Memen

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Mit Mem wird in der Theorie der Memetik eine Idee oder ein Gedanke als konzeptuelle Informationseinheit bezeichnet. Solch ein Mem entwickelt sich zuerst im Fühl- und Denkvermögen eines Individuums und wird durch Kommunikation weiterverbreitet. Durch individuelles Nachdenken und durch Kontakt mit anderen Memen entwickeln sich diese weiter. Beispiel: Ein Gerücht, das von einer Person erdacht und mitgeteilt wird, verbreitet sich je nach Brisanzgrad weiter. Es tauchen weitere Varianten des Gerüchtes auf.

Inhaltsverzeichnis

Konzept

Ein Mem ist eine Gedankeneinheit, die sich durch soziologisch-dynamische Prozesse vervielfältigt (reproduziert) und auf diesem Weg ihre Existenz (als Replikator) sichert. Das heißt, dass das Mem auch aktuell reproduziert wird, also mindestens einmal zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden ist. Bei der Reproduktion übernimmt ein Anderer einen bestimmten Gedanken, der entsprechend dessen persönlichen Erfahrungs- und Erkenntnisrahmens angepasst wird. Die sprachliche Gestaltung ist dabei nicht wesentlich. Deshalb wäre es treffender, von einer Vorstellungseinheit zu sprechen. Es kann sich beispielsweise auch um eine Tonfolge handeln (dadadadaaa – Beginn der 5. Sinfonie Beethovens). Nach Richard Dawkins ist die Replizierbarkeit entscheidend. Beispielsweise sei der Begriff „Mem“ selbst ein Mem, während die drei Buchstaben bzw. Laute „M“, „e“ und „m“, aus denen er besteht, keine Meme sind, sofern man sie nicht in ihrer Buchstabeneigenschaft betrachtet.

Theoretischer gesagt wird die Begrifflichkeit des Mem als Replikator der kulturellen Evolution eingeführt, und zwar als hypothetisches Analogon zum Gen als der grundlegenden replikativen Struktur im Rahmen einer darwinschen Theorie der natürlichen Selektion für den Bereich der Kultur. Mit dieser Analogisierung geht die Annahme von Prozessen der kulturellen Replikation, Variation und Selektion einher: Als Mem verstanden wäre die monotheistische Festlegung auf einen Gott z. B. ein erfolgreicher kultureller Replikator (gemessen z. B. an seiner Verbreitung), während z. B. der Glaube an die Wirkung von Regentänzen sich nicht global durchsetzen konnte, irgendwann sogar einer kulturellen Auslese zum Opfer fiel und nun ein Nischendasein führt.

Mit dem Mem-Konzept versuchte 1976 der Evolutionsbiologe Richard Dawkins in seinem Buch The Selfish Gene (deutsch: Das egoistische Gen) seine selektionstheoretische Idee des Gens als einem Replikator und dem eigentlichen Ort der Selektion zu veranschaulichen. Von dort aus fand es seinen Weg auch in geistes- und kulturwissenschaftliche Diskurse. Zusammen mit konzeptuellen Ideen sollten mit dem Mem-Konzept ebenso Melodien, Moden oder kulturelle Praktiken wie z. B. das Bogenbauen auf einen begrifflichen Nenner gebracht werden. Später erwuchs daraus Dawkins Idee einer „informationalen Epidemiologie“ als einer wegweisenden kulturtheoretischen Perspektive auf die Verbreitung, Variation und Selektion „kultureller Informationen“. Beide Vorschläge waren und sind heftig umstritten und konnten bisher nicht empirisch fundiert werden.

Wie eine verwandte Wortschöpfung, das „Kulturgen“ des Soziobiologen Edward O. Wilson, veranschaulicht, handelt es sich bei dem zu Grunde liegenden Ansatz um ein Erklärungsmodell für kulturellen Wandel oder Fortschritt; dementsprechend werden Begriffe wie Gedanke, Idee und so weiter im Konzept des Mems subsumiert. Die genaue ontologische Beschaffenheit eines möglichen Substrats dieses Konzepts wird allerdings nicht näher spezifiziert.

Hinzu kommt eine Komponente der Stabilität, die bei der Vervielfältigung den Informationsgehalt möglichst unverfälscht erhält. Als Beispiel nennt Dawkins die Religion, die den Selbsterhalt ihres Inhalts durch Verbote der Abweichung (Sünde), Koppelung an ein Gruppenverhalten und ungefragte Einbindung in diese Gruppe (Taufe) bewerkstelligt.

Nach der Memetik werden Informationseinheiten im Gehirn des Individuums sowie im Kontext der Kultur ständig reproduziert. Wie die Gensequenz fungiert dabei jedes Mem als Replikator, das heißt als sich selbst vervielfältigende Struktur. Es wirken dabei die gleichen Prinzipien wie in der Darwinschen Evolutionstheorie: Mutation, Selektion, Drift und so weiter, so dass sich sukzessive Abstammungslinien herausbilden. Da die kulturelle Evolution gegenüber der biologischen einen erheblich höheren Grad der Diffusion aufweist und die Weitergabe von Memen aufgrund verschiedener Störquellen und der Besonderheiten des Reproduktionsmechanismus (Imitation) größtenteils sehr unvollkommen erfolgt, ist die memetische Evolution besonders beschleunigt.

Das Mem findet seinen Niederschlag in der „Memvorlage“ (im Gehirn oder einem anderen Speichermedium) und der „Memausführung“ (zum Beispiel Kommunikation: Sprache als so genannter „Memplex“; vgl. Blackmore).

Durch die Mem-Hypothese lässt sich eventuell nicht nur die Evolution etwa der Vogeldialekte erklären, sie sucht auch so komplexe soziale Phänomene wie Sprachwandel oder die Ausbreitung verschiedener missionarischer Religionen und Kulte zu erhellen. Außerdem zeigen die Vertreter dieser Hypothese koevolutive Korrespondenzen zwischen genetischer und „memetischer“ Evolution (Hirnentwicklung) auf.

Mihaly Csikszentmihalyi betont den invasiven Charakter der Meme. Die Menschen widmeten sich mehr und mehr der Verbreitung der Meme statt ihren eigenen Interessen.

Kritik

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Nützlichkeit

  • Fragen und Forderungen: Welche Erkenntniszugewinne können sich bei solchen Anleihen bei der biologischen Evolutionstheorie in der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung ergeben? Wird mit der Mem-Hypothese der Anspruch erhoben, soziale und kulturelle Entwicklungen in einer Weise zu analysieren, die dem naturwissenschaftlichen Verständnis der Realität entspricht, so muss die Memetik zeigen, dass sie zu anderen, weiter reichenden und belastbareren Aussagen gelangen kann als die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften herkömmlicher Art. Wenn Mem hingegen lediglich eine naturalisierende Wortneuschöpfung für Ideen oder Gedanken, eine originelle Metapher für gesellschaftliche Aspekte individuellen Denkens, ist, muss Ockhams Rasiermesser zum Einsatz kommen: Entitäten sollen nicht unnötig vervielfacht werden.
  • Am Konzept des Mems wird kritisiert, dass im Unterschied zu der Evolution auf genetischer Basis sich die Memetik kaum auf eine präzise Darstellung des Evolutionsmechanismus stützen könne. Vielmehr werde weitgehend vermischt, was eigentlich die definitive Einheit der Evolution sei (sprachlich kodierter Begriff, Gedanke, dogmatisches System, z. B. Religion), noch werde erklärt inwiefern von Mutation und Selektion gesprochen werden könne und welche Mechanismen hier konkret wirken würden. Als Beispiele für blind evolvierende Meme werden bezeichnenderweise oft Gerüchte oder Religion angeführt, seltener wissenschaftliche Theorien. Ihre Verbreitung soll dann durch Selbstreplikation „erklärt“ werden, ohne – wie dies bei der klassischen evolutionsbiologischen Erklärung der Fall wäre – die Durchsetzung der Evolutionseinheit mit einem Anpassungsvorteil zu begründen. Insofern gehe es wohl eher um eine lose Metapher, die auch Naturwissenschaftlern plausibel machen soll, dass es neben physikalischen Gesetzen und genetischer Determination noch eine Welt der Ideen gibt.
  • Frage aus materialistischer Sicht: Handelt es sich bei der Memetik, bei der Ideen als „Quasi-Akteure“ die Evolution vorantreiben, etwa um einen philosophischen Idealismus, bei dem der alte Geist in ein naturwissenschaftlich-modern anmutendes Gewand gehüllt wird?
  • Gegenkritik: Die Mem-Hypothese zielt auf die Widerlegung der Annahme des freien Willens ab und will den Determinismus geistiger Vorgänge aufzeigen. Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften herkömmlicher Art machen hier weniger klare Aussagen, allerdings finden sich z. B. deterministische Überbautheorien im Vulgärmarxismus. Die in der naturwissenschaftlichen Diskussion vorherrschende Auffassung einer “beschränkten Willensfreiheit“ ist mit gewissen Spielarten der Memtheorie durchaus vereinbar.
  • Gegenkritik: Die Theorie von der Evolution gedanklicher Informationen hat genauso viel Sinn wie die Theorie der Evolution genetischer Information. Sie beschreibt letztendlich das gleiche Phänomen, unterschiedlich sind nur die Träger der Information, das sogenannte Substrat. Wer den Sinn der Memtheorie bezweifelt, möge daher begründen, weshalb er den Sinn der Theorie von der Evolution der Arten anerkennt.
  • Kritik: Die Argumente gegen die Memtheorie erinnern an die Argumente der Evolutionsgegner vor hundertfünfzig Jahren. Im Unterschied zu den Kritikern biologischer Evolutionstheorien wie auch der Genetik können Kritiker der Memtheorie darauf verweisen, dass es für die Existenz von Memen keine empirischen Belege der Art gibt, wie es sie z. B. für die Existenz von Genen gibt. Selbst wer die Memtheorie als sinnvoll erachtet, muss daher nach der empirischen Evidenz fragen. Aus der Tatsache, dass die Memtheorie einer wissenschaftlich anerkannten Theorie nachgebildet ist, folgt noch nicht, dass sie dieselbe Anerkennung verdient.
  • Kritik: Der Beschreibung des Mems wird entgegen gehalten, dass der Kerngedanke nicht wesentlich neu, sondern in der Biologie in gewissen Bereichen bereits etabliert war, bevor dieser Begriff durch Dawkins geprägt wurde, etwa in „Das sogenannte Böse“ von Konrad Lorenz.

Nominalismus

  • Kritik (zusammengefasst): „Ein Satz kann widerlegt werden, ein Maschinengewehr nicht.“ Ein Problem besteht zwischen der Idee und dem materiell Gegebenen. Hinzu kommt, dass es generell schwierig ist, evolutionäre Ideen auf den Menschen anzuwenden. Mit Hinblick auf die Möglichkeit der Menschheit, durch einen nuklearen Krieg alles organische Leben auf der Erde auszulöschen, ist es zweifelhaft, inwieweit sich der Mensch nur nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur verhält und ob er etwa schon ganz aus dem evolutionären Rahmen fällt.
  • Gegenkritik: Viele können mit dem abstrakten Begriff Information nichts anfangen. Information hat weder mit Materie noch mit Energie zu tun. Dennoch existiert sie, um diesen Begriff bemüht sich mittlerweile ein ganzer Wissenschaftszweig, die Informationstheorie. Die Genetik ist wortwörtlich „greifbarer“, weil man es hierbei mit Materie, den DNA-Molekülen als Informationsträger zu tun hat. Allerdings hat Charles Darwin die Vererbungslehre und die Evolution bereits beschrieben, ohne dabei Kenntnis von genetischen Grundlagen zu haben. Die Art und Weise, wie gedankliche Information im Gehirn gespeichert wird, beginnt man gerade erst zu verstehen. Auch ohne Hintergrundwissen hinsichtlich der Art und Weise der Informationsspeicherung im Gehirn kann man hier das Grundprinzip des Evolutionsalgorithmus erkennen, genauso wie man das Prinzip der Entwicklung der Arten erkannte, lange bevor man etwas von DNA-Molekülen wusste.
  • Die Möglichkeit des Menschen, sich selber und alles organische Leben auf der Erde auszulöschen, stellt ihn nicht automatisch über die Evolution bzw. trennt ihn nicht von ihr. Wer das behauptet, unterstellt, einen Sinn, ein Ziel, der Evolution zu kennen. Dass dieses nicht existiert ist eine Hauptaussage der Evolutions-Theorie nach Darwin. Auch der Mensch unterliegt den Naturgesetzen.
  • Im Übrigen behauptet die Memetik nicht, dass die kulturelle Entwicklung durch (genetische) Evolution entstünde, sondern in Analogie zur (genetischen) Evolution, weswegen sie anhand von evolutionären Modellen beschreibbar sei.

Atomismus

An dem Konzept des Mems wird auch kritisiert, dass es auf einer isolierten Betrachtung einzelner Ideen beruht. Es wird die Betrachtung von „kollektiv-autokatalytischen Verbänden von Memen“ eingefordert (Stuart Kauffman, Der Öltropfen im Wasser, München 1996, S. 463). Den Versuch einer solchen Betrachtung bildet die Theorie der Memplexe.

Etymologie

Das Wort Mem ist etymologisch dem Begriff Gen nachempfunden und hat mehrere weitere Bezüge:

Literatur

  • [1] Scott Atran, The Trouble with Memes, Human Nature 12, 4 (2001), S. 351 ff.
  • Robert Aunger: The Electric Meme. A New Theory of How We Think, New York 2002, ISBN 0-7432-0150-7.
  • A. Becker, C. Mehr, H. H. Nanu: Gene, Meme und Gehirne, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, ISBN 3-518-29243-9.
  • Susan Blackmore: Die Macht der Meme, Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag, 2000, ISBN 3-8274-1601-9.
  • Rolf Breitenstein: Memetik und Ökonomie. Wie die Meme Märkte und Organisationen bestimmen, Münster: LIT, 2000, ISBN 3-8258-6246-1.
  • Richard Brodie: Virus of the Mind, Seattle: Integral Press, 1996; ISBN 0-9636001-1-7.
  • Mihaly Csikszentmihalyi: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben, Stuttgart: Klett-Cotta, 2000, ISBN 3-608-91018-2.
  • Olaf Dilling: Hypochonder des Geistes. Kritische Anmerkungen zu Richard Dawkins Theorie kultureller Evolution, Marburger Forum, Heft 2008/3, [2].
  • Aaron Lynch: Thought contagion, New York: Basic Books, 1996, ISBN 0-465-08466-4.
  • Franz Wegener: Memetik. Der Krieg des neuen Replikators gegen den Menschen, Gladbeck, Norderstedt: Kulturförderverein Ruhrgebiet, 2001; ISBN 3-931300-08-0.
  • Polichak, James W.: Wozu sind Meme gut? Eine Kritik memetischer Ansätze zum Verständnis der Informationsverarbeitung. In: Skeptiker 1/2004, S. 4 -12.

Buchbesprechung

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