird das Ganze in seine Teile zerlegt. Bei der Synthese wird das Ganze durch das Aufsteigen vom Einfachsten bis zum Konkreten rekonstruiert.[2]

Ganzheitliche Medizin

Hauptartikel: Ganzheitliche Medizin

Ganzheitliche Medizin ist ein Ansatz in der Gesundheitsfürsorge, wonach der ganze Mensch in seinem Lebenskontext mit der Betonung von Subjektivität und Individualität betrachtet und behandelt werden soll. Synonym werden auch die Begriffe holistische Medizin und Ganzheitsmedizin verwendet.[3]

Danach wäre der Mensch ein strukturiertes, nach außen offenes System, dessen Teile in wechselseitiger Beziehung zueinander, zum ganzen Organismus und zur Außenwelt stünden. Zu berücksichtigende Faktoren wären bei einer ärztlichen Behandlung demnach die Einheit von Körper, Seele und Geist, Ideale und Wertvorstellungen des Patienten, seine Lebensweise (Bewegung, Ernährung, Stress, Entspannung), die soziale Umwelt mit allen Beziehungen (Partner, Familie, Beruf, Mitmenschen, Gesellschaft), die natürliche Umwelt (Wasser, Boden, Luft, Klima), die künstliche Umwelt (Wohnraum, Arbeitsplatz, Technik) und nach teilweise vertretener Auffassung auch Übersinnliches (Religion, Glaube, Spiritualität).[4]

Der Menschen ist mehr als die Summe seiner Glieder und Organe (Vielheit der Körperteile), erst durch deren funktionale Kontinuität ist der Mensch ein lebendes Ganzes (Einheit in der Vielheit). Dabei ist hier Kontinuität nicht rein zeitlich zu verstehen, sondern als ein stetiger, lückenloser Funktionszusammenhang. Der gesunde Organismus ist in der Tradition des Hippokrates gerade diejenige Ganzheit, deren Teile keinen Kontinuitätsbruch aufweisen. Die Krankheit offenbare sich in den Wunden als Folge der Kontinuitätsbrüche. In diesem Sinne wäre der Kontinuitätsbruch eine Aufhebung oder zumindest Störung der Einheit in der Vielheit. Der Extremfall des Kontinuitätsbruchs wäre das Abtrennen der einzelnen Körperteile und Organe, was zum Ende des Organismus (als einer lebenden Ganzheit) führen würde.[5] Bereits Plotin hatte auf die Einheit von Körper und Seele hingewiesen:

„Die ganze Seele ist in jedem Teil des Körpers und ganz auch in seiner Gesamtheit.“

Die gesundheitlichen Problembereiche sollen nach Auffassung der holistischen Medizin mit ihren verschiedenen Verknüpfungen erkannt und eine einseitige Betonung einzelner Aspekte soll vermieden werden. Ziel ist die umfassende Berücksichtigung aller Aspekte des Krankseins und der Gesundheit. Der Mensch soll nicht nur ein Objekt ärztlicher Techniken sein, sondern im Sinne des Humanismus als Maß aller Dinge in seiner Ganzheit wahrgenommen und behandelt werden. Dabei werden die Methoden der wissenschaftlichen Medizin, der biologischen Medizin und alternative Heilmethoden mit Methoden der Psychotherapie zu einer einheitlichen Therapie kombiniert.

Im engeren Sinn handelt es sich bei der Ganzheitsmedizin um einen umgangssprachlichen Begriff.[6] Der Zuordnung verschiedener Heilmethoden liegen dann keine wissenschaftlich oder staatlich anerkannten Kriterien zugrunde. Auch die traditionelle chinesische Medizin, die anthroposophische Medizin oder Ayurveda betrachten sich als ganzheitliche Ansätze.

Wissenschaftlich anerkannt sind dagegen die Psychosomatik und die Medizinische Kybernetik als ganzheitliche Ansätze in der Medizin, wobei die Anwendung der Kybernetik oder der Systemtheorie auf medizinische Fragestellungen noch in den Anfängen steckt. Lediglich die Medizinische Universität Wien verfügt über ein eigenständiges Institut für Medizinische Kybernetik.

Ganzheitlichkeit in der Körperpsychotherapie

Die Körperpsychotherapie basiert auf der Annahme, dass Körper, Geist und Seele nicht trennbar wären. Alle geistigen, seelischen und körperlichen Prozesse des menschlichen Organismus unterstünden der Ganzheit des Selbst und seien untrennbar miteinander verbunden.

Deshalb sei es möglich, über Körperempfindungen wie beispielsweise heiß, kalt, schwammig, kribblig, fest oder aufgeblasen an psychische Themen zu gelangen. Umgekehrt könnten Emotionen über die körperliche Wahrnehmung überprüft werden (siehe auch Eugene T. Gendlin, Focusing). Die Nonverbale Kommunikation über die Körpersprache zwischen Therapeut und Klient wäre ein Hinweis auf das Nähe-Distanz-Verhalten, das in der Kommunikation in Beziehungen eine wichtige Rolle spiele. Gleichzeitig sei der Umgang mit dem Raum (Intimsphäre, Proxemik) ein Hinweis für die Biografie und widerspiegelte Emotionen (sich hingezogen fühlen), Wertvorstellungen (Vorurteile) und Einstellungen. Außerdem könnten körperliche Symptome wie die Angst im Nacken, feuchte Hände und schwerer Atem Hinweise auf psychische Prozesse sein.

Diese Annahmen erfahren durch Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften, Hirnforschung und Neuropsychologie eine gewisse Bestätigung, insbesondere von Giacomo Rizzolatti, dem Erforscher der Spiegelneuronen, sowie Antonio Damasio, Gerhard Roth (Biologe), Gerald Hüther und Joachim Bauer. Differenztheoretische Betrachtungen z.B. in der Systemtheorie bei Niklas Luhmann u.a. gehen davon aus, das so postulierte Zusammenhänge grob vereinfachend bis hin zur Inadäquadheit wären.

Ganzheitlichkeit in der Pädagogik

Hauptartikel: Ganzheitlichkeit (Pädagogik)

Ganzheitlichkeit bezieht sich in der Pädagogik auf einen neurophysiologisch fundierten, integrativen Bestandteil handlungsorientierter Konzepte. Sie geht von der Reformpädagogik aus und betont neben den traditionell privilegierten kognitiv-intellektuellen Aspekten auch körperliche sowie affektiv-emotionale Aspekte. Ganzheitliches Lernen ist ein Lernen mit allen Sinnen, mit Verstand, Gemüt und Körper. Anders als der Konstruktivismus vertritt die Gestaltpädagogik einen rudimentär ganzheitlichen Ansatz.

Einzelnachweise

  1. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, de Gruyter, Berlin 1999, S. 298
  2. Vgl. Gustavo Bueno Martinez, Artikel Ganzes/Teil, in: Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 2, S. 226
  3. Pschyrembel, Wörterbuch Naturheilkunde, S. 130
  4. Vgl. dazu auch Pschyrembel, a. a. O., S. 130
  5. Vergleiche Gustavo Bueno Martinez, Artikel Ganzes/Teil, in: Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 2, S. 220
  6. Pschyrembel, a. a. O., S. 130

Literatur

  • Karen Gloy: Das Verständnis der Natur, Bd 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens, Beck, München 1996, Lizenzausgabe, Köln 2005, ISBN 3-406-38551-6
  • Gustavo Bueno Martinez, Artikel Ganzes/Teil, in: Hans J. Sandkühler u.a. (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Meiner-Verlag, Hamburg 1990, ISBN 3-7873-0983-7.
  • Willibald Pschyrembel: Wörterbuch Naturheilkunde. 2. Aufl., de Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3-11-016609-7
  • Georgi Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch. Kröner, Stuttgart 1982, ISBN 3-520-01321-5

Weblinks


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