Josepha Kleinsgütl

Josepha Kleinsgütl

Unordnung und frühes Leid ist eine Novelle Thomas Manns aus dem Jahre 1926, die 1976 verfilmt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Die Familie Cornelius

Die Novelle spielt in der Inflationszeit nach dem ersten Weltkrieg in bürgerlichen Kreisen. Professor Abel Cornelius, Ordinarius für frühneuzeitliche Geschichte, lebt mit seiner Frau, seinen halbwüchsigen Kindern Bert und Ingrid, den beiden Nachzüglern Beißer und Eleonore („Lorchen“) sowie mehreren Bediensteten in einem eleganten Münchner Vorstadthaus. In seiner Funktion als Historiker liebt er Geschichte nur, „sofern sie geschehen ist“. Die „gegenwärtigen Umwälzungen“ hasst er indes, empfindet sie als „gesetzlos, unzusammenhängend und frech, mit einem Wort: als unhistorisch“.

Die beiden älteren Kinder sind von einer gewissen spielerischen Exzentrik geprägt, die sie zu allerlei Streichen veranlasst. Die obligatorischen Lebensmittelrationierungen umgehen sie, indem sie sich in den Läden in vielerlei Verkleidung mehrmals anstellen, um die erforderlichen Eier für den Festtagskuchen zusammenzubekommen. Auch haben Bert und Ingrid etwa die „Besuchskartenschale der Eltern ausgeleert und die Karten kreuz und quer, aber nicht ohne Sinn für das Verwirrend-Halbwahrscheinliche, in die Briefkästen des Viertels verteilt, woraus viel Unruhe erwuchs“. In der Trambahn führen sie schon mal „öffentlich lange, gefälschte (…) recht ordinäre Gespräche“ etwa über Ingrids angeblich vorhandenen „Sohn, der sadistisch veranlagt ist und neulich auf dem Lande eine Kuh so unbeschreiblich gemartert hat (…)“, bis sich ein konservativer Herr die „Erörterung derartiger Themata“ durch junge Leute energisch verbittet.

Die Kleinen dagegen wachsen verwöhnt und behütet heran, mit heiteren Spielen mit den Eltern, mit Reimversen der Kinderfrau Anna und Neckereien des Hausdieners Xaver Kleinsgütl. Beißer in seiner „vierjährigen Manneswürde (…) leidet schwer unter den Misshelligkeiten des Lebens, neigt zu Jähzorn und Wutgetrampel, zu verzweifelten und erbitterten Tränenergüssen über jede Kleinigkeit“, was die Kinderfrau Anna auf sein „fettes Blut“ zurückführt. Lorchen dagegen, der Liebling ihres Vaters, gefällt sich darin, ihren Bruder zu unterrichten, ihn über „Krankheiten wie Brustentzündung, Blutentzündung und Luftentzündung“ aufzuklären, oder ihm im Bilderbuch die Vögel „Wolkenfresser, Hagelfresser und Rabenfresser“ zu zeigen.

Das Fest

Eines Abends geben die Großen im Hause der Eltern ein Fest. Cornelius, dem solche Aktivitäten eher zuwider sind, hält sich zunächst im Hintergrund und beschäftigt sich lieber mit der Verschuldung historischer Staaten. Später mischt er sich doch unter die Gäste und lässt sich von seinen Kindern u.a. den Brauereierben Zuber, den Schauspieler Herzl, den "Bankbeamten" und Wandervogel-Sänger Möller, vor allem aber den Studenten Max Hergesell vorstellen. Zu Anchovisbrötchen und Zigaretten tanzt man „Shimmys, Foxtrotts und Onesteps“. Die Kleinen genießen den seltenen Trubel und beteiligen sich in altersgemäßer Weise am Fest. Zu Lorchens großem Vergnügen bückt sich Hergesell zu ihr herunter und tanzt zum Spaß mit ihr wie mit einer erwachsenen Partnerin.

Auf einem kurzen winterlichen Abendspaziergang hängt Professor Cornelius schwermütigen Gedanken nach, vergleicht Hergesell mit seinem eigenen liederlichen Sohn Bert, räsoniert über seine morgigen Geschichtskollegien und insbesondere die Idee der Gerechtigkeit, über Sympathie und Melancholie.

Lorchens Seelennöte

Bei seiner Rückkehr berichtet man ihm von Lorchen Seelennöten: Sie war zu Bett gebracht worden, hatte sich dabei aber von ihrem „Tanzpartner“ Hergesell nicht lösen wollen. „Max soll mein Bruder sein“, fleht sie verzweifelt ihren Vater an. Der fragt sich vorwurfsvoll, was „die Tanzgeselligkeit da angerichtet“ hat, „mit ihren Ingredienzien“. Annas einfältigen Verweis auf die bei dem Kind „ganz uhngemein lepphaft in Vorschein treten(den) (…) weiblichen Triebe“ bügelt er brüsk nieder. Auf Kleinsgütls Vermittlung kommt Hergesell noch einmal zu Lorchen herauf, zeigt sich „im sichtlichen Vollgefühl seiner Rolle als Glücksbringer, Märchenprinz und Schwanenritter“ an Lorchens Bett, die daraufhin selig einschläft. Cornelius preist den Himmel, dass „so eine Kindernacht zwischen Tag und Tag einen tiefen und breiten Abgrund bildet“, dass morgen „der junge Hergesell nur noch ein blasser Schatten sein“ wird, „unkräftig, ihrem Herzen irgendwelche Verstörung zuzufügen.“

Interpretation

Autobiographisches

Zunächst fallen an der Erzählung starke autobiographische Züge auf. Schon die ungewöhnliche Familienkonstellation erinnert an Thomas Manns eigene Verhältnisse: Seine beiden älteren Kinder Klaus und Erika haben sich im Inflationsjahr 1923 in der Tat im Alter von Ingrid und Bert befunden, die um zwölf Jahre jüngeren Geschwister dürften Elisabeth und Michael Mann entsprechen. Auch das „Münchner Vorstadthaus“ trägt erkennbar Züge von Thomas Manns damaliger Bogenhausener Villa. Das Fest bei Professor Cornelius erinnert an die Künstler- und Atelierfeste der Weimarer Zeit.

Rückzug ins Private

Ein zentrales Thema der Erzählung ist der Rückzug ins Private eines Menschen, der sich vor den als "gesetzlos, frech und unhistorisch" empfundenen Zeitströmungen, eben der im Titel vorkommenden Unordnung, konsequent verschließt. Die schwierige politische Situation der Weimarer Republik mit ihrer Inflation und ihrem politischen Extremismus schlägt sich hier ebenso nieder wie der am Horizont heraufziehende Nationalsozialismus. "Vaterliebe und ein Kindchen an der Mutterbrust" seien daher "zeitlos und ewig und darum sehr heilig und schön". Und doch erkennt Cornelius das Unreine in dieser Liebe, "die Feindseligkeit darin, die Opposition gegen die geschehende Geschichte zugunsten der geschehenen, das heißt des Todes.

Emanzipation der Kinder

Ein weiteres Motiv besteht im schleichenden Verlust der Kinder im Zuge von deren Reifeprozess. Bert und Ingrid haben sich längst emanzipiert, nennen ihre Eltern gar scherzhaft „ehrwürdige Greise“, wollen gar „als Kellner in Kairo“ arbeiten. Aber auch Lorchens Erlebnis mit dem familienfremden Max Hergesell entspricht nicht nur dem zweiten Begriff des Novellentitel, dem frühen Leid, sondern ist ein erster früher Bote des Ausbrechens aus den vertrauten Kreisen. Noch kann es von Cornelius im Vertrauen auf die Kürze des kindlichen Gedächtnisses beiseitegeschoben werden. Aufhalten lässt es sich freilich nicht.

Max Hergesell

Interessant gezeichnet erscheint auch die Figur des Max Hergesell. Thomas Mann hat seinem Ruf als Schöpfer „sprechender Namen“ hier wieder alle Ehre gemacht: Der junge Mann hat sich „hergesellt“, ein „hergelaufener Geselle“, der sich ungefragt in wohlgemeinter, aber zerstörerischer Weise zwischen Vater und Tochter schiebt. Ambivalent ist des Professors Verhältnis zu ihm, schätzt er ihn doch ungeachtet dessen als „Mensch von Distinktion“ und als Vorbild für seinen Sohn Bert. Auf Zweifel an der Lauterkeit der Motive des Studenten Hergesell deutet indes des Professors scherzhaft-zweideutige Mahnung hin, „dass Sie sich nur keine Rückgratverkrümmung zuziehen beim Bücken“, die sich gewiss nicht nur auf einen rein physischen Vorgang bezieht.

Nebenfiguren

Beachtung verdienen schließlich auch die zahlreichen Gesindepersonen, die einen facettenhaften Einblick in die Sozialstruktur der Weimarer Zeit geben: Die einfältige, mit „strenger Beschränktheit“ agierende Kinderfrau Anna, die ihr neues Gebiss für den „Gesprächsstoff“ weiter Kreise hält und in überkompensatorischer Unterdrückung ihres Standesjargons auch weiche Konsonanten hart spricht. Der schalkhafte, mit seiner Stellung weitgehend zufriedene Xaver Kleinsgütl, dessen Namen Mann von seinem langjährigen renitenten Dienstmädchen Josepha Kleinsgütl („Affa“) entlehnt hat. Schließlich die aus dem Bürgertum in die Dienstbotensphäre abgestiegenen, von dem „von vornherein gleich niedrig geborenen“ Kleinsgütl verhöhnten Schwestern Hinterhöfer.

Frühe Ausgaben


Literatur

  • Thomas Mann: Unordnung und frühes Leid und andere Erzählungen. Frankfurt 1991, ISBN 359629441X

Weblinks

Film

Die Novelle wurde 1976 von Franz Seitz ausgesprochen textgetreu verfilmt, wobei aber in einer Art "Vorspann" Motive aus Tonio Kröger verarbeitet wurden. Darsteller sind u.a. Martin Held, Ruth Leuwerik, Hansi Kraus und Christian Kohlund.


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