- Amoralisch
-
Unter Amoralismus (lat. amoralis - unsittlich) versteht man die Lehren der praktischen Philosophie, die moralisch hergeleitete Normen überhaupt ablehnen, in neuerer Zeit auch die, die ein Leben überhaupt losgelöst von Moralvorstellungen postulieren. Es gibt auch den Begriff Immoralismus, der manchmal ähnlich wie Amoralismus, manchmal in abweichender Bedeutung gebraucht wird.
Inhaltsverzeichnis
Philosophische Klassiker des Amoralismus
Zu den inhaltlich nicht einheitlichen Quellen des Amoralismus zählen die Sophisten (Thrasymachos[1], Kallikles[2]), Lao-tse und Mandeville[3]. Machiavelli vertrat die Position, dass moralisches Verhalten (nur) in der Politik nicht anwendbar ist. Donatien Alphonse François de Sade vertrat die These, dass Tugend ins Unglück, Laster hingegen zum Glück im Sinne des Hedonismus führt[4]. Max Stirner vertrat eine Position des Egoismus, nach der andere Menschen als Mittel gebraucht werden[5]. Friedrich Nietzsche analysierte die traditionelle Moral[6][7], aber auch Christentum, Demokratie, Humanismus, Ressentiments als Ergebnisse der „Sklavenmoral“ der Benachteiligten, die die Bessergestellten für böse erklären. Die von ihm positiv gewertete „Herrenmoral“ basiert nicht mehr auf der Unterscheidung von Gut und Böse, sondern beinhaltet ein von den eigenen Handlungen unabhängiges positives Selbstverhältnis und die Verachtung für Verlierer, so dass Nietzsches Philosophie als Spielart des Amoralismus angesehen werden kann.
Stirner wurde erstmals von Bloch in geistiger Nähe von Sade und Nietzsche gesehen.[8] Eine Gegenüberstellung von Sade und Nietzsche zu Kant wurde von Adorno versucht[9], ihr zufolge mündet Aufklärung in moralfreie Zweckrationalität und macht eine Aufklärung der Aufklärung über sich selbst nötig.
Die Figur des Amoralisten kommt auch in verschiedener Weise vor bei vielen Ethikern, die sich zum Zweck der Moralbegründung vom Amoralismus abgrenzen. So hat beispielsweise Habermas das Kohlbergsche Modell der moralischen Entwicklung ergänzt um Stufe 4½. Hare unterschied alle möglichen Typen von Moralgegnern[10][11][12].
Eine Übersicht verschiedener Schulen und Disziplinen hinsichtlich Moral und Moralkritik liefert das Standardwerk von Johannes Gröll, Das moralische bürgerliche Subjekt (siehe unter Literatur).
Historischer Materialismus
Der historische Materialismus vertritt die These, dass Moralvorstellungen nur subjektive Abbilder objektiver Herrschaftszusammenhänge sind. Moral ist demnach ausschließlich ein Charakteristikum von Klassengesellschaften, in denen die unterdrückte Klasse mangels Klassenbewusstsein ihre Interessen nicht wahrnimmt. So sei die Moral einer Epoche stets identisch mit dem Interesse der Herrschenden. Die bürgerliche Moral (und ihre philosophische Rechtfertigung durch die Aufklärung) war laut Marx/Engels vor der bürgerlichen Revolution nur eine Formulierung der Interessen des Bürgertums gegen die Feudalherren. Nachdem sich das Bürgertum zur herrschenden Klasse aufgeschwungen hatte, musste es mittels des Staates seine Interessen gegen das neugeschaffene Proletariat durchsetzen. Marxistische Moralkritiker argumentieren meistens dahingehend, dass die moralischen Werte der bürgerlichen Gesellschaft zum Vorteil des Kapitals und zum Nachteil der Lohnarbeiter sind. Moral sei somit nur die (falsche) Akzeptanz der bürgerlichen Interessen durch das Proletariat.
Inhalte des Amoralismus
Amoralismus richtet sich gegen:
- die Morallehren aller Religionen, zum Beispiel die Zehn Gebote des Alten Testaments, die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe des Neuen Testaments, die zehn ethischen Grundprinzipien des Buddhismus, die fünf Pfeiler des Islam, die Ethik des Konfuzianismus, die Moral des Hinduismus,
- die Goldene Regel,
- den Kategorischen Imperativ von Kant,
- das Grundprinzip des Utilitarismus, dass Einzelne das Glück aller anstreben sollen,
- die Tugendethik nach Aristoteles,
- die Mitleidsethik von Schopenhauer,
- die Ehrfurcht vor dem Leben von Albert Schweitzer,
- das Prinzip des Ahimsa von Gandhi,
- das Projekt Weltethos von Hans Küng,
- Menschen- und Tierrechte als Handlungsorientierung für den Einzelnen,
- den Ethischen Egoismus, der das je eigene Wohl als obersten moralischen Wert ansieht.
Amoralisten lehnen auch alle Vorstellungen von Sünde, Schuld, Scham, Ehre, Wert, Pflicht, Reue, Buße, geistiger Reinheit, Gewissen, Karma, Solidarität, Verbindlichkeit und Verantwortung ab, die mit Sollens-Vorstellungen einhergehen und nicht bloße Fakten von Gefühlen oder Kommunikationsstrukturen beschreiben. Amoralisten sind Zyniker und sehen in sozialer Kompetenz, Höflichkeit, Umgangsformen, Rücksichtnahme und Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen keine Form, Menschen als Selbstzweck zu behandeln, sondern nur ein wichtiges Mittel zur Erreichung anderer Zwecke, das jederzeit gemäß zweckrationalen Maßstäben aufgegeben werden kann. Amoralismus unterscheidet sich somit grundlegend von Jugendrebellion, in der bewusst Konventionen gebrochen werden.
Der logische Unterschied zum Ethischen Egoismus ist in den historischen Quellen zumeist nicht reflektiert. Amoralismus wird auch als Nihilismus bezeichnet, obwohl jener Begriff eine weniger klar umrissende Bedeutung hat.
Amoralismus wird oft als Skeptizismus bezüglich ethischer Werte rekonstruiert. Aber Amoralisten richten sich nicht nur gegen alle kognitivistischen Richtungen der Ethik, indem sie zusammen mit den nonkognitivistischen Ethikern behaupten, dass es keine objektiven Werte gebe, die man erkennen könne, sondern auch gegen alle nonkognitivistischen Richtungen. Gegen präskriptivistische Ethiker protestieren sie, dass sie keine Gründe sehen, Aufforderungen zu moralischem Verhalten immer zu befolgen. Zur emotivistischen Richtung der Ethik meinen sie, dass sie nicht immer moralische Gefühle hätten, da ihnen viele Leute auch einfach gleichgültig oder unangenehm seien.
In Bezug auf Sigmunds Freuds Psychoanalyse verzichten Amoralisten auf die psychische Instanz des Über-Ich oder eliminieren dessen Einfluss. Außerdem lehnen sie Freuds Vorstellung der Transformation der polymorph-perversen Sexualität hin zu einer Ausrichtung auf heterosexuelle Vaginalpenetration als Ziel einer Entwicklung zu angeblicher persönlicher Reife ebenso ab wie Freuds Forderung „Wo Es war, soll Ich werden“, da sie in diesen Vorstellungen nur verkappte Moralvorschriften sehen.
Praktischer Amoralismus
Inkonsequente Tendenzen zu amoralischen Denk- und Handlungsweisen sind populär und weit verbreitet, beispielsweise in der Volksweisheit „Der Ehrliche ist immer der Dumme“ oder bei schwer zu verfolgenden Delikten wie Steuerhinterziehung, Schwarzfahren, Ladendiebstählen, aber auch Korruption, Vergewaltigung, Sklaverei und Tötung in Armuts- und Kriegsgebieten.
Amoralismus wird gelegentlich mit der 1968er-Bewegung in Verbindung gebracht. Beispielsweise die Abkehr von christlichen Werten und die Aufgabe des Gehorsamsanspruchs von Erziehenden (antiautoritäre Erziehung) wurde von Teilen der Gesellschaft als ein Infragestellen von verbindlicher Moral interpretiert.
Amoralische Figuren in Literatur und Film
- André Gide, L'Immoraliste
- Franz Moor in Friedrich Schiller, Die Räuber
- Dorian Gray in Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray
Amoralismus ist meist auch ein impliziter Teil der Haltungen der Negativ-Protagonisten in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten, die einen Gut-Böse-Konflikt beinhalten, zum Beispiel der Sith aus Star Wars, von Khan und Shinzon aus Star Trek, Lex Luthor aus Smallville oder Voldemort aus Harry Potter.
Kritik am Amoralismus
Der Amoralismus wird kritisiert durch das Vorbringen von Moralbegründungen.
Anmerkungen
- ↑ Platon, Politeia
- ↑ Platon, Gorgias
- ↑ Mandeville, Bienenfabel
- ↑ D.A.F. de Sade, Justine oder die Leiden der Tugend, und, Juliette oder die Wonnen des Lasters
- ↑ Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
- ↑ Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral
- ↑ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse
- ↑ Iwan Bloch, Der Marquis de Sade und seine Zeit, 1978 Heyne
- ↑ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Exkurs II : Juliette oder Aufklärung und Moral
- ↑ R.M. Hare, Freiheit und Vernunft, Suhrkamp, 1983 Frankfurt
- ↑ R.M. Hare, Moralisches Denken - Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, übersetzt von Christoph Fehige und Georg Meggle, Suhrkamp, 1992 Frankfurt
- ↑ R.M. Hare, Satanism and Nihilism, in: Essays on Religion and Education, 1992d
Literatur
- Arno Baruzzi, Sade in: Aufklärung und Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts, 1968 List Verlag KG
- Johannes Gröll, Das moralische bürgerliche Subjekt, 1991 Verlag Westfälisches Dampfboot
- Elmar Waibl, Die Kritik des Kontraktualismus in Marquis de Sades erotomanischen Anarchismus in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Band 17, 1983 Wien
- Slavoj Zizek, Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! - Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, 1999 Verlag Volk und Welt, Kant mit (oder gegen) Sade? S. 25 - 51
Wikimedia Foundation.