Genderforschung

Genderforschung

Die Gender Studies (in der deutschen Entsprechung selten auch als Frauen-, Männer- und/oder Geschlechterforschung bezeichnet) sind ein heterogenes Feld, in dem es um die wissenschaftliche Analyse der Erzeugung, der Relevanz, der Geschichte und der Praxis der Geschlechterdifferenz geht.

Eine Richtung der Gender Studies beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den sozial und kulturell konstruierten Geschlechtern. Eine andere und weiter verbreitete Richtung beschäftigt sich mit Prozessen der Unterscheidung von solchen Geschlechtern, die dazu führen, dass uns sozial meistens zwei Geschlechtsausprägungen gegenübertreten. Die Geschlechterforschung ist sowohl Kultur- als auch Sozialwissenschaft, wird aber auch zunehmend in den Naturwissenschaften integriert. Sie ist immer interdisziplinär. Vor allem in den Sozialwissenschaften werden in den Gender Studies die Beziehungen der Geschlechter untereinander untersucht. „Geschlecht“ wird in diesem Zusammenhang als soziokulturelle Konstruktion verstanden (gender), die auch die Dimension Sexualität (sex) berücksichtigen muss. Gender ist also nicht das biologische Geschlecht.

Inhaltsverzeichnis

Motive

Im wesentlichen gab es vier Gründe, Gender als eigenständige wissenschaftliche Kategorie zu etablieren.

  • Die Idee (oder auch Ideologie) einer universalen, ahistorischen Geschlechterdifferenz, die „natürlich“ gegeben sei, wurde zunächst politisch kritisiert (Zweite Frauenbewegung) und dann auch wissenschaftlich untersucht. Die Annahme, dass aus einer eventuellen natürlichen Geschlechterdifferenz auch spezifische Rollen, Fähigkeiten und Aufgaben abzuleiten sind, wurde damit auch kritisiert. Es sollte eine Abgrenzung von biologischen Geschlechtern und der gesellschaftlichen Zuordnung von Geschlechter-Rollen stattfinden.
  • Die Struktur von Beziehungen der Geschlechter mit anderen kulturellen Zusammenhängen und gesellschaftlichen Organisationsformen sollte erforscht werden.
  • Die Machtverhältnisse, denen eine Zuordnung in „männlich“ und „weiblich“ folgt, sollten analysiert werden.
  • Der Prozess des Unterscheidens zwischen Geschlechtern sowie seine Hintergründe und Auswirkungen sollte mitbedacht werden.

Geschichte

Die Gender Studies entwickelten sich aus den Women's Studies, die ca. 1970 in einige US-amerikanische Universitäten entstanden. Die Women's Studies beschäftigten sich allein mit der wissenschaftlichen Betrachtung von Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft (vgl. „Weiblichkeit“) - dies allerdings zum ersten Mal aus feministischer Sicht. Unter anderem Virginia Price sah ein Defizit in dem Umstand, dass bisher zwar viel über Frauen geforscht worden war, allerdings immer nur von männlichen Wissenschaftlern und Autoren. Die Women's Studies sollten nun weibliche Lebenserfahrung sozialer und kultureller Realität als Grundlage der Wissenschaft nutzen. Der Unterschied zwischen der männlichen Sicht auf Frauen und der weiblich erfahrenen Realität sollte erörtert werden, und die männlich dominierten Theorien sollten revidiert werden. Einerseits sollte gezeigt werden, dass Männer und Frauen gleich und damit gleichberechtigt seien, andererseits wurde darauf beharrt, dass es eine eigene „Frauenkultur“ gäbe. In der Unvereinbarkeit dieser beiden Ansätze stießen die Women's Studies an ihre eigenen Grenzen.

Aus diesem Dilemma entwickelten sich ca. 1975 die Gender Studies. Vorerst sollten die Unterschiede und Beziehungen von biologischem und sozio-kulturellem Geschlecht untersucht werden. Dabei wurde „Geschlecht“ nicht primär als individuelle Eigenschaft betrachtet, sondern als soziales Verhältnis einer politisch und historisch gewachsenen Gesellschaftsstruktur. Das Geschlechterverhältnis stand also im Mittelpunkt.

Mitte der 1980er Jahre entstand auch im deutschsprachigen Raum die Geschlechterforschung als eigene Disziplin. Durch die Beschäftigung mit den Geschlechtsrollen, besonders auch in der wissenschaftlichen Forschung, stellt sie eine Form der Wissenschaftskritik (s. Ideologiekritik sowie Kritische Theorie) dar. Sie nutzt in diesem Zusammenhang unterschiedliche wissenschaftliche und analytische Methoden, die je nach Forschungsobjekt variieren. Die Geschlechterforschung integriert verschiedene separate Diskurse. Es ist einerseits die Richtung der Matriarchatsforschung zu verzeichnen, daneben gibt es konstruktivistisch orientierte Ansätze und praxisorientierte Forschungsansätze, die die Praxis in sozialen und internationalen Kontexten wissenschaftlich zu fundieren versuchen.

Einer der ersten Studiengänge für Gender Studies wurde zum Wintersemester 1997/98 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingerichtet, zeitgleich eröffneten zwei Studiengänge zur Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg: Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien als Aufbaustudiengang und Frauen- und Geschlechterstudien als Magisternebenfach. Hieraus entwickelten sich später der Promotionsstudiengang Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Bachelorstudium der Gender Studies (Zwei-Fächer-Bachelor) und das Masterstudium Kulturanalysen: Repräsentation, Performativität, Gender (Fach-Master). Eine andere Universität, die diesen Studiengang anbietet, ist die Ruhr-Universität Bochum. In Österreich bietet die Universität Wien seit dem WS 2006/07 ein Magisterstudium mit dem Titel „Gender Studies“ an.

Inhalte

Wichtige Themen sind:

  • soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern (systematische Benachteiligung im Beruf und in Sozialpolitik usw. wegen des Geschlechts)
  • soziale Stellung der Geschlechter innerhalb der Gesellschaft (Patriarchat, Matriarchat, Frauenwahlrecht)
  • vergeschlechtlichte Arbeitsteilung als Gesellschaftsstruktur (etwa durch die kapitalistische Unterscheidung von Produktion und Reproduktion)
  • Praxen der Erzeugung der Geschlechterdifferenz („doing gender“)
  • Mediale Präsentationen und Repräsentationen von Geschlecht, z. B. in Film, Literatur, Kunst, Werbung usw.
  • Verschränkung der Differenzachsen Geschlecht, Klasse (oder Schicht, Milieu usw.), Ethnizität/Race, Sexualität.
  • Geschlechterpädagogik
  • Queer-Theorie

Die vorherrschende Grundlage moderner Diskurse und Wissenssysteme, nämlich dass durch das biologische Geschlecht auch eine natürliche soziale Trennung der Geschlechter erfolgt, wird in den Gender Studies abgelehnt. Man geht vielmehr davon aus, dass das Geschlecht konstruiert wird durch soziale und kulturelle Praktiken und Strukturen. Es besteht also kein kausaler Zusammenhang zwischen dem biologischen Geschlecht und der Rolle in der Gesellschaft. Während das biologische Geschlecht in der Regel feststeht, ist Gender dementsprechend variabel und veränderbar.

Die Vielfalt der Bedeutungen von „männlich“ und „weiblich“ wird hervorgehoben, und im gleichen Moment werden bestimmte Vorstellungen vom natürlichen Wesen der Geschlechter, von Idealen von Männlichkeit und Weiblichkeit verdeutlicht. Als Folge dieser Überlegungen wird die Beziehung der Geschlechter als veränderbar angesehen. Da die Geschlechterbeziehung nicht als natürliche oder statische Ordnung angesehen werden kann, wird sie als Repräsentation kultureller Regelsysteme gedeutet. Dabei ist der Aspekt der Wertung des Geschlechts wichtig; der Wert, der innerhalb einer Kultur einem Geschlecht zugeordnet wird, wirkt sich auch auf das Verständnis des soziokulturellen Geschlechts innerhalb des gesellschaftlichen Systems aus.

Ein Schwerpunkt der Gender Studies ist also, die Mechanismen, die hinter diesen Auf- bzw. Abwertungen von Geschlechtern stehen, aufzudecken. Im Gegensatz zu den Women's Studies ist es möglich, auch Differenzen zu betrachten, durch die sich Frauen selbst voneinander unterschieden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt von gesellschaftlichen Minderheiten.

Kritik

Bereits 1991 wies Judith Butler auf das Problem der Trennung von biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht hin. Es besteht ein Widerspruch in der Tatsache, dass Gender zwar als konstruiert angesehen wird, biologisches Geschlecht (engl. sex) und die Sexualität hingegen als naturgegeben angenommen werden. Das Verständnis und die Bewertung des biologischen Geschlechts unterliegen ebenso dem Verständnis des sozialen Geschlechts. Diese Wechselwirkung wurde lange Zeit in den Gender Studies nicht berücksichtigt und wird eher als destruktive Kritik denn als notwendige Ergänzung des Faches gesehen.

Ebenso wird der "konstruktivistische" Ansatz als ungeeignet erachtet, zu erklären, wieso die gesellschaftliche Rollenverteilung so ist wie sie ist, und nicht die Rollen von Frau und Mann in den verschiedenen Kulturkreisen zufällig verteilt sind.

Kritiker werfen den Gender Studies häufig Subjektivismus und pseudowissenschaftliche Tendenzen vor. Manche unterstellen, es handle sich dabei um einen unter dem Deckmantel der Wissenschaft in die Universitäten eingezogenen Flügel der feministischen Ideologie. Näheres siehe unter Kritik an feministischer Wissenschaft.

Die Katholische Kirche lehnt sie, als Geschlechter-Ideologie ab und sieht in ihnen einen Versuch sich von der Schöpfung zu emanzipieren, der die „Natur des menschlichen Wesens als Mann und Frau“ in Frage stelle.[1]

Aktuelle Entwicklungen

An einigen Universitäten gibt es Zentren für Geschlechterforschung. Eine der ältesten Einrichtungen dieser Art existiert an der Universität Bielefeld („Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung“ IFF, die zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität). Weiterhin gibt es an der FU Berlin die „Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung“, an der Universität Kassel seit 1987 die „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung“, an der Universität Bremen das „Zentrum für feministische Studien - Gender Studies“ (ZfG), in Hildesheim das „Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung“ (ZIF) als gemeinsame Einrichtung der Universität und der Fachhochschule (HAWK) und an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg das „Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung“ (ZFG).

An der Charité in Berlin ist Ende 2004 ein neuartiges „Zentrum für medizinische Geschlechterforschung“ eröffnet worden. Es widmet sich in speziellen Forschungsprojekten den Fragestellungen, warum bei Männern und Frauen zahlreiche Krankheiten unterschiedlich häufig auftreten, anders verlaufen oder signifikant verschiedene Symptome zeigen.

Literatur

  • Becker, Ruth / Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Vs Verlag, Wiesbaden 2004, ISBN 3-8100-3926-8
  • Braun, Christina von / Stephan, Inge (Hrsg.): Gender Studies: Eine Einführung. Metzler, Stuttgart 2006, ISBN 3-476-01636-6
  • Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1997, ISBN 3-518-11722-X
  • Connell, Robert W.: Gender. Oxford 2002, ISBN 0-7456-2716-1
  • Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Fink Verlag, Paderborn 2007, ISBN 978-3-8252-2986-3
  • Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Stuttgart 1987, ISBN 3-608-93113-9
  • Genus – Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies (Hrsg.): Kultur, Geschlecht, Körper. Agenda, Münster 1999, ISBN 3-89688-061-6
  • Hahlbohm, Paul M. / Hurlin, Till: Querschnitt Gender Studies. Ein interdisziplinärer Blick nicht nur auf Homosexualität. Kiel 2001, ISBN 3-933598-32-X
  • Hark, Sabine: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005, ISBN 978-3-518-29353-9
  • Hauser-Schäublin, Brigitta (Hrsg.): Ethnologische Frauenforschung. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1991, ISBN 3-496-00492-4
  • Kortendiek, Beate / Münst, A. Senganata (Hrsg.): Lebenswerke. Porträts der Frauen- und Geschlechterforschung. Opladen, 2005, ISBN 3-938094-56-7
  • Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Dtv , München 1996, ISBN 3-423-04696-1
  • Löw, Martina / Mathes, Bettina (Hrsg.): Schlüsselwerke der Geschlechterforschung. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-13886-3
  • Lorber, Judith: Gender-Paradoxien. Opladen, 1999, ISBN 3-8100-3743-5
  • Sommerbauer, Jutta: Differenzen zwischen Frauen. Zur Positionsbestimmung und Kritik des postmodernen Feminismus. Unrast, 2003, ISBN 3-89771-300-4
  • Weinbach, Christine: Systemtheorie und Gender. Das Geschlecht im Netz der Systeme. VS Verlag, 2004, ISBN 3-531-14178-3
  • Zimmermann, Anja (Hrsg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3496013099

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. sueddeutsche.de "Hetzerische Worte". 23. Dezember 2008.

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