Haar-Wavelet

Haar-Wavelet

Das Haar-Wavelet ist das erste in der Literatur bekannt gewordene Wavelet und wurde 1909 von Alfréd Haar vorgeschlagen.[1] Es ist außerdem das einfachste bekannte Wavelet und kann aus der Kombination zweier Rechteckfunktionen gebildet werden.

Vorteilhaft am Haar-Wavelet ist die einfache Implementierbarkeit der entsprechenden schnellen Wavelet-Transformation (FWT). Der Nachteil des Haar-Wavelets ist, dass es unstetig und daher auch nicht differenzierbar ist.

Haar-Wavelet

Inhaltsverzeichnis

Die Funktionen der Haar-Wavelet-Basis

Skalierungsfunktion

Die Skalierungsfunktion bzw. „Vater-Wavelet“-Funktion der Haar-Wavelet-Basis ist die Indikatorfunktion des Intervalls [0,1).

\phi(x)=\chi_{[0,1)}(x)=\begin{cases}1&0\le x<1\\0&\mbox{sonst}\end{cases}

Sie erfüllt die Funktionalgleichung

\phi(x)=\phi(2x)+\phi(2x-1)=\sqrt2\left(a_0\phi(2x)+a_1\phi(2x-1)\right) mit a_0=a_1=\frac1{\sqrt2}.

Waveletfunktion

Die Waveletfunktion ist die „zusammengeschobene“ Differenz zweier aufeinanderfolgender Skalierungsfunktionen:

\psi(x)=\phi(2x)-\phi(2x-1)=\sqrt2\left(b_0\phi(2x)+b_1\phi(2x-1)\right)=\begin{cases}1&0\le x<1/2\\-1&1/2\le x<1\\0&\mbox{sonst}\end{cases},

wobei (b_0,b_1)=(\tfrac1{\sqrt2},-\tfrac1{\sqrt2}).

Die Schreibweise mit Vorfaktor sorgt dafür, dass die Matrix


H=\begin{pmatrix}a_0&a_1\\b_0&b_1\end{pmatrix}
=\frac1{\sqrt2}\,\begin{pmatrix}1&1\\1&-1\end{pmatrix}

eine orthogonale Matrix ist. Dies ist Teil der Bedingungen, die orthogonale Wavelets erfordern.

Multiskalenanalyse

Diese Funktion erzeugt die Multiskalenanalyse der Stufenfunktionen. In dieser wird jeder Funktion f \in L^2(\R) mit „endlicher Energie“ auf jeder Skala J\in\Z die folgende Projektion zugewiesen:

f\mapsto P_J(f) mit 
P_J(f)(x)=\sum_{n\in\Z}\left(\int_0^1 f\left(2^{-J}(n+t)\right)\,\mathrm dt\right)\cdot\phi(2^Jx-n)
.

Die Differenz zwischen zwei Skalen lässt sich dann durch das „Mutter-Wavelet“ bzw. die eigentliche Waveletfunktion ausdrücken:


P_{J+1}(f)(x)-P_J(f)(x)
=\sum_{n\in\Z}\left(\int_0^1 f\left(2^{-J-1}(2n+t)\right)\, \mathrm dt-\int_0^1 f\left(2^{-J-1}(2n+1+t) \right)\, \mathrm dt\right)\cdot\psi(2^Jx-n)
.

Mit \phi_{j,k}(x)={\sqrt2\,}^j\phi({2\,}^jx-k) und \psi_{j,k}(x)={\sqrt2\,}^j\psi({2\,}^jx-k) als Funktionen im Hilbertraum L^2(\R) gilt

  • alle diese Funktionen haben L2-Norm 1,
  • ϕj,k ist senkrecht zu ϕj,l bei k≠l,
  • ψi,k ist senkrecht zu ψj,l bei i≠j oder k≠l,
  • die ψi,k bilden eine Hilbertbasis von L^2(\R).

Schnelle Haar-Wavelet-Transformation

Gegeben sei ein diskretes Signal f, welches durch eine endliche oder quadratsummierbare Folge

f=(\dots,f_{-2},f_{-1},f_0,f_1,f_2,f_3,\dots)

dargestellt ist. Ihm ist als kontinuierliches Signal die Treppenfunktion

F(x) = \dots+ f_{-1}\phi_{0,-1}(x)+ f_0\phi_{0,0}(x)+ f_1\phi_{0,1}(x)+ f_2\phi_{0,2}(x)+ \dots

zugeordnet.

Vorwärtstransformation

Aus dem diskreten Signal wird durch paarweises „Senkrechtstellen“ ein vektorwertiges Signal, die sogenannte Polyphasenzerlegung, erzeugt:

f_p=\left(\dots,\left({f_{-2}\atop f_{-1}}\right),\left({f_0\atop f_1}\right),\left({f_2\atop f_3}\right),\dots\right).

Dieser wird nun gliedweise mit der Haar-Transformationsmatrix H:=\frac1{\sqrt2}\begin{pmatrix}1&1\\1&-1\end{pmatrix} multipliziert

\left({s\atop d}\right)=:Hf_p=\left(\dots,\left({s_{-1}\atop d_{-1}}\right),\left({s_0\atop d_0}\right),\left({s_1\atop d_1}\right),\dots\right),

dabei ist s_k=\frac{f_{2k+1}+f_{2k}}{\sqrt2} und d_k=\frac{f_{2k+1}-f_{2k}}{\sqrt2}.

Rücktransformation

Wir erhalten ein Mittelwertsignal s und ein Differenzsignal d, aus denen durch einfache Umkehr der vorgenommenen Schritte das Ausgangssignal zurückgewonnen werden kann:

f_{2k}=\frac{s_k-d_k}{\sqrt2} und f_{2k+1}=\frac{s_k+d_k}{\sqrt2}

Ist die Schwankung von Glied zu Glied im Ausgangssignal durch ein kleines ε>0 beschränkt, so ist die Schwankung in s durch √2⋅ε beschränkt, also immer noch klein, die Größe der Glieder in d jedoch durch ε/√2. Ein glattes Signal wird also in ein immer noch glattes Signal halber Abtastfrequenz und in ein kleines Differenzsignal zerlegt. Dies ist der Ausgangspunkt für die Wavelet-Kompression.

Rekursive Filterbank

Wir können den Vorgang wiederholen, indem wir s zum Ausgangssignal erklären und mit obigem Vorgehen zerlegen, wir erhalten eine Folge von Zerlegungen s^0:=f,\; (s^1,d^1),\; (s^2, d^2, d^1),\;\dots,(s^T,d^T,\dots,d^2,d^1), sk hat ein 2k-tel der ursprünglichen Abtastfrequenz und eine durch 2k/2⋅ε beschränkte Schwankung, dk hat ebenfalls ein 2k-tel der ursprünglichen Abtastfrequenz und durch 2k/2−1⋅ε beschränkte Glieder.

Interpretation

Als diskretes Signal f wird meist eine reelle Folge (fn) über Z mit endlicher Energie betrachtet,

\sum_{n=-\infty}^\infty\,|f_n|^2 < \infty.

Unter diesen gibt es einige sehr einfache Folgen δn, Kronecker- oder Dirac-Delta genannt, eine für jedes n\inZ. Für deren Folgenglieder gilt, dass das jeweils n-te den Wert 1 hat, δnn = 1, und alle anderen den Wert 0, δnk = 0 bei k≠n.

Jetzt können wir jedes Signal trivial als Reihe im Signalraum schreiben

f=\sum_{n=-\infty}^\infty\,f_n\cdot\delta^n

oder als Summe zweier Reihen

f=\sum_{n=-\infty}^\infty\,f_{2n}\cdot\delta^{2n}
         +\sum_{n=-\infty}^\infty\,f_{2n+1}\cdot\delta^{2n+1}.

In vielen praktisch relevanten Signalklassen, z. B. bei überabgetasteten bandbeschränkten kontinuierlichen Signalen, sind Werte benachbarter Folgenglieder auch benachbart, d. h. im allgemeinen liegen f2n und f2n+1 dicht beisammen, relativ zu ihrem Absolutbetrag. Dies wird in der obigen Reihen aber überhaupt nicht berücksichtigt. In Mittelwert und Differenz von f2n und f2n+1 käme deren Ähnlichkeit stärker zum Ausdruck, der Mittelwert ist beiden Werten ähnlich und die Differenz klein. Benutzen wir die Identität

ac+bd=\frac12 (a+b)(c+d)+\frac12 (a-b)(c-d)

um benachbarte Glieder der ersten Reihe bzw. korrespondierende Glieder in der zweiten Zerlegung zusammenzufassen in (skalierten) Mittelwerten und Differenzen:

f=\sum_{n=-\infty}^\infty\,
            \frac{f_{2n}+f_{2n+1}}{\sqrt2}\cdot\frac{\delta^{2n}+\delta^{2n+1}}{\sqrt2}
        +\sum_{n=-\infty}^\infty\,
            \frac{f_{2n}-f_{2n+1}}{\sqrt2}\cdot\frac{\delta^{2n}-\delta^{2n+1}}{\sqrt2}

Jetzt führen wir neue Bezeichnungen ein:

  • die neuen Basisfolgen
a^n:=\frac{\delta^{2n}+\delta^{2n+1}}{\sqrt2} und b^n:=\frac{\delta^{2n}-\delta^{2n+1}}{\sqrt2}
  • mit den neuen transformierten Koeffizienten
s_n:=\frac{f_{2n}+f_{2n+1}}{\sqrt2} und d_n:=\frac{f_{2n}-f_{2n+1}}{\sqrt2}.

Wir erhalten somit die Zerlegung der Haar-Wavelet-Transformation

f=\sum_{n=-\infty}^\infty\,s_n\cdot a^n+\sum_{n=-\infty}^\infty\,d_n\cdot b^n.

und mittels des unendlichen euklidischen Skalarproduktes können wir schreiben

s_n= \langle f,\,a^n \rangle und d_n= \langle f,\,b^n \rangle.

Die letzten drei Identitäten beschreiben eine „Conjugate Quadrature Filterbank (CQF)“, welche so auch für allgemeinere Basisfolgen an und bn definiert werden kann. Die Basisfolgen an entstehen alle durch Verschiebung um das jeweilige 2n aus a0, die bn durch Verschiebung aus b0. Weiteres dazu im Artikel Daubechies-Wavelets.

Nun enthält die Folge s=(sn) eine geglättete Version des Ausgangssignals bei halber Abtastrate, man kann also auch s nach dieser Vorschrift zerlegen und dieses Vorgehen über eine bestimmte Tiefe rekursiv fortsetzen. Aus einem Ausgangssignal s0:=f werden also nacheinander die Tupel

(s1,d1), (s2,d2,d1), (s3,d3,d2,d1), …

Ist f endlich, also fast überall Null, mit Länge N, dann haben die Folgen in der Zerlegung im Wesentlichen, d. h. bis auf additive Konstanten, die Längen

\left( \tfrac N2, \tfrac N 2 \right), \left( \tfrac N4, \tfrac N4, \tfrac N2 \right), \left( \tfrac N8, \tfrac N8, \tfrac N4, \tfrac N2 \right), …

so dass die Gesamtzahl wesentlicher Koeffizienten erhalten bleibt. Die Folgen in der Zerlegung eignen sich meist besser zur Weiterverarbeitung wie Kompression oder Suche nach bestimmtem Merkmalen als das rohe Ausgangssignal.

Modifikationen

Die Polyphasenzerlegung des Ausgangssignals kann auch zu einer anderen Blockgröße s als 2 erfolgen, von der entsprechenden Haar-Matrix ist zu fordern, dass sie eine orthogonale Matrix ist und ihre erste Zeile nur aus Einträgen 1/√s besteht. Diese Anforderung erfüllen die Matrizen der diskreten Kosinustransformation und die der Walsh-Hadamard-Transformation.

Die Haar-Wavelet-Transformation entspricht einer DCT-Transformation zur Blockgröße s=2, welche im Bild=Pixelrechteck nacheinander in horizontaler und vertikaler Richtung angewandt wird.

Literatur

  • Alfréd Haar: Zur Theorie der orthogonalen Funktionensysteme, Mathematische Annalen 69, 331–371, 1910, Online, insbesondere Kapitel 3 (ab S. 361).

Einzelnachweise

  1. Alfred Haar: Zur Theorie der orthogonalen Funktionensysteme. In: Mathematische Annalen. 69, Nr. 3, 1910, S. 331–371. doi:10.1007/BF01456326.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Haar wavelet — ] >The Haar wavelet is the first known wavelet and was proposed in 1909 by Alfréd Haar [Haar, Alfred; Zur Theorie der orthogonalen Funktionensysteme. (German) Mathematische Annalen 69 (1910), no. 3, 331 371.] . Haar used these functions to give… …   Wikipedia

  • Haar (Begriffsklärung) — Haar steht für: Haar der Säugetiere (einschließlich Mensch) Trichom, Pflanzenhaar Borste (Würmer und Gliederfüßer), Sinneshaare und Borsten bei Arthropoden, Ringelwürmern, Viel und Wenigborstern Strichstärke, feine Linien (Haarstriche) bei den… …   Deutsch Wikipedia

  • Haar-like features — are digital image features used in object recognition. They owe their name to their intuitive similarity with Haar wavelets. Historically, working with only image intensities (i.e., the RGB pixel values at each and every pixel of image) made the… …   Wikipedia

  • Wavelet — A wavelet is a mathematical function used to divide a given function or continuous time signal into different frequency components and study each component with a resolution that matches its scale. A wavelet transform is the representation of a… …   Wikipedia

  • Wavelet — Mit dem Begriff Wavelet werden die einer kontinuierlichen oder diskreten Wavelet Transformation zugrundeliegenden Funktionen bezeichnet. Das Wort ist eine Neuschöpfung aus dem französischen „ondelette“, das „kleine Welle“ bedeutet und teils… …   Deutsch Wikipedia

  • Wavelet-Transformation — Mit Wavelet Transformation (WT, engl. wavelet transform) wird eine bestimmte Familie von linearen Zeit Frequenz Transformationen in der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften (primär: Nachrichtentechnik, Informatik) bezeichnet. Die WT setzt… …   Deutsch Wikipedia

  • Haar — There are several meanings of Haar:* Haar (fog), a Scots word for the fog or sea mist * Haar, Bavaria, a municipality near Munich, Germany * Alfred Haar (1885 – 1933), a Hungarian mathematician ** Haar wavelet, the first wavelet ** Haar measure,… …   Wikipedia

  • Haar transform — The Haar transform is the simplest of the wavelet transforms. This transform cross multiplies a function against the Haar wavelet with various shifts and stretches, like the Fourier transform cross multiplies a function against a sine wave with… …   Wikipedia

  • Wavelet series — In mathematics, a wavelet series is a representation of a square integrable (real or complex valued) function by a certain orthonormal series generated by a wavelet. This article provides a formal, mathematical definition of an orthonormal… …   Wikipedia

  • Haar-System — In der Funktionalanalysis wird eine abzählbare Menge {bn} eines Banachraums, deren lineare Hülle dicht im ganzen Raum ist, als Schauderbasis bezeichnet, falls jeder Vektor bezüglich ihr eine eindeutige Darstellung als (unendliche)… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”