Katastrophe von Bhopal

Katastrophe von Bhopal
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Katastrophe von Bhopal (Indien)
Katastrophe von Bhopal
Katastrophe von Bhopal
Blick über das ehemalige Fabrikgelände mitten in Bhopal

Die Katastrophe von Bhopal, auch Bhopalunglück, ereignete sich am 3. Dezember 1984 im indischen Bhopal, der Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh. In einem Werk des US-Chemiekonzerns Union Carbide Corporation traten aufgrund technischer Pannen mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre. Es war die bisher schlimmste Chemiekatastrophe und eine der bekanntesten Umweltkatastrophen der Geschichte. Tausende von Menschen starben an ihren unmittelbaren Folgen.

Inhaltsverzeichnis

Verlauf

Ab 1977 hatte der Konzern in Bhopal (Zentralindien) pro Jahr zunächst 2.500 Tonnen des Schädlingsbekämpfungsmittels Sevin produziert. Die Anlage war für eine Kapazität von 5.000 Tonnen ausgelegt. Da die Verkäufe von Sevin in Indien Anfang der 80er-Jahre aber rückläufig waren, hatte man Sparmaßnahmen zur Kostensenkung durchgeführt, wie z. B. die Einsparung von Personal, Verlängerung von Wartungsintervallen, Verwendung billiger Austauschteile aus einfachem Stahl anstelle von Edelstahl. Außerdem wurde eine Schließung der Fabrik ins Auge gefasst. Zum Zeitpunkt des Unglücks fand aufgrund von Überkapazitäten keine Produktion statt. Es wurden lediglich Wartungs- und Kontrollarbeiten durchgeführt. Nachdem Wasser in einen Tank für Methylisocyanat (MIC) eingedrungen war, kam es zu einer exothermen Reaktion, bei der so viel Kohlenstoffdioxid freigesetzt wurde, dass sich der Tankinnendruck stark erhöhte und zwischen 25 und 40 Tonnen Methylisocyanat sowie andere Reaktionsprodukte (vor allem Dimethylamin, 1,3,5-Trimethylisocyanurat, 1,3-Dimethylisocyanurat) durch die Überdruckventile in die Atmosphäre entwichen. Der gesamte Tankinhalt verflüchtigte sich in weniger als zwei Stunden. Das Wasser kam im Zuge von Reinigungsarbeiten, durch eine unglückliche Verkettung von Ereignissen sowie von Versäumnissen beim Unterhalt der Anlage in den Tank.

Methylisocyanat

Reversible Reaktion von MIC mit Glutathion

Methylisocyanat verursacht bei Exposition Verätzungen der Schleimhäute, Augen und Lungen, jedoch wurden bei Bhopalopfern vielfach auch schwere Verätzungen innerer Organe gefunden. Dieser Befund war insofern überraschend, als Methylisocyanat zu reaktiv ist, um unverändert in den Kreislauf zu gelangen. Seine direkte Toxizität resultiert aus der Fähigkeit, zahlreiche nukleophile Gruppen stoffwechselaktiver Biomoleküle anzugreifen. Der Mechanismus für den Transport wurde 1992 entdeckt. Demnach kann Glutathion, ein Tripeptid, dessen Aufgabe es eigentlich ist, den Organismus vor der Schädigung durch toxische Substanzen zu schützen, Methylisocyanat reversibel an die Mercaptogruppe addieren und damit im Körper transportieren.

Weitere Ursachen und Folgen

Reaktion des Wassers mit MIC

Grundlegende Ursache des Unglücks war eine stark exotherme Reaktion des gelagerten MIC mit Wasser im Lagertank 610 des Werks. Nach Angaben von Union Carbide Corporation (UCC) müssen damals zwischen 450 und 900 l Wasser in den Lagertank gelangt sein. MIC reagiert mit Wasser über 0 °C nach der Gleichung:

\mathrm{CH_3{-}NCO + H_2O \longrightarrow CO_2\uparrow + \ CH_3{-}NH_2}\uparrow

und somit unter starker Volumenzunahme beziehungsweise Druckerhöhung durch Entstehung des gasförmigen Kohlenstoffdioxids und des hochentzündlichen und ebenfalls gasförmigen Methylamins).

Qualitätsabweichungen

Zur Reaktion trug mutmaßlich außerdem bei, dass die Qualität des gelagerten MIC nicht spezifikationsgerecht war. Durch einen erheblich höheren Chloroformgehalt als spezifiziert (etwa 20 % statt 0,5 %) und die durch die exotherme Reaktion bedingte Temperatur von 100–200 °C kam es offenbar zur Bildung von Salzsäure, die den Tank oberflächlich korrodieren ließ. Die freigewordenen Metallionen katalysierten ihrerseits weitere exotherme Nebenreaktionen zu den oben erwähnten Nebenprodukten.

Eindringen des Wassers

Der Grund für das Eindringen des Wassers konnte sowohl im Untersuchungsbericht der Union Carbide Corporation (UCC) als auch dem Bericht der Gewerkschaften nicht abschließend geklärt werden. Es gibt drei diskutierte Hypothesen:

  • Verwechslung einer Wasserleitung mit einer Stickstoffleitung
  • Eindringen durch lecke Ventile beim Spülen von Leitungen
  • Absichtliche Einleitung zur einfachen Erhöhung des Drucks im Tank 610

Nichtfunktion der Sicherungssysteme

In der ehemaligen Union-Carbide-MIC-Fabrik

Obwohl zur Sicherung der Lagerung des MIC bei 0 °C ein separates Kühlsystem installiert war, war dies seit etwa fünf Monaten vor dem Unfall abgeschaltet; nach nicht weiter verifizierbarer Quellenlage möglicherweise, weil die verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe anderweitig benötigt wurden. Ein Natronlaugenwäscher zur Beseitigung auftretender Gase war nicht nachweisbar funktionsbereit. Eine Gasfackel zur Beseitigung aus dem Wäscher austretender Gase war seit drei Monaten abgeschaltet und die Verbindungsrohre zwischen ihr und dem Wäscher waren offenbar aus Wartungsgründen demontiert. Alle diese Sicherungssysteme wären allerdings selbst bei einwandfreier Funktion nicht im Entferntesten geeignet gewesen, einen derartigen Störfall abzufangen.

Die offiziellen Berichte geben Anlass zur Vermutung, dass außerdem das Anlagenpersonal reduziert und die Sicherheitsausbildung aus Kostengründen stark vernachlässigt gewesen seien. Die Alarmsirene sei zunächst abgeschaltet worden, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Schließlich seien die Tanks an Standards westlicher Industrienationen gemessen zu groß und überfüllt gewesen (Füllstand zum Zeitpunkt der Katastrophe zwischen 70 und 87 %). Vergleichbare Anlagen arbeiten mit Tanks unter 20.000 l und mit einer maximalen Füllmenge von 50 % der Gesamtkapazität. Mitverantwortlich für die hohe Anzahl der Opfer ist auch die Tatsache, dass die meisten Betroffenen in Richtung des Krankenhauses flohen und somit mitten in die Wolke hinein; Katastrophenpläne existierten nicht.

Für die Sicherheitsmängel in Bhopal und die daraus resultierenden Folgen wurde bis 2010 niemand persönlich vor der Justiz zur Verantwortung gezogen. Der damalige Vorstandsvorsitzende von Union Carbide, Warren Anderson, der nach der Giftgaskatastrophe aus den USA nach Indien geflogen und unmittelbar nach seiner Ankunft verhaftet worden war, kam gegen eine Kaution von 2.000 Dollar frei und entzog sich einer möglichen Bestrafung durch Flucht in die USA.

In der Folge der Unglücke von Bhopal und Seveso wurden international die Sicherheitsstandards verschärft.

Die Opfer

Mahnende Wandmalerei in Bhopal

Schätzungen der Opferzahlen reichen von 3.800 bis 25.000 Toten durch direkten Kontakt mit der Gaswolke sowie bis zu 500.000 Verletzten, die mitunter bis heute unter den Folgen des Unfalls leiden.[1][2] Die zum Teil großen Abweichungen der Schätzungen erklären sich vor allem aus der ungenauen Kenntnis über die Zahl der Einwohner des betroffenen Elendsviertels in dieser Zeit. Es lebten damals etwa 100.000 Menschen in einem Radius von einem Kilometer rund um die Pestizidfabrik. Die indischen Behörden hatten die Ansiedlung rund um die bestehende Fabrik zunächst geduldet, später sogar mit der Übertragung des Landes an die Bewohner legalisiert. Tausende erblindeten, Unzählige erlitten Hirnschäden, Lähmungen, Lungenödeme, Herz-, Magen-, Nieren-, Leberleiden und Unfruchtbarkeit. Später kamen Fehlbildungen an neugeborenen und Wachstumsstörungen bei heranwachsenden Kindern hinzu.[3]

Mangelnde Haftung

Union Carbide hatte das Chemiewerk aus finanziellen Gründen in ein Niedriglohnland mit niedrigen Sicherheitsvorschriften verlegt. Die indische Regierung verlangte 3 Milliarden US-Dollar Schadensersatz vom Unternehmen, welches dagegen Rechtsmittel einlegte. Die Firma zahlte nach langwierigen Verhandlungen und gegen Verzicht auf Strafverfolgung letztlich durch ein am 14. Februar 1989 vom Obersten Gericht Indiens gefälltes Urteil 470 Millionen Dollar (damaliger Jahresumsatz der Firma: 9,5 Milliarden Dollar) an den indischen Staat[4], der das Geld jedoch nur in geringen Teilen für die Opfer aufwendete. Weitere 250 Millionen US-Dollar zahlten Versicherungen[5]. Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen der Verletzungen und Vergiftungen. Ein Grund dafür ist auch, dass Dow Chemical sich bis heute weigert, das von Union Carbide ehemals genutzte Industriegelände von den hochgiftigen Überresten zu befreien und so den Gifteintrag in Luft und Grundwasser zu beenden. Dies ist aus Sicht des Unternehmens nachvollziehbar, da die von Dow Chemical 2001 aufgekaufte Union Carbide Corporation ihren Anteil von 50,9 % an der Union Carbide India Ltd. bereits 1994 (also über 9 Jahre nach der Katastrophe) verkauft hatte. Die Sanierung des mit Quecksilber und krebserregenden Chemikalien vergifteten Geländes ist bis heute nicht erfolgt, obwohl nach einer Greenpeace-Studie die Kosten lediglich in der Größenordnung von 30 Millionen Dollar lägen. Alle Auslieferungsgesuche der indischen Regierung für den zum Zeitpunkt des Unglückes amtierenden Vorstandsvorsitzenden von Union Carbide, Warren Anderson, wurden von den USA abgelehnt.

Strafrechtliche Aufarbeitung

Am 7. Juni 2010 – mehr als 25 Jahre nach dem Unglück – wurden erstmals acht[6][7] leitende Angestellte von einem indischen Gericht der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden und zu jeweils zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 1800 Euro verurteilt.[8][9]

Siehe auch

Literatur

  • Alfred de Grazia: A Cloud over Bhopal - Causes, Consequences and Constructive Solutions (HTML) 1985, ISBN 0-940268-09-9 „The first book on the Bhopal disaster, written on-site a few weeks after the accident.“
  • International Confederation of free trade unions: Bericht der Gewerkschaften über Bhopal. Genf, Juli 1985.
  • Indische Regierung: Report on scientific studies on the factors related to Bhopal toxic gas leakage. 12/1985.
  • Dominique Lapierre, Javier Moro: Fünf nach zwölf in Bhopal. Die unglaubliche Geschichte der größten Giftgaskatastrophe unserer Zeit. (Französische Originalausgabe: Il était minuit cinq à Bhopal 2001, übersetzt von Sabine Grimm), Europa Verlag, Hamburg / Leipzig / Wien 2004 , ISBN 3-203-79508-6.
  • Charles Perrow: Normale Katastrophen. Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik. (Originaltitel: Normal accidents übersetzt von Udo Rennert, mit einem Vorwort von Klaus Traube), 2. Auflage, Campus, Frankfurt am Main / New York, NY 1992 (deutsche Erstausgabe 1987), ISBN 3-593-34125-5.
  • Indien: Die chemische Apokalypse. In: Der Spiegel. Nr. 50, 1984, S. 108–120 (10. Dezember 1984, online).
  • International Campaign for Justice in Bhopal.
  • Umweltbundesamt, Störfallkommission: Das Bhopalunglück 1984, Kurzanalyse, Bewertungen, Schlußfolgerungen für die BRD. 8/1987.
  • Union carbide Corporation: Bhopal methylisocyanat incident. Danbury, Connecticut, 3/1985.

Einzelnachweise

  1. http://www.amnesty.de/bhopal
  2. http://www.icjb.org
  3. Reportage von Schweizer Radio DRS anlässl. des 25. Jahrestags
  4. Bhopal-Net: Fumigating Bhopal, The Hindustan Times vom 28. September 2006, abgefragt am 14. Februar 2009
  5. Le Monde diplomatique Fußnote zu Bhopal, 20 Jahre danach vom 10. Dezember 2004 abgefragt am 14. Februar 2009
  6. Zwei Jahre Haft auf Bewährung für 25.000 Tote
  7. Kleine Zeitung vom 8. Juni 2010, Seite 11.
  8. Wiedergabe der IAP-Meldung auf Tagesschau.de (nicht mehr online verfügbar)
  9. Bhopal-Katastrophe: 25 Jahre nach Giftgas-Katastrophe werden sieben Manager verurteilt (Tagesschau vom 7. Juni 2010 um 17:00 Uhr)

Weblinks

 Commons: Katastrophe von Bhopal – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
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