- Johann Heinrich von Thünen
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Johann Heinrich von Thünen (* 24. Juni 1783 in Canarienhausen, Wangerland; † 22. September 1850 in Tellow) war ein deutscher Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler, Sozialreformer und Musterlandwirt. Er vereinte theoretische Kenntnisse der Mathematik mit praktischen Erfahrungen aus seinem landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Er kann zur klassischen Ökonomie gezählt werden, ist aber auch ein früher Autor der Wirtschaftsgeographie.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Aufgewachsen in Hooksiel und Jever, absolvierte Thünen von 1799 bis 1803 eine landwirtschaftliche Ausbildung u. a. bei Lucas Andreas Staudinger in Groß Flottbek bei Hamburg und bei Albrecht Daniel Thaer in Celle. Im Anschluss studierte er zwei Semester an der Universität Göttingen.
1806 heiratete Thünen Helena Sophia Johanna Berlin (* 21. März 1785 in Friedland in Mecklenburg-Strelitz; † 19. Januar 1845 in Tellow) und pachtete das Gut Rubkow bei Anklam, Vorpommern. 1809 erwarb er das 465 ha große Gut Tellow bei Teterow, Mecklenburg. Neben der Bewirtschaftung seines Betriebes beschäftigte sich Thünen mit Fragen der Bodenfruchtbarkeit („Bodenstatik“) und der Entstehung der Getreidepreise. 1818 wurde Thünen als ordentliches Mitglied in den Mecklenburgischen Patriotischen Verein aufgenommen und war 1818-20 Direktor des Teterower Distrikts.
Seine Erkenntnisse veröffentlichte er 1826 in dem Buch „Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie, oder Untersuchungen über den Einfluss, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben“ bei Friedrich Perthes in Hamburg. 1830 wurde ihm auf Grund seiner wissenschaftlichen Verdienste die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock verliehen. 1836-38 war er zweiter Hauptdirektor des Mecklenburgischen Patriotischen Vereins. 1842 erschien die zweite, vermehrte und verbesserte Auflage des „Isolierten Staates“ bei Leopold in Rostock. 1844 wurde er Mitglied der Mecklenburgischen Naturforschenden Gesellschaft zu Rostock, 1848 wurde er zum Ehrenmitglied des Mecklenburgischen Patriotischen Vereins ernannt. Unter dem Eindruck der Ereignisse des Frühjahrs 1848 trat im April Thünens lange geplantes Gewinnbeteiligungsmodell für die Tellower Arbeiter in Kraft. Es nahm einige Punkte der späteren Sozialversicherung vorweg. Im Juni wurde er Ehrenbürger der Stadt Teterow. Ebenfalls 1848 wurde Thünen als Ersatzmann für den Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Johann Pogge gewählt. Er konnte die Reise jedoch nicht antreten.[1]
1850 veröffentlichte Thünen den zweiten Teil des „Isolierten Staates“, in dem er der Frage nach dem „natürlichen Arbeitslohn“ nachgeht. Aus diesem Werk stammt die von ihm dafür gefundene Formel (l =Lohn a = notwendige Lebensunterhalt der Arbeiter p = Wert der Arbeit der Erzeugnisse), die lange kontrovers diskutiert wurde und heute als überholt gilt. Die Definition für den natürlichen Arbeitslohn schmückt heute seinen Grabstein in Prebberede-Belitz bei Teterow, Mecklenburg.
Pionierleistungen
Zu Johann Heinrich von Thünens Pionierleistungen auf verschiedenen Wissenschaftsgebieten gehören unter anderem die Entwicklung von land- und forstwirtschaftlichen Produktions-, Standort- und Raumstrukturtheorien mit entsprechenden Impulsen für die Wirtschaftsgeographie und Regionalwissenschaft und die Begründung der Landwirtschaftlichen Betriebslehre in Deutschland, sowie wegweisende Untersuchungen und praktische Vorschläge zum Agrarkredit (Taxation und Finanzintermeditation). Zudem entwarf er eine systematische Erklärung der Höhe von Löhnen, Zinsen und Bodenrenten sowie Verteilung dieser Einkommen in einer Volkswirtschaft (Grenzproduktivitätstheorie) und eine Ableitung von Grundprinzipien für eine optimale Forstwirtschaft, womit er allgemeingültige kapitaltheoretische Ansätze vorwegnahm. Er baute die Methode der isolierenden Abstraktion (Modell des „Isolierten Staates“ vgl. ceteris paribus) aus und wendete die Differentialrechnung bei der Lösung ökonomischer Optimierungsprobleme (Marginalprinzip) an. Außerdem führte er praxisorientierte und empirisch-statisch fundierte Agrar- und Wirtschaftsstudien (Ökonometrie) durch.
Die Thünenschen Ringe
Siehe Hauptartikel: Thünensche Ringe
In seiner Theorie über den „Isolierten Staat“, ging von Thünen von Adam Smiths homo oeconomicus aus: Der Landwirt ist bestrebt, den größtmöglichen Gewinn aus seiner Arbeit zu erwirtschaften. Aus seiner Erfahrung als Gutswirt wusste er, dass seine Erlöse von einer optimalen Nutzung der Landflächen und den Transportkosten abhingen. Um seine Gedanken ausschließlich auf diese zwei Variablen zu konzentrieren, reduzierte von Thünen die restlichen Einflüsse auf einen homogenen – isolierten – Staat: Ein kreisrundes, völlig flaches Land ohne Außenbeziehungen und einer alles dominierenden Stadt in der Mitte. Es gibt nur Getreide als einziges landwirtschaftliches Produkt und dessen Preis ist vorgegeben. Die Wirtschaft im Umland müsste sich bei ökonomischem Verhalten so anordnen, dass jede Branche einen optimalen Gewinn einfährt:
Die Transportkosten sind direkt proportional von der Entfernung zur Stadt und dem Gewicht der Ware abhängig. Der Preis pro ha (Lagerente) nimmt mit Entfernung zur Stadt ab. Der Mindestpreis einer Ware errechnet sich also aus der Lagerente, den Transportkosten und den fixen Produktionskosten – der Gewinn ist dementsprechend der Unterschied zwischen Mindestpreis und dem fixen Marktpreis.
Die Lagerente als zentraler Begriff in der Argumentation von Thünens ist als Äquivalent zum Bodenwert zu verstehen. Sie entspricht der maximal möglichen Summe, die ein landwirtschaftlicher Produzent für die Nutzung einer Fläche bezahlen könnte, ohne Verlust zu machen. Sie lässt sich für ein gegebenes Gut mit der folgenden Gleichung bestimmen:
mit- L : örtlich erzielbare/bezahlbare Lagerente (in €/km²)
- Y : Anbauertrag (in t/km²)
- P : Marktpreis der Feldfrucht (in €/t)
- C : Erzeugungskosten der Feldfrucht (in €/t)
- D : Entfernung zum Markt (in km)
- F : Transportkostentarif (in €/t*km)
So würde z. B. die Lagerente eines Produktes mit einem Ertrag von 1.000 t/km², das auf dem zentralen Markt 100 €/Tonne einbringt, wohingegen seine Produktion 50 €/t und sein Transport 1 € je Tonne und km kostet, im Zentrum der Stadt 50.000 €/km² (5 cent/m²) betragen, in 10 km Entfernung nur noch 40.000 €/km² und in einer Entfernung von 30 km nur noch 20.000 €/km². Entsprechend der mit zunehmender Entfernung zum Marktort fallenden Lagerente wird somit auch die Zahlungsbereitschaft eines jeden Landwirtes für landwirtschaftliche Flächen sinken und sich schließlich in den Bodenpreisen niederschlagen.
Von Thünen folgerte, dass sich beispielsweise der Getreideanbau nur in einer bestimmten Entfernung zur Stadt lohnte: Entweder wurden in der Nähe der Stadt die Kosten für den Boden zu hoch oder mit zunehmender Entfernung die Transportkosten, nämlich dann, wenn es ein anderes Produkt gibt, das entweder günstiger zu produzieren oder preiswerter zu transportieren ist. Ab einer Maximalentfernung zum Marktort (Stadt) wird dann die Produktion eines bestimmten Gutes unrentabel, weil entweder der Gewinn auf '0' sinkt oder der Gewinn eines anderen Produktes höher ist, denn die Berechnungen nahm Thünen für unterschiedlich flächenintensive landwirtschaftliche Produkte (Fleischvieh, Holz, Getreide, aber auch Eier, Milch usw.) vor: Für jedes Produkt gibt es einen bestimmten Abstand zur Stadt, in dem sich die Produktion lohnt. Da Thünen die Transportkosten direkt auf den Marktort bezog (Luftlinie), ergeben sich kreisrunde Abgrenzungen zwischen den einzelnen Landnutzungszonen, die sogenannten Thünenschen Ringe. Treten nämlich die Produzenten mehrerer landwirtschaftlicher Produkte in Konkurrenz zueinander, „sortieren“ sich ihre Standorte konzentrisch relativ zum Marktort entsprechend der Steilheit/dem Verlauf ihrer Lagerentenkurven: Ein Produkt, dessen Ertrag je Flächeneinheit zwar gering, dessen Marktpreis je Gewichtseinheit jedoch hoch und dessen Transportkosten je Gewichts- und Distanzeinheit ebenfalls hoch sind (z. B. Holz), kann daher beispielsweise nahe am zentralen Markt höhere Lagerenten erzielen als ein Produkt mit niedrigeren Transportkosten. Die Lagerente als Möglichkeit zur Zahlung höherer Renten für die Nutzung einer gegebenen Menge an Produktionsfläche, ist der Indikator für die „Konkurrenzfähigkeit“ der Produkte relativ zum zentralen Marktort.
Wissenschaftliches und kulturelles Erbe
Die im September 1990 in Tellow gegründete Thünengesellschaft e. V. wurde eigens zu dem Zweck gegründet, den wissenschaftlichen Nachlass Johann Heinrichs von Thünens zu wahren, aufzuarbeiten und der Nachwelt bekannt zu machen.[2] Zu den renommiertesten Thünenforschern und Gründungsmitgliedern dieser Gesellschaft gehörte Yasuo Kondo (1899-2005) in Japan. Der Rostocker Universitätsprofessor und Politiker Fritz Tack ist derzeit amtierender Vorsitzender der Thünengesellschaft.
Weitere bekannte Thünenforscher waren unter anderem der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul A. Samuelson (1915–2009) in den Vereinigten Staaten, in Deutschland Asmus Petersen (1900–1962) und Walter Braeuer (1906–1992), sowie in Russland Alexander Tschajanow (1888–1937).
Anwendung und Kritik
Wie viele andere Modelle in der Geographie, wurde auch das Thünensche Modell häufig aufgrund der restriktiven Modellannahmen kritisiert. Dabei wurde jedoch übersehen, dass sich die Rahmenbedingungen des Modells durch geringfügige Modifikationen der jeweiligen Wirklichkeit annähern ließen. Die ringförmige Struktur, die auf einen einzigen punktförmigen Markt und die ausschließlich zentral-peripher verlaufenden Transportkostengradienten zurückgeführt werden kann, ist z. B. nur eine von vielen denkbaren geometrischen Ausgangssituationen. Beim Vorliegen anderer naturräumlicher Grundlagen oder spezieller Transportstrecken, können die Landnutzungszonen z. B. auch streifenförmig verlaufen. Wenn mehrere Märkte vorhanden wären, würden sich mehrere Zonierungsmuster um die jeweiligen Marktorte ausbilden und sich überlagern.
Thünens Verdienst ist der Versuch – unter Vernachlässigung einer ganzen Reihe von Raumeigenschaften – Nutzungszonierungen allein durch wirtschaftlich rationales Handeln zu erklären. Dabei spielt die Lagebeziehung zu den möglichen Konsumenten letztendlich die entscheidende Rolle für die Standortwahl. Gleichzeitig wird über diese Lagebeziehung eine Bewertung aller potentiellen Standorte ausgelöst, die zu einer Zonierung der möglichen Angebote führt. Dieses einfach aufgebaute Raum-Wirtschaftsmodell reagiert allerdings empfindlich auf Veränderungen der Raumüberwindungskosten. Es besitzt aber aufgrund seiner Universalität dennoch einen hohen Stellenwert innerhalb geographischer Fragestellungen und Methodik. Zahlreiche Autoren haben Elemente seiner Theorie auch für Standorttheorien des sekundären und tertiären Sektors verwendet.
Werke und Briefe
- Der isoli[e]rte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, oder Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben. - Hamburg : Perthes, 1826
- Der isoli[e]rte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie.
- Erster Theil: Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben. 2. verm. u. verb. Aufl. - Rostock : Leopold, 1842
- Der naturgemäße Arbeitslohn und dessen Verhältniß zum Zinsfuß und zur Landrente.
- Erste Abtheilung. - Rostock : Leopold, 1850
- Zweite Abtheilung, hrsg. von Hermann Schumacher. - Rostock : Leopold, 1863
- Der isoli[e]rte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie. 3. Aufl. hrsg. von Hermann Schumacher-Zarchlin. - Berlin : Wiegand, Hempel, & Parey, 1875
- (Darin: Erster Theil. Untersuchungen über den Einfluß, den die Getreidepreise, der Reichthum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben; Zweiter Theil. Der naturgemäße Arbeitslohn und dessen Verhältniß zu Zinsfuß und zur Landrente. 1. und 2. Abtheilung; Dritter Theil. Grundsätze zur Bestimmung der Bodenrente, der vorteilhaftesten Umtriebszeit und des Werths der Holzbestände von verschiedenem Alter für Kieferwaldungen.)
- Briefe. Zusammengestellt und bearbeitet von Gunther Viereck. Hrsg. von der Thünengesellschaft e.V. in Verbindung mit Ilona Buchsteiner und Wolf D. Gruner. Eingeleitet von Heinz Rieter. - Marburg : Metropolis-Verl., 2011. ISBN 978-3-89518-767-4.
Siehe auch
- Johann Heinrich von Thünen-Institut – Bundesforschungsinstitut für ländliche Räume, Wald und Fischerei (vTI), selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV)
- Standorttheorie
Literatur
- Rolf P. Bartz, Petra Zühlsdorf: Das Thünen-Museum Tellow. Auf den Spuren des Johann Heinrich von Thünen. Herausgegeben von Ralf J. Girbig. Laumann, Dülmen 1994, ISBN 3-87466-239-X.
- Ilona Buchsteiner, Gunther Viereck: Johann Heinrich von Thünen. Schriften – Literatur – Nachlass (= Rostocker Beiträge zur Deutschen und Europäischen Geschichte 8, ISSN 1431-410X). Universitätsbibliothek, Rostock 2000 (Bibliographie).
- Ilona Buchsteiner, Gunther Viereck: Johann Heinrich von Thünen. „…das ernste praktische Leben fordert die Tätigkeit des Mannes…“. Chronik eines Lebensweges. Steffen, Friedland 2004, ISBN 3-9809023-5-8.
- Markus Fasse: Standort Scholle. Johann Heinrich von Thünen: „Der isolierte Staat“. In: Die Zeit. Ausgabe 24/1999 (Online-Ausgabe).
- Renate Hippauf: Johann Heinrich von Thünen. Ein Lebensbild. Hinstorff, Rostock 2000, ISBN 3-356-00872-2.
- Hermann Schumacher-Zarchlin: Johann Heinrich von Thünen. Ein Forscherleben. Leopold, Rostock 1868, (Digitalisat).
- Gunther Viereck: Johann Heinrich von Thünen. Ein Klassiker der Nationalökonomie im Spiegel der Forschung. Krämer, Hamburg 2006, ISBN 3-89622-080-2.
- Bernd O. Weitz: Bedeutende Ökonomen. Oldenbourg, München 2008, ISBN 978-3-486-58222-2.
- Lutz Werner: Die Entwicklung des Thünenschen Mustergutes Tellow (Mecklenburg) in den Jahren 1810 bis 1850. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. 1, 1983, ISSN 0075-2800, S. 71–98, (Digitalisat).
- Robert Zuckerkandl: Thünen, Johann Heinrich von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 38, Duncker & Humblot, Leipzig 1894, S. 213–218.
Quellen
- Nachlass: Thünen-Archiv im Universitätsarchiv Rostock, Familien-Thünen-Archiv im Archiv der Universität Hohenheim, Thünen-Museum Tellow
- Nachlass der Familie Thünen im NLA - Staatsarchiv Oldenburg Erw 110 (2)
Einzelnachweise
Weblinks
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