Provokationsrecht

Provokationsrecht

Das Provokationsrecht war in der römischen Republik das Recht eines jeden Bürgers, das Volk um Beistand anzurufen (lat. provocare, dt. herbeirufen, aufrufen), wenn er Leib und Leben durch die Gewalt staatlicher Magistrate bedroht sah. Dieser Provokation (lat. provocatio ad populum, dt. Berufung ans Volk, Aufrufen des Volkes) genannte Vorgang galt als Zeichen der plebejischen Freiheit und politisches Mittel gegen das Strafrecht patrizischer Beamter, die kraft ihres Amtes Todes- oder Prügelstrafen ohne richterlichen Beschluss verhängen konnten (Koerzitionsrecht). Es ist vergleichbar mit dem ius auxilii der Volkstribune.[1]

Das Recht zur Provokation wurde durch die lex Valeria de provocatione festgeschrieben, die nach Aussage einiger Quellen durch den Konsul Publius Valerius Poplicola in den Jahren 510/09 v. Chr.[2] oder durch die Konsuln Lucius Valerius Poplicola und Marcus Horatius Barbatus 449 v. Chr.[3] eingeführt wurde. Wahrscheinlich ging sie jedoch auf einen Gesetzesantrag des Konsuls Marcus Valerius Corvus aus dem Jahre 300 v. Chr.[4] zurück, obwohl angenommen werden kann, dass die Provokation bereits vorher als Gewohnheitsrecht etabliert war.

Das Provokationsrecht galt grundsätzlich für jeden römischen Bürger, war aber zunächst auf das römische Stadtgebiet beschränkt und galt nur gegenüber zivilen Beamten, nicht jedoch gegenüber dem Diktator oder einem militärischen Imperiumsträger. Zudem wurde dieses Grundrecht durch ein senatus consultum ultimum suspendiert. Erst Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde das Provokationsrecht auf den außerstädtischen Bereich, auf Italien und die Provinzen ausgeweitet und galt von nun an auch im militärischen Bereich. Der Ausweitung lag vermutlich ein Gesetz des Volkstribunen Publius Porcius Laeca des Jahres 199 v. Chr. zugrunde. Auch Nichtrömern konnte als besondere Ehrung das Recht auf Provokation zugestanden werden.

In der Forschung ist jedoch umstritten, wie ein Provokationsprozess in der Realität tatsächlich abgelaufen ist und welche politische und juristische Bedeutung die Provokation tatsächlich hatte. Anscheinend sollte sie eine (Neu-) Verhandlung des Falles vor der Volksversammlung (vermutlich vor dem concilium plebis) herbeiführen,[5] in der die durch den Magistrat verhängte Strafe überprüft werden konnte. Es ist aber auch denkbar, dass nach 300 v. Chr. das provoco eine reine Protestfunktion und keine gerichtlichen Folgen – außer in einem Rechenschaftsverfahren – hatte.[6] Allerdings galt die Missachtung einer Provokation, ausgenommen der bei einer Hinrichtung, anscheinend nicht als Amtsvergehen, sondern lediglich als eine 'ungehörige' oder 'schändliche' Tat (improbe factum)[7] , so dass der entsprechende Beamte nicht direkt dafür bestraft werden konnte.

Andererseits liegen für die Zeit vor 300 v. Chr. keine zuverlässigen Belege für magistratisch verhängte Kapitalstrafen gegenüber römischen Bürgern vor. Zudem mussten Beamte ohnehin damit rechnen, nach Ablauf ihrer Amtszeit für ihr Verhalten gegenüber dem Volk zur Rechenschaft gezogen zu werden. Möglicherweise lässt sich daraus schließen, dass das Provokationsrecht nur eine symbolische Bedeutung hatte, mit der den einst politisch benachteiligten Plebejern nach Abschluss der sogenannten Ständekämpfe signalisiert wurde, dass sie nun völlige politische Gleichberechtigung mit den Patriziern erlangt hatten. Dafür könnte die Tatsache sprechen, dass die lex Valeria de provocatione im gleichen Jahr beschlossen wurde, in der auch mit der lex Ogulnia des Volkstribunen Quintus Ogulnius Gallus den Plebejern der Zugang zu verschiedenen angesehenen Priesterstellen eröffnet wurde, die ihnen als letzte Ämter bis dahin verwehrt gewesen waren. Aufgrund der dürftigen Quellenlage sind hierüber jedoch keine sicheren Aussagen möglich.

In der Kaiserzeit wurde schließlich jede Berufung an einen höheren Richter bis hinauf zum Kaiser selbst als Provokation bezeichnet.

Anmerkungen

  1. Jochen Martin: Die Provokation in der klassischen und späten Republik. In: Hermes 98 (1970), S. 74.
  2. Cicero, de re publica 2.53.
  3. Livius 3.55.
  4. Livius 10.9.
  5. Jochen Bleicken: Ursprung und Bedeutung der Provocation. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 76, 1959, S. 324–377.
  6. Wolfgang Kunkel: Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit. In: Abhandlungen der Bayerischen Akademie, NF56 1962, S. 24-33.
  7. Wolfgang Kunkel, Roland Wittmann: Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik. Zweiter Abschnitt: Die Magistratur, München 1995, S. 166 f.

Literatur

Siehe auch


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