Moishe Postone

Moishe Postone

Moishe Postone (* 1942) ist Dozent für Geschichte an der University of Chicago.

Er lebte von 1972 bis 1982 in Frankfurt am Main und war Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung. 1983 promovierte er an der dortigen Johann Wolfgang Goethe-Universität. Heute lehrt er am Department of History der University of Chicago.

Seine Arbeitsschwerpunkte sind moderne europäische Geistesgeschichte, Kritische Theorie, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Antisemitismus und globale Transformation. Postone gilt als prominenter Vertreter einer wertkritischen Fortschreibung der marxschen Theorie.

Inhaltsverzeichnis

Auseinandersetzung mit der deutschen Linken

In der Bundesrepublik ist Moishe Postone erstmals bekannt geworden durch seinen Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus [1], der 1979 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus erschien sowie durch den 1985 verfassten Offenen Brief an die Deutsche Linke[2].

Der Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus reflektiert die Aufnahme des Filmes Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss und den Antisemitismus in der BRD. Er wurde zu einem der theoretischen Schlüsseltexte für die wertkritische Strömung der Linken. In ihm wirft Postone der deutschen Linken vor, sie würde sich auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus beschränken und einer historischen Konfrontation mit dem Dritten Reich aus dem Weg gehen. Sie neige dazu, den Antisemitismus als Randerscheinung des Nationalsozialismus zu behandeln. Das Ergebnis sei, „dass die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer (oder totalitärer) Massenmorde erscheinen oder unerklärbar bleiben“. [3]

In seinem Offenen Brief an die deutsche Linke zeigte sich Postone erschüttert vom Desinteresse der deutsche Linken am Besuch von Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS-Mitglieder begraben sind. [4] Postone interpretierte den Besuch in Bitburg als „Rehabilitierung der Nazi-Vergangenheit“, die von der deutschen Linken nahezu unbeachtet geblieben sei. Dies bringe „ein Maß von Blindheit zum Ausdruck, das seinerseits nur bestätigt, wie weitgehend die fundamentale Verdrängung im Kern des nachkriegsdeutschen sozialen Bewußtseins die Gegenwart durchdrungen hat und an eine neue Generation übertragen worden ist.“ [5]

Antisemitismustheorie

Postone ist vor allem wegen seiner Antisemitismustheorie bekannt. Er betrachtet den modernen Antisemitismus als Variante des „Fetischs“ im Marxschen Sinn. In seinem Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus betont er, dass die Macht und Gefahr des modernen Antisemitismus darin liege, dass er „eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen Ausdruck verleiht“. Er lasse aber den Kapitalismus „dahingehend bestehen, als er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Formen angreift“. [6]

Marx-Interpretation

Mit seiner 1993 erschienenen Marx-Interpretation Time, Labor and Social Domination (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft)[7] will Postone die Theorie von Marx grundsätzlich von der marxistischen Theorietradition abheben.

Postone wendet sich gegen solche marxistischen Theorien, die die kapitalistische Produktionsweise unter dem Gesichtspunkt von Ausbeutung und Klassenherrschaft anprangern und sich auf die Kritik an der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums beschränken. Postone will dagegen zurück auf die Analyse der abstrakten Formen der kapitalistischen Produktionsweise – Ware, Wert, Arbeit, Kapital. Ausgangspunkt ist für ihn dabei der Doppelcharakter der Arbeit, d. h. der Differenzierung von abstrakter und konkreter Arbeit. Entsprechend dieser führt Postone seine eigene Unterscheidung von abstrakter und konkreter Zeit ein.

Schriften

In Deutsch

  • Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Ça ira, Freiburg 2010, ISBN 3-924627-58-4.
  • Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Ça ira, Freiburg 2005, ISBN 3-924627-33-X (formal falsche ISBN). (Längerer Auszug siehe Weblinks)
  • Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg 2003.
  • Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“. Die unaufgelöste Antinomie von Universalität und Besonderem. In: Gary Smith (Hrsg.): Hannah Arendt revisited: "Eichmann in Jerusalem" und die Folgen. Frankfurt 2000.
  • Dekonstruktion als Gesellschaftskritik. Jacques Derrida über Marx und die Neue Weltordnung. In: Krisis. 21/22, Bad Honnef 1998, S. 115ff.
  • Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt 1988, S. 242ff., aus: Merkur. 1, 1982, S. 13-15.
  • Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus. (mit Barbara Brick), In: Wolfgang Bonß, Axel Honneth (Hrsg.): Sozialforschung als Kritik. Frankfurt 1982.

Andere Sprachen

  • Critique, State and Economy, in: Fred Rush (Hg.), The Cambridge Companion to Critical Theory, Cambridge 2004
  • Marx est-il devenu muet: Face à la mondialisation?, Paris 2003
  • Catastrophe and Meaning: The Holocaust and the Twentieth Century (als Herausgeber mit Eric Santner), Chicago 2003
  • Lukács and the Dialectical Critique of Capitalism, in: R. Albritton/J. Simoulidis (Hgg.), New Dialectics and Political Economy, Houndsmill/Basingstoke/New York 2003
  • Contemporary Historical Transformations: Beyond Postindustrial and Neo-Marxist Theories, in: Current Perspectives in Social Theory Vol. 19, Stamford 1999
  • Rethinking Marx in a Postmarxist World, in: Charles Camic (Hg.), Reclaiming the Sociological Classics, Cambridge 1998
  • Bourdieu: Critical Perspectives (als Herausgeber mit Craig Calhoun und Edward LiPuma), Chicago/Cambridge 1993
  • Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx's Critical Theory, New York/Cambridge 1993
  • Political Theory and Historical Analysis, in: C. Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge 1992
  • History and Critical Social Theory, in: Contemporary Sociology Vol. 19, No. 2, March 1990
  • After the Holocaust: History and Identity in West Germany, in: K. Harms/L.R. Reuter/V. Dürr (Hgg.), Coping with the Past: Germany and Austria after 1945, Madison 1990

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Redaktion diskus (Hg.): Küss den Boden der Freiheit. Diskus – Texte der Neuen Linken. Berlin-Amsterdam 1992, S. 425-437.
  2. Moishe Postone: Offener Brief an die deutsche Linke, in: Bahamas, Nr. 10 (1993), S. 26-28.
  3. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, siehe Weblinks
  4. Vgl. Bitburg-Kontroverse
  5. Moishe Postone: Offener Brief an die deutsche Linke, S. 27
  6. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, S. 192, siehe Weblinks
  7. Moishe Postone: Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx's Critical Theory, New York/Cambridge (1993). Dt.: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx (2003)

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