- Wertkritik
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Als Wertkritik bezeichnet man ein Theoriegebäude bestimmter postmarxistischer Kritikansätze an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.
Inhaltsverzeichnis
Positionen
Wertkritiker übernehmen von Karl Marx dessen Kritik am Warenfetischismus (vergleiche auch: Fetisch) von Ware, Wert und Geld. Sie wenden sich gegen die gesellschaftliche Vermittlung durch (abstrakte) Arbeit, kritisieren jedoch Marx' Klassentheorie und die Geschichtsphilosophie des Marxismus. Die Arbeiterklasse ist aus wertkritischer Sicht selbst Teil des kapitalistischen Systems und deshalb nicht in der Lage, eine Rolle als revolutionäres Subjekt zu übernehmen.
Arbeit wird nicht etwa wie im 'Traditionsmarxismus' als überhistorische Tätigkeitsform angesehen, sondern sie wird genauso als kapitalismusspezifische Erwerbsarbeit kritisiert wie das Kapital, da beide auf demselben System der Wertverwertung beruhen. Das systemische Geschehen des sich unablässig selbstverwertenden Werts wird in der kapitalistischen Gesellschaft fetischistisch objektiviert als Ensemble von Sachzwängen und, so eine Marx'sche Formulierung, „automatisches Subjekt“ (Das Kapital Bd. 1, MEW 23: S. 169). Die Menschen dienen diesen von den Menschen eigentlich selbstgeschaffenen Sachzwängen dabei hauptsächlich als Objekte und Material innerhalb des Verwertungsprozesses, der von Ware, Wert, Geld und (abstrakter) Arbeit bestimmt wird. Alles Sinnliche, die Menschen und ihre Bedürfnisse sowie das ökologische System der Erde und die Natur bleiben dem System der Wertverwertung äußerlich, und sind ihm prinzipiell gleichgültig.
Der Kapitalismus wird von Wertkritikern kritisiert, weil er für sie die indirekte Herrschaft eines abstrakten Verhältnisses über die Menschen darstellt, gleichwohl die Menschen dieses Verhältnis täglich aufs Neue selbst aktiv reproduzieren. Vielen Wertkritikern gilt das von Roswitha Scholz entwickelte Theorem der Wert-Abspaltung als wesentlich bestimmend für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft. „Wert“ und „Abspaltung“ werden als ein dialektisch vermitteltes und in sich gebrochenes Strukturverhältnis begriffen, das diese Gesellschaftsordnung bzw. das „warenproduzierende Patriarchat“ und die in ihr lebenden Individuen wie ein Webwerk durchzieht und wesentlich formt.
Die bürgerliche Aufklärung und das 'bürgerliche Subjekt' (als kapitalistische Zurichtungsform des menschlichen Individuums) werden von Wertkritikern vehement kritisiert. Dabei knüpfen sie vor allem an die Erkenntnisse der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer sowie der Psychoanalyse von Sigmund Freud an - treiben deren Ansätze aber über sich selbst hinaus, erweitern und verändern sie. Häufig gehen sie dabei der Dialektik von Befreiung und Zwang verlustig, die vor allem Horkheimer und Adorno betonen.
Die warengesellschaftlich-patriarchalen Verhältnisse und Formierungen/Zurichtungen zu überwinden und eine neue Gesellschaft, einen „Verein freier Menschen“ (Marx)[1], anzustreben, ist erklärtes Ziel der Wertkritik. Sie vertritt die Perspektive einer Transformation der bestehenden Verhältnisse hin zu einer befreiten Gesellschaft, in der die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nicht über Arbeit, Wert und Geld vermittelt wird, sondern direkt über die (etwa durch Räte organisierte) Absprache der Gesellschaftsmitglieder untereinander geschieht. Größtenteils konzentriert sie sich jedoch auf die theoretische Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft. Die andere, angestrebte wird zumeist nur negativ durch die Kritik an bestehenden Zwängen und Zumutungen bestimmt und es wird selten konkreter ausgeführt, wie eine emanzipatorische Transformation möglich sein könnte.
Die bekanntesten Vertreter der Wertkritik sind in Deutschland die Gruppen Krisis und EXIT!, die von 1999 bis 2006 bestehenden Wertkritischen Kommunisten Leipzig sowie in Österreich die Gruppe SINet.
Kritik an der Wertkritik
Der Wertkritik wird häufig vorgeworfen, sie bleibe bei einer ‚Kritischen Kritik‘ stehen, die zudem wenig Raum für Handlungsoptionen lasse. Während in anderen Teilen der Linken Versuche unternommen würden, eine Vorstellung von einer anderen, nicht-kapitalistischen Welt konkret umzusetzen, kämen aus der Wertkritik hingegen keinerlei diesbezüglichen Impulse.
Zahlreiche Vertreter postoperaistischer Strömungen wie Gerhard Hanloser und Karl Reitter werfen der Wertkritik eine verkürzte Marxlektüre vor. Die Wertkritik betrachte alle Phänomene des Kapitals vom Standpunkt der Zirkulationssphäre aus. Diese sei jedoch gar nicht aus sich selbst zu verstehen, sondern könne erst durch den Gegensatz von Arbeit und Kapital entstehen. Vor diesem Hintergrund sei der wertkritische Abschied vom Proletariat zu voreilig:
„Wertkritik beruht einfach auf dem Verfahren, die Entgegensetzung von Tauschwert und Gebrauchswert, von konkreter und abstrakter Arbeit, von Arbeits- und Verwertungsprozess monistisch einzuebnen. Der gesellschaftliche Horizont bleibt jener der einfachen WarenbesitzerInnen, mit allen verbundenen contrafaktischen Unterstellungen (Gleiche und Freie tauschen Äquivalente aus). Da der ganze Prozess jedoch der Bewegung G – W – G´ unterliegt, unterliege die gesamte Gesellschaft und alle Klassen gleichermaßen dem Fetisch und der Entfremdung, dem Diktat des automatischen Subjekts.“
– Karl Reitter: Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation.[2]
Eine durchaus ähnliche Kritik wurde auch aus dem Umfeld der Marx-Gesellschaft geäußert: Nadja Rakowitz und Jürgen Behre üben Kritik an der wertkritischen Auffassung vom Kapital als automatischem Subjekt. Hierbei würden einige von Marx in kritischer Absicht verwendete Begriffe für adäquate Beschreibungen der ökonomischen Realität betrachtet. Ingo Elbe unterstellt der Wertkritik daher, dass sie den Kapitalismus mithilfe religiöser Kategorien kritisiere.[3]
Siehe auch
Einzelnachweise
- ↑ Marx: Das Kapital I, MEW 23, 92
- ↑ Karl Reitter: Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation.
- ↑ Jürgen Behre / Nadja Rakowitz: Automatisches Subjekt? Zur Bedeutung des Kapitalbegriffs bei Marx
Literatur
- Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung, Reclam, Leipzig 1994, ISBN 3-379-01503-2
- Ernst Lohoff: Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg: Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung. Horlemann-Verlag, 1996, ISBN 3-89502-055-9
- Gruppe Krisis: Manifest gegen die Arbeit, Selbstverlag, [1], 1999
- Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Ullstein, 1999, ISBN 3-548-36308-3
- Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats. Horlemann-Verlag, 2000, ISBN 3-89502-100-8
- Dieter Wolf: Der dialektische Widerspruch im Kapital" Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg 2002, ISBN 3-87975-889-1
- Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Ca Ira, Freiburg i.Br. 2003, ISBN 3-924627-58-4
- Holger Schatz: Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion. Unrast-Verlag, Münster 2004, ISBN 3-89771-429-9
- Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Karl-Heinz Lewed, Maria Wölflingseder: Dead Men Working, Unrast, 2004, ISBN 3-89771-427-2
- Roswitha Scholz: Differenzen der Krise - Krise der Differenzen. Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von 'Rasse', Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung. Horlemann-Verlag, 2005, ISBN 3-89502-195-4
- Robert Kurz: Das Weltkapital, Tiamat, 2005, ISBN 3-89320-085-1
- Anselm Jappe: Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik. Unrast-Verlag, 2005, ISBN 3-89771-433-7
- Ingo Elbe, Tobias Reichardt, Dieter Wolf: Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur Kapital-Diskussion Wissenschaftliche Mitteilungen. Heft 6. Argument Verlag, Hamburg 2008, ISBN 978-3-88619-655-5
Kritik
- Jürgen Albohn, Theorie ohne revolutionäre Praxis ist Opium fürs Volk - Eine Kritik der Wertkritik, Grundrisse Heft 16.
- Jürgen Behre, Nadja Rakowitz (2001), Automatisches Subjekt? Zur Bedeutung des Kapitalbegriffs bei Marx.
- Ingo Elbe (2007), Marxismus-Mystizismus - oder: die Verwandlung der Marxschen Theorie in deutsche Ideologie. Prodomo Heft 5 , S. 11-18.
- Gerhard Hanloser, Karl Reitter (2008), Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus. Unrast Verlag, ISBN 978-3-89771-486-1.
- Karl Reitter (2006), Das Kapital wieder lesen. Eine alternative zur wertkritischen Interpretation. Grundrisse Heft 17, S. 13-27.
Weblinks
- www.derfunke.at - Herrn Robert Kurzens Umwälzung des Marxismus, von Josef S. Falkinger (PDF-Datei; 205 kB)
- 180 Grad - Gruppe 180°: Für einen neuen Realismus
- Krisis - wertkritischer Verein und Zeitschrift
- Exit - wertkritischer Verein und Zeitschrift
- Streifzüge - wertkritischer Verein und Magazin aus Österreich
- W.E.G. - Wertkritische Emanzipatorische Gegenbewegung
- Karoshi - Karoshi - eingestelltes wertkritisches Magazin mit postmodernen Versatzstücken; die Ausgaben 1-5 sind online lesbar
- Was ist Wertkritik? - Interview mit Ernst Lohoff und Robert Kurz
- Schwarzbuch Kapitalismus - Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft (komplett, PDF-Link; 2,39 MB)
- Wildcat-Kritik an der Wertkritik
- Michael Sommer/Dieter Wolf, Das Kapital als automatisches Subjekt und die Einheit von Darstellung und Kritik. [2]
- Dieter Wolf: Zum Übergang vom Geld ins Kapital in den Grundrissen, im Urtext und im Kapital Warum ist die „dialektische Form der Darstellung nur richtig, wenn sie ihre Grenzen kennt“?
Kategorien:- Marxistische Strömung
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