Hatun und Can

Hatun und Can

Die Frauenhilfsorganisation Hatun und Can e.V. wurde aus Anlass und in Erinnerung an die auf offener Straße ermordete deutsch-kurdische Elektroinstallateurin Hatun Sürücü und ihren Sohn Can am 7. Februar 2007 in Berlin gegründet. «Hatun und Can e.V.» wurde als erste Organisation von Migrantinnen in Deutschland bekannt, die sich ehrenamtlich für hilfesuchende, auch unter 18 Jahre alte Frauen aus Migrationsfamilien einsetzt, wenn ihnen häusliche Gewalt angetan, eine Zwangsheirat und bzw. oder Ehrenmord angedroht worden ist.

Inhaltsverzeichnis

Ziele und Mittel

Die Initiative möchte gewaltbedrohten Frauen aller Nationalitäten schnell, unbürokratisch und finanziell in Krisen helfen. Das Hilfsangebot beschränkt sich nicht nur auf Frauen aus Berlin.[1] Die Gründungsmitglieder sind überwiegend deutsche Frauen kurdisch-türkischer Herkunft, die keine ausgebildeten Sozialarbeiterinnen, sondern berufstätige Frauen sind. Der Vorstandssprecher und öffentliche Ansprechpartner ist ein Berliner Rechtsexperte mit dem Pseudonym „Andreas Becker“. Zu ihrem Schutz vor einer möglichen Bedrohung und Attentaten wollen die Mitarbeiter anonym bleiben, aber dennoch setzen sie sich persönlich für bedrohte Frauen ein. Aufgrund der hohen Lebensgefahr, die dieses Engagement mit sich bringt, hat der Verein kein Büro und keine Adresse. In erster Linie will der Verein jungen Frauen helfen, die zwangsverheiratet werden sollen, es aber nicht wollen. Der Verein finanziert seine Hilfe selbst und mit privaten Spenden,[2] auch eigene Wohnungen dienen als erster Unterschlupf.[3] Es wird Nothilfe geleistet und eine zeitliche Überbrückung für die Antragsstellung und Beschaffung der amtlichen Unterlagen der Hilfesuchenden angeboten, was eine ansonsten zu lange Wartezeit in Anspruch nehmen würde. Darüber hinaus liegt es im Ermessensspielraum der deutschen Behörden, Frauen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren zu helfen.[4]

Unterstützung

Der «Türkische Bund Berlin-Brandenburg» (TBB) beschloss im April 2007, den Nothilfe-Verein «Hatun und Can e.V.» personell, finanziell und organisatorisch zu unterstützen.[5] Auch der Berliner Senat hat mittlerweile über den Integrationsbeauftragten Günter Piening „im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten Unterstützung angeboten“.[6] Mehrere Wohnungsgesellschaften halfen bei der Anmietung von Wohnungen, indem sie auf eine Lohnbescheinigung verzichteten.[7]

Der Verein steht in Kontakt mit anderen Einrichtungen ähnlicher Zielsetzung wie dem Opferhilfeverein Weißer Ring, dem migrantischen Mädchenhilfsverein «Papatya», der «Berliner Interventionszentrale bei häuslicher Gewalt (BIG)»[8] und den Frauenhäusern in Berlin und Istanbul.[4]

Der Erstkontakt findet ausschließlich über E-Mail statt. Über diese bislang einzigartige ehrenamtliche Hilfsinitiative von Migrantinnen für Migrantinnen haben auch amerikanische, kanadische und japanische Medien als Modell für das eigene Land berichtet.[6] Nach dem ersten Jahr seiner Tätigkeit bilanzierte der Verein, der von 17 festen und zusätzlich 15 freien Mitarbeitern getragen wird, dass er mittlerweile 127 Hilfesuchende unterstützen konnte.[9] Vereinssprecher Becker beklagte jedoch eine mangelnde politische Unterstützung: der Opferschutz werde nicht ausgebaut und die bürokratischen Hürden seien hoch. Bilkay Öney, Integrationsexpertin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, schloss sich dieser Kritik an und forderte daher vom Senat ein Handlungskonzept zur Bekämpfung von Zwangsheiraten. Eine Vertreterin der Senatsfrauenverwaltung, Malin Schmidt-Hijazi, verwies dagegen auf die gute Zusammenarbeit sowie auf das Fehlen eines Förderungsantrages seitens des Vereins.[10]

Hatun und Can unterstützt seit 2008 die Initiative von Seyran Ateş und Necla Kelek «Ferienbräute – nicht mit uns!». Gemeinsam mit der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU) und den Berliner Volkshochschulen sollen Lehrer, Lehrerinnen und Sozialarbeiter über mögliche Zwangsverheiratungen türkischer Mädchen in den Sommerferien informiert werden.[11]

Würdigung

Erstmals engagieren sich Betroffene in organisierter Form gegen die Jahrhunderte alten Traditionen von Zwangsheirat und Ehrenmord, die in Europa heute als Zivilisationsbruch geächtet sind. Wegen der komplexen Denk- und Handlungsmuster haben sich staatliche Sanktionen gegen diese Gewaltformen bisher nur begrenzt als wirksam erwiesen.[12] Daher wird diese Initiative als aktive, kulturinterne Aufkündigung eines stillschweigenden Einverständnisses und als wichtiger Schritt zu einer Zivilgesellschaft hin gewürdigt.[13] Das Gewaltpotential als auch die Entschlossenheit, mit der sich diese Initiative von Migrantinnen dagegen stellt, entspricht derselben Qualität, mit der sich Frauen in Palermo öffentlich gegen die Mafia stellten [14] oder wie bei den argentinischen Müttern (Madres de Plaza de Mayo), die regelmäßig öffentlich für eine Aufklärung über ihre verschwundenen Kinder aufgetreten sind.

Zitate

Ich verneige mich vor diesen jungen Frauen. Was sie tun, ist fantastisch. [...] Diese Zivilcourage und Hilfe ist genau das, was gebraucht wird, und was ich mir von türkischen Verbänden gewünscht hätte.

Seyran Ateş, Februar 2007 [13]

Siehe auch

Weblinks

Artikel

Quellen

  1. Anna Reimann: „Zwangsehe in Deutschland: Auf der Flucht vor der eigenen Familie“, Spiegel Online, 21. August 2007
  2. Sophie Gabe: „Ehrenmorde. Familie Husseins Fahrt ins Glück“, Spiegel Online, 28. Mai 2007
  3. Anna Reimann: „Gewalt gegen Frauen: Ein neues Leben kostet 2000 Euro“, Spiegel Online, 10. Mai 2007
  4. a b „Ehrenamtliche retten vor "Ehrenmord" “, Tagesspiegel, 17. Juni 2007
  5. Annette Kögel: „Türkische Verbände helfen Frauen in Not. Unterstützung für »Hatun und Can e.V.« zugesichert“, Tagesspiegel, 10. April 2007
  6. a b „Senat fördert Projekte gegen Zwangsheirat. Parlament lobt Arbeit von Verein „Hatun und Can“, Tagesspiegel, 31. Juli 2007
  7. „Fall Sürücü. Vor Bundesgerichtshof neuer Prozess Ende August“, Die Welt, 19. August 2007
  8. Berliner Interventionszentrale bei häuslicher Gewalt (BIG)
  9. „Verein rettet aus der Zwangsehe. Vor drei Jahren wurde Hatun Sürücü ermordet“, Tagesspiegel, 7. Februar 2008
  10. Kathrin Hedtke: „Hilfe für junge Frauen wie Hatun Sürücü“, ddp / junge Welt, 8. Februar 2008
  11. Chantal Louis: Hatun & Can, EMMA, September/Oktober 2008, Nr. 5
  12. Frauenrechte_in_der_Türkei#Verbrechen im Namen der „Ehre“ - Wikipedia
  13. a b Annette Kögel: „"Ihr seid nicht allein." Junge Deutschtürkinnen helfen anonym Opfern von Gewalt und Zwangsehen.“ Tagesspiegel, 14. Februar 2007
  14. Leoluca_Orlando#Leben - Wikipedia

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