Neukantianismus

Neukantianismus

Neukantianismus ist die vor allem von Otto Liebmann und Friedrich Albert Lange eingeleitete philosophische Bewegung, welche sich unter Berufung auf die transzendentale Logik und erkenntnistheoretische Schriften Immanuel Kants gegen den Materialismus wendet.[1]

Hierbei wurde die Forderung erhoben, wieder direkt auf Immanuel Kant zurückzugehen und eine Philosophie zu entwickeln, die den Ansprüchen der damals modernen Wissenschaften genügte. Charakteristisch ist für den Neukantianismus außerdem das neu erwachte Interesse an einer geltungstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften und das Interesse an einer philosophischen Begründung der politischen Theorie. So liefert etwa der Marburger Neukantianismus die theoretische Grundlage für den Revisionismus Eduard Bernsteins und für den Austromarxismus Max Adlers. Auch im Bereich der russischen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts hatte der Neukantianismus eine erhebliche Bedeutung, da er die Mitte zwischen orthodox-mystischer Metaphysik und atheistischem Materialismus hielt.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Die Philosophie Kants war in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts vom Idealismus in den Hintergrund gedrängt worden. Lediglich Arthur Schopenhauer, dessen Philosophie zu dieser Zeit (1819) jedoch noch kaum Beachtung geschenkt wurde, setzte sich bereits in der ersten Auflage seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung in kritisch-erweiternder Art und Weise mit der Erkenntnistheorie Immanuel Kants auseinander. Sodann, ein Jahr nach dem Tod von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hatte Friedrich Eduard Beneke mit der Schrift „Kant und die philosophischen Aufgaben unserer Zeit“ (1832) einen zweiten – allerdings durchaus Kant-kritischen – Schritt zur Wiedererinnerung getan. Christian Hermann Weisse hielt 1847 eine Rede mit dem Titel „In welchem Sinne die deutsche Philosophie jetzt wieder an Kant sich zu orientieren hat“. Auch Jakob Friedrich Fries hatte sich stark auf Kant bezogen.

Der eigentliche Beginn des Neukantianismus wird mit den Namen Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann, Eduard Zeller und Hermann von Helmholtz verbunden. Lange hatte in seiner „Geschichte des Materialismus“ (1866) diese Position ausführlich und dezidiert kritisiert. Liebmann hatte in seinem Werk „Kant und die Epigonen“ (1865) in vier Abschnitten jeweils den Idealismus (Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Hegel), den Realismus (Johann Friedrich Herbart), den Empirismus (Jakob Friedrich Fries) und die Transzendentalphilosophie (Schopenhauer) zurückgewiesen und am Ende jedes Kapitels wie einen Schlachtruf notiert: „Auf Kant muß zurückgegangen werden“.

Helmholtz als führender Naturwissenschaftler exponierte sich gegen den Materialismus. In einer Rede von 1877 führte er aus:

Ich bitte Sie nicht zu vergessen, dass auch der Materialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese, die sich im Gebiet der Naturwissenschaften allerdings als sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypothese. Und wenn man diese seine Natur vergisst, so wird er ein Dogma und kann dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz treiben wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, sobald man Tatsachen zu leugnen, oder zu verdecken sucht. (Holzhey, 2004, 29).

Weiteren Einfluss hatten der Philosophiehistoriker Kuno Fischer, der den Kritizismus mit dem Fichteschen Idealismus verband, sowie Jürgen Bona Meyer mit seinem Werk „Kants Psychologie“ (1870).

Seit ca. 1875 wird der Begriff des Kantianismus auch in der Fachliteratur verwendet. Als besonders herausragend gelten die Vertreter der Marburger Schule sowie der Südwestdeutschen Schule (Heidelberg). Daneben gab es einige unabhängige Philosophen, die unter der Überschrift Kritizismus zusammengefasst werden.

Marburger Schule

Hermann Cohen (1842–1918) gilt als der Begründer der sog. Marburger Schule, die stark mathematisch, wissenschaftsorientiert ausgerichtet war. Er kritisierte den Psychologismus vom kantischen Standpunkt. Dass es ein von der Psyche unabhängiges Wissen gibt, erklärt sich schon daran, dass Mathematik in Lehrbüchern unabhängig vom Subjekt existiert. Entsprechend kann die Erkenntnis nicht allein an ein Subjekt gebunden werden. In Bezug auf Kant entwickelte Cohen nach einer zunächst philologischen Darstellung im Laufe der Zeit eine eigenständige Position, die eher den idealistischen Standpunkt einnahm und insbesondere nicht Begriffe, sondern Urteile als Basis des menschlichen Denkens zugrunde legte. Auch Paul Natorp (1854–1924) befasste sich vor allem mit den logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Allerdings lehnte er die Existenz eines Dings an sich und von vom Verstand unabhängigen Anschauungen ab. Zur Marburger Schule zählten u. a. auch Karl Vorländer, mit dem Schwerpunkt der Geschichtsphilosophie in Verbindung mit dem Marxismus, und Rudolf Stammler, der sich vor allem mit sozial- und rechtsphilosophischen Fragen befasste sowie der Völkerrechtler Walther Schücking (1875–1935), der bei Kants Friedensgedanken ansetzte und entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Friedensvölker- und Verfassungsrechts im 20. Jahrhundert ausübte.

Ernst Cassirer (1874–1945) steht einerseits der Tradition der Marburger Schule nahe, ist vom Alter her und mit der Aufnahme sprachphilosophischer Themen wie der Frage der Bedeutung sowie der Philosophie der symbolischen Formen andererseits schon voll dem 20. Jahrhundert zuzurechnen. Für ihn gewährten nicht nur die Kategorien einen Bezug zur Welt, sondern verschiedene eigenständige symbolische Formen, wie Sprache, Religion, Kunst, Technik, Geschichte und Recht.

Südwestdeutsche Schule

Demgegenüber steht die Südwestdeutsche oder Badische Schule des Neukantianismus für eine auf die Werte orientierte Philosophie. Hauptvertreter waren Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936). Windelband sah in der Philosophie vor allem die Lehre von den allgemeingültigen Werten, nämlich der Wahrheit im Denken, der Gutheit im Wollen und Handeln und der Schönheit im Fühlen. Er unterschied prinzipiell zwischen Geschichte und Naturwissenschaft. Kant zu verstehen heißt für Windelband über ihn hinauszugehen. Rickert betonte den Unterschied zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft und entwickelte eine eigene Wertphilosophie.

Kritizismus

Neben den festen Schulen zählten zu den weiteren Vertretern des Kritizismus u. a. Robert Reininger (1869–1955), der Arbeiten zum psychophysischen Problem und zur Wertphilosophie veröffentlichte und Alois Riehl (1844–1924). Für Riehl war die Philosophie nicht Weltanschauungslehre, sondern vor allem Kritik der Erkenntnis. Dabei war für ihn Kant insoweit fortzuschreiben, als neuere Erkenntnisse der Naturwissenschaft und Mathematik (z. B. Nicht-euklidische Geometrie) mit einzubeziehen sind, was er grundsätzlich für möglich hielt. Spätere Vertreter des Kritizismus sind ähnlich wie Cassirer eigentlich dem 20. Jahrhundert zuzurechnen, entstammen aber der neukantianischen Bewegung. Hans Vaihinger (1852–1933) ist bekannt als Kommentator der Kritik der reinen Vernunft und als Begründer der Kant-Studien. Seine Philosophie des „Als Ob“ ist dem Pragmatismus aufgrund des verwendeten Wahrheitsbegriffs zuzurechnen. Erkenntnis kommt aufgrund hypothetischer Fiktionen zustande. Ihr Wahrheitsgehalt richtet sich nach dem praktischen Lebenswert. Eine objektive Wahrheit ist hingegen nicht möglich. Im Zentrum der Philosophie von Richard Hönigswald (1875–1947), einem Schüler Alois Riehls, stehen die beiden Grundprobleme des ‚Gegebenen‘ und einer ‚Allgemeinen Methodenlehre‘ des menschlichen Erkennens. Im Gegensatz zur Marburger Schule basieren seine Untersuchungen zum Ding an sich auf denkpsychologischen Überlegungen, in denen er einen Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Gegenstand beschreibt. Dabei ist Sprache notwendig für das Bewusstsein und erst durch Sprache wird die Objektivität eines Gegenstandes hergestellt. Erich Kaufmann (1880-1972) warf dem Neukantianismus aus rechtsphilosophischer Sicht vor, dem positiven Empirismus keine objektive Metaphysik entgegenzustellen, sondern vielmehr sich vor der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit in abstrakte, bloß noch formale, eindimensionale Begriffsbildungen zu flüchten. Gleichzeitig schloß er sich in dieser Abwendung nun der Strömung des Neuhegelianismus an.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Hans-Ludwig Ollig: Der Neukantianismus. In: Sammlung Metzler ; M 187 : Abt. D, Literaturgeschichte. Metzler, Stuttgart 1979, ISBN 3476101878, S. ix, 175 p.

Literatur

  • G. Edel: Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik. Die Entwicklung der theoretischen Philosophie Hermann Cohens, Freiburg/München 1988
  • Hans-Dieter Häußer: Transzendentale Reflexion und Erkenntnisgegenstand. Zur transzendentalphilosophischen Erkenntnisbegründung unter besonderer Berücksichtigung objektivistischer Transformation des Kritizismus. Ein Beitrag zur systematischen und historischen Genese des Neukantianismus, Bouvier, Bonn 1989
  • Marion Heinz und Christian Krijnen (Hrsg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt?. Studien und Materialien zum Neukantianismus, Königshausen und Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3299-8
  • Helmut Holzhey: Cohen und Natorp, 2 Bände (Band 1: Ursprung und Einheit. Die Geschichte der ‚Marburger Schule‘ als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens. Band 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Zeugnisse kritischer Lektüre – Briefe der Marburger – Dokumente zur Philosophiepolitik der Schule), Schwabe, Basel 1986, ISBN 978-3-7965-0839-4
  • Helmut Holzhey (Hrsg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Suhrkamp, Frankfurt 1994
  • Helmut Holzhey: Neukantianismus, in Wolfgang Röd (Hrsg.): Geschichte der Philosophie, Band 12, Beck, München 2004, ISBN 3-406-31349-3
  • Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts, Königshausen und Neumann, Würzburg 2001.
  • Christian Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie. Würzburg 2008.
  • Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus , Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986. ISBN 3-518-57759-X
  • Karl-Heinz Lembeck: Platon in Marburg. Platon-Rezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Königshausen und Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-900-2
  • Wolfgang Marx und Ernst Wolgang Orth: Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie., Königshausen und Neumann, Würzburg 2001
  • Hans-Ludwig Ollig: Der Neukantianismus, Metzler, Stuttgart 1979, ISBN 3-476-10187-8
  • Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.): Neukantianismus: Perspektiven und Probleme, Königshausen & Neumann, Würzburg 1994. ISBN 3-88479-887-1
  • Manfred Pascher: Einführung in den Neukantianismus: Kontext, Grundpositionen, praktische Philosophie, Fink, München 1997, ISBN 3-8252-1962-3
  • Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus: die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft Königshausen und Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-944-4
  • Jürgen Stolzenberg: Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Herman Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin Heidegger, Göttingen 1995.
  • Eggert Winter: Ethik und Rechtswissenschaft: Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens, Duncker und Humblot, Berlin 1980, ISBN 3-428-04624-2
  • Kurt Walter Zeidler: Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels, Bouvier, Bonn 1995
  • Sascha Ziemann: Neukantianisches Strafrechtsdenken. Die Philosophie des Südwestdeutschen Neukantianismus und ihre Rezeption in der Strafrechtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Nomos, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-4210-6.

Weblinks


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