Nach Mitternacht

Nach Mitternacht

Nach Mitternacht ist der erste Exilroman von Irmgard Keun, der 1937 bei Querido in Amsterdam erschien.

Inhaltsverzeichnis

Zeit und Ort

Um 1933 verlässt die 16-jährige Sanna das Elternhaus in Lappesheim am Eltzbach und lebt zwei Jahre bei ihrer Tante Adelheid in Köln. Dort verliebt sie sich in Adelheids Sohn Franz. Sanna wird von der eigenen Tante angezeigt. Der Schnellrichter lässt die 18-jährige laufen. Sanna zieht bei der Tante sofort aus und lebt darauf ein Jahr in Frankfurt a. M. im Haushalt ihres Stiefbruders, des Schriftstellers Alois Moder, der sich Algin nennt. Während der letzten drei Tage dieser drei Jahre in Köln und Frankfurt erinnert sich Sanna ihres Lebens unter Nazis, Juden und Systemkritikern.

Inhalt

Als Mitglied der NS-Frauenschaft hat es Sannas Tante bis zum Hauswart gebracht. Sanna, von der Tante angezeigt, wird ins Kölner „Gestapo-Zimmer“ verbracht und macht die Erfahrung, in Köln zeigen „Mütter ihre Schwiegertöchter, Töchter ihre Schwiegerväter, Brüder ihre Schwestern“ und „Schwestern ihre Brüder“ an. Sannas Vergehen war, sie hatte eine von Görings Rundfunkansprachen und das Transpirieren des Führers während seiner Volksreden verächtlich gemacht.

Sannas Freundin Gerti soll entsprechend der Rassengesetze ihren Freund, den „Halbjuden“ Dieter Aaron, meiden. Sanna bezeichnet Halbjuden als Mischlinge. Die Eltern wünschen sich für Gerti den wohlhabenden SA-Mann Kurt Pielmann als Ehepartner. Dieter, schließlich von seiner Mutter fortgeschickt, ist in Gertis Augen ein Schwächling. Gerti erwägt einen Brief an die Gestapo, in dem die Arierin sich der Rassenschande mit Dieter bezichtigen möchte.

Sannas älterer Stiefbruder Algin ist ein berühmter Schriftsteller, dessen Buch Schatten ohne Sonne sogar verfilmt, von den Nationalsozialisten aber sodann auf die schwarze Liste gesetzt und schließlich verbrannt wurde. Algins Freund, der mit dem Kommunismus sympathisierende arbeitslose Journalist Heini, bezeichnet Algin als „künftigen Nazidichter“. Muss doch befürchtet werden, dass Algin einer der nächsten Säuberungsaktionen der Reichsschrifttumskammer zum Opfer fallen wird. Algins Ehegattin Liska ignoriert das rapide Versiegen von Algins Einnahmequellen und veranstaltet in ihrem Hause ein aufwändiges Fest mit illustren Gästen. Sannas Schwägerin richtet dieses Fest vor allem aus, um Heini zu gefallen. Heini erschießt sich vor den Gästen.

Sannas Cousin Franz steckt alles Gesparte in ein Zigarettengeschäft, das er zusammen mit der geliebten Cousine eröffnen möchte. Franzens Konkurrent in der Nachbarschaft, der SA-Mann Willi Schleimann, zeigt Franz bei der Partei wegen kommunistischer Propaganda an. Darauf verbüßt Franz drei Monate Schutzhaft. Wieder in Freiheit, kann es Franz nicht verwinden, dass er sein Geschäft ausgeräumt und zertrümmert vorfindet. Franz erwürgt Schleimann und flüchtet von Köln nach Frankfurt zu Sanna.

Form

Das ernste Thema wird - wie bei Irmgard Keun üblich - spaßig vorgetragen. Wortakrobatik, lustige Satzverrenkungen und Heiterkeit erregende Sprachschnitzer der 19-jährigen Ich-Erzählerin sind an der Tagesordnung. Mehr noch - der Humor darf auch in der ausweglosen Situation nicht fehlen. Als z.B. Franz bei Sanna während Liskas „Fest voller Juden und Mischlinge“[1] aufkreuzt, sperrt Sanna den Geliebten im Keller ein, damit er ihr ja nicht wieder fortläuft, damit sie ihre „summende Sehnsucht nach Franz“ bald stillen kann. Darauf, während der gemeinsamen Flucht, gibt sie sich schwach, damit Franz den starken Mann markieren kann.

Sanna erzählt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Ihre Tante schimpft sie z.B. „die Sau“.[2] Sanna nennt ihre Tante immer - bis auf zwei Ausnahmen - „Tant“.

Der kleine Roman ist von vollendeter Form und somit seine Lektüre eine Hochgenuss.

Zeitgeschichte

Neben dem o.g. Fest Liskas ragt der Führerbesuch in Frankfurt erzählerisch heraus. Vor diesem Spektakel um Hitler besuchen Sanna und Gerti das „Café am Roßmarkt“, an dessen Tür das Schild „Juden unerwünscht“ noch fehlt.[3] Im Zusammenhang mit dem Defilee des Diktators wird die anrührende Geschichte der 5-jährigen „Reihendurchbrecherin“ Bertchen Silias erzählt. Die kleine Tochter des Blockwarts Silias durchbricht zwar mit ihrem Riesenfliederstrauß - frisch aus Italien importiert - die Reihen der Jubelnden am Straßenrand, kann aber nicht bis zu Hitler vordringen. Wenig später stirbt das Kind, während es sein Gedicht vor „guten Onkels von der SS“[4] und den stolzen Eltern in einer Gaststätte aufsagt.

Der Verblendeten sind viele in dem Buch; Leute mit und ohne „Pg.-Abzeichen“. Da ist der Stürmermann, der eine Wünschelrute erfunden hat, mit der er in der Frankfurter Straßenbahn Juden detektiert. Und die aus der Schutzhaft Entlassenen schweigen und hängen die „Hakenkreuzfahne heraus“.[5] Und aus dem „bösen Gefängnis Klingelpütz“, gar nicht sehr weit vom Kölner Dom entfernt, dringen die Schreie der „Kommunisten, die hingerichtet werden“.[6]

Rezeption

  • „Sanna erscheint als Reporterin der nationalsozialistischen Gegenwart.“[7]
  • „Durch die Erzähltechnik wird die Absurdität der Nazigewaltherrschaft erhellt.“[8]

Dramatisierungen

Bühnenfassungen

  • Nach Mitternacht. Buch: Yaak Karsunke für die Städtischen Bühnen Osnabrück, 1982
  • Nach Mitternacht. Buch: Yaak Karsunke. Regie: Goswin Moniac, Darsteller: Monika Müller, Jörg Schröder. Frankfurt, 1988

Verfilmung

Weblinks

Literatur

Werk
  • Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Roman. Querido, Amsterdam 1937.
  • Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Roman. In: List-Taschenbuch. 1. Auflage. Band 60151, Ullstein-Taschenbuchverlag, Berlin 2004, ISBN 3-548-60151-0.
  • Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Roman, mit Materialien, u. a. dem Gespräch mit Klaus Antes: Irmgard Keun - über ihr Leben und ihr Werk (ab Seite 140). Klett, Stuttgart 2003, ISBN 3-12-351380-7 (Lizenz Classen, Düsseldorf 1980).
Sekundärliteratur
  • Gero von Wilpert (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A - Z. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83704-8, S. 331.
  • Gesche Blume: Irmgard Keun. Schreiben im Spiel mit der Moderne. In: Dorothee Kimmich, Walter Schmitz, Detlev Schöttker, Marek Zybura (Hrsg.): Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur. Band 23, Thelem bei w.e.b., Dresden 2005, ISBN 3-937672-38-9 (Zugleich Dissertation an der Technischen Universität Dresden 2004).

Einzelnachweise

  1. Keun S. 148
  2. Keun S. 11
  3. Keun S. 23
  4. Keun S. 33
  5. Keun S. 177
  6. Keun S. 184,185
  7. Blume S. 179
  8. Blume S. 128

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