Melancholia I

Melancholia I
Melencolia I – Albrecht Dürer (1514)

Melencolia I oder Melancholia I (1514) ist einer der drei Meisterstiche Albrecht Dürers (vgl.: Ritter, Tod und Teufel und Der heilige Hieronymus im Gehäus). Er gilt als das rätselhafteste Werk Dürers und zeichnet sich – wie viele seiner Werke – durch eine komplexe Ikonographie und Symbolik aus.

Inhaltsverzeichnis

Bildinhalt und Symbolik

  • Die zentrale und wichtigste Figur ist eine engelhafte geflügelte Gestalt.
  • An ihrer Seite sitzt ein Putto (Vermittler zwischen irdischer und himmlischer Sphäre) schreibend oder zeichnend auf einem Mühlstein, der möglicherweise das unerbittliche Mahlen der Zeit verdeutlicht.
  • Auf dem Boden liegt ein Hund, ein Tier, das auch in anderen Stichen Dürers vorkommt und für Treue steht, wobei der hier dargestellte Hund einen eher kränklichen Eindruck vermittelt. Des Weiteren kann der Hund als ein traditionelles Symbol für die Melancholie betrachtet werden.
  • Um die zentrale Figur liegen einige Gegenstände verstreut herum: Hammer, Zange, Nägel, Säge und Hobel. All diese Gegenstände sind Werkzeuge des Künstlers und Handwerkers (z. B. Zimmermann).
  • Eine Kugel und ein Polyeder (ein an zwei Ecken abgestumpftes Parallelepiped – siehe Hauptartikel: Dürer-Polyeder). Die Seitenflächen sind zwei reguläre Dreiecke und sechs nicht-reguläre Fünfecke; die zwölf Ecken gehören zwei Typen an: in sechs Ecken stoßen je ein gleichseitiges Dreieck und zwei Fünfecke zusammen, in sechs Ecken je drei Fünfecke.
  • Am Gebäude hinter den beiden Figuren hängen eine Waage (das Abwägen als Ursache für Melancholie, aber auch das „Messen und Wiegen von Taten”), eine kombinierte Sand- und Sonnenuhr (Tod und Vergänglichkeit) und eine Glocke (Totenglocke, Bezeichnung eines bestimmten Zeitpunktes). An der Wand lehnt eine Leiter, die als Verbindung zum Himmel gedeutet werden kann. Unterhalb der Glocke ist ein magisches Quadrat in die Wand graviert. Es enthält die Zahl 1514, das Jahr, in dem das Kunstwerk geschaffen wurde (wiederholt zusammen mit dem üblichen AD-Signet auf der Stufe am rechten Bildrand) und zudem das Todesjahr von Dürers Mutter. Wie die geometrischen Figuren und der Zirkel in der Hand der engelhaften Gestalt ein Symbol für die Geometrie, mit der sich Dürer intensiv beschäftigt hatte.
  • Des Weiteren findet sich im Quadrat eine verschlüsselte Botschaft. Man kann jede Zeile aufsummieren und man erhält die Zahl 34, dasselbe gilt für jede Spalte. Dreht man die Zahl 34 um, so erhält man die Zahl 43, die das Alter Dürers im Jahr 1514 wiedergibt. Auch in den beiden Diagonalen, in etlichen weiteren symmetrisch angeordneten Zahlengruppen (16+13+4+1, 5+3+14+12, 5+8+9+12 usw.) und in den in der Form eines Drachenvierecks liegenden Kästchen (z.B. 3+5+11+15) ist die Summe 34 versteckt. Bildet man die Quersumme der zweistelligen Zahlen (also 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16) und summiert diese auch wieder nach Zeilen und Spalten auf (also 1+6+3+2+1+3 für Zeile 1), erhält man die Zahl 16 (Das trifft auch für die Diagonalen und die oben erwähnten in symmetrischer Anordnung verteilten Kästchen zu.), außer in der dritten Zeile und der ersten Spalte, dort beträgt die Summe 25. Die Zahl 9 im Kreuzungspunkt der dritten Zeile und der ersten Spalte ist in Spiegelschrift dargestellt, die 5 im Feld darüber steht auf dem Kopf.
  • Im Bildhintergrund erkennt man eine Stadt. Der Himmel wird von einem Kometen oder der Sonne erhellt (gänzlich im Widerspruch zum Schattenwurf an der Gebäudewand) und von einem Regenbogen (Sinnbild der Versöhnung und des Bundes zwischen Gott und den Menschen) überspannt.
  • Eine Fledermaus trägt ein Spruchband, auf dem der Titel des Werks steht.

Deutung

Dieses äußerst rätselhafte Werk verschließt sich einer vollständigen Interpretation. Ein naheliegender Ansatz besteht darin, es als eine Allegorie der Melancholie oder Depression zu sehen. Ferner besteht die Möglichkeit, es in Beziehung zu den anderen Meisterstichen zu setzen. Ähnlich wie die Temperamentenlehre sich in den Vier Aposteln widerspiegelt, stellen die drei Meisterstiche drei unterschiedliche Lebensformen dar. Den mittelalterlichen Vorstellungen der vita activa des Ritters und der vita contemplativa des Hieronymus stellt Dürer eine dritte, möglicherweise modernere Lebensform gegenüber.

Die Frauengestalt steht nicht nur für die Melancholie, sondern auch für den Künstler. Der Künstler ist anders als seine Mitmenschen von einem tiefgründigeren Wesen. Sein Genie ist zugleich Segen und Fluch, da er durch ein Jammertal aus Trübsal muss, ehe er zur Kunst gelangt. Melancholie wird als eine Voraussetzung für Kreativität verstanden. Durch die Symbolik des Bildes werden außerdem Kunst und Tod miteinander in Verbindung gebracht.

Ein interessanter Aspekt ist zudem, dass die Figur des Künstlers untätig Gedanken wälzt, anstatt sich künstlerisch zu betätigen (wie in der durch den eifrig beschäftigten Putto dargestellten „Jugend“). Möglicherweise spürt sie ein Unbehagen angesichts der Begrenztheit der eigenen Existenz und der eigenen Kunst, die nicht an das Göttliche heranreicht.

Albrecht Dürer scheint viel von seinem eigenen Selbstverständnis in das Bild eingearbeitet zu haben. Der Stich ist auf unzählige Weisen interpretierbar und verwehrt sich einer endgültigen Auslegung. Aus diesem Grund wird er zu Recht und nicht nur wegen der großen Kunstfertigkeit zu den „Meisterstichen“ gezählt.

Rezeption

Gottfried Keller inspirierte Dürers Blatt zu dem Gedicht Melancholie. In dessen letzter Strophe deutet der Dichter die Engelsgestalt im Sinne der Romantik als Verkörperung der künstlerischen Phantasie.

Der ursprüngliche Titel von Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel sollte, nach Dürers Kupferstich „Melancholia” sein. Der endgültige Titel, französisch „La nausée”, wurde ihm erst vom Verleger Sartres verliehen.[1]

Thomas Mann erwähnt das Zahlenquadrat in seinem Roman „Doktor Faustus”. Es hängt über dem Pianino der Hauptfigur Adrian Leverkühn in seiner Studentenwohnung in Halle. Das Bild unterstreicht das streng Ungeistliche in Bezug auf die Musik beim Künstler.

Bei Günter Grass („Aus dem Tagebuch einer Schnecke”) ist die Melencolia das einzige Bild, das der vor den Nationalsozialisten fliehende Lehrer Zweifel mitnimmt.

Literatur

  • Hartmut Böhme: Albrecht Dürer, Melencolia I : im Labyrinth der Deutung Fischer, 1989, ISBN 3-596-23958-3,
  • Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Suhrkamp: Frankfurt, 1990, ISBN 3-518-57981-9,
  • Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. (1928) In: Gesammelte Schriften Band I.1. Frankfurt a.M. 1991. S. 203–430. Zu den Sinnbildern Hund, Kugel und Stein und zu Dürer S. 326ff.
  • Karl Giehlow: Dürers Stich Melencolia I und der maximilianische Humanistenkreis. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 26 (1903), Nr. 2, S. 29–41; 27 (1904), Nr. 3, S. 6–18, Nr. 4, S. 57–78.
  • Friedrich Wolfram Heubach: Ein Bild und sein Schatten. Zwei randständige Betrachtungen zum Bild der Melancholie und zur Erscheinung der Depression. Bonn 1997
  • Peter-Klaus Schuster: Melencolia I : Dürers Denkbild.Berlin 1991, (2 Bände) ISBN 3-7861-1188-X

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Jean-Paul Sartre: „Der Ekel”; Rowohlt Taschenbuch; Reinbek 2003

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