Pullman-Streik

Pullman-Streik

Der Pullman-Streik begann als wilder Streik am 11. Mai 1894, als etwa 50.000 Arbeiter der Pullman Palace Car Company im südlichen Stadtteil Pullman von Chicago, Illinois, ihre Arbeit verweigerten. Er weitete sich zum bis dahin größten Arbeiterprotest in der Geschichte der USA aus. Nach rund zweimonatiger Dauer wurde der Ausstand blutig niedergeschlagen.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte und Umfeld

George M. Pullman

George Mortimer Pullman hatte es als Unternehmer zur größten amerikanischen Schlafwagengesellschaft gebracht. Er war ein „Wohlfahrtskapitalist“ mit patriarchalischem Führungsstil. Pullman errichtete für seine Arbeitnehmer als Modellprojekt die nach ihm benannte Industriestadt Pullman. Pullman-Arbeiter mussten dort leben, in attraktiven, firmeneigenen Häusern, die komplett mit sanitären Einrichtungen, Gas und Abwassersystem ausgestattet waren. Sie brauchten nicht in den üblichen schäbigen Mietskasernen unter oft unhygienischen Bedingungen zu hausen, wie viele andere Industriearbeiter. Pullman hoffte, mit seiner Wohltat Unzufriedenheit zu verhindern und knauserte deshalb bei den Löhnen der Beschäftigten.

Doch die Annehmlichkeiten hatten ihren Preis. Alles in Pullmans Stadt gehörte seiner Gesellschaft, nicht nur die Häuser, sondern auch die Einrichtungen zur Grundversorgung ihrer Bewohner: Warenhäuser, Schulen und auch die Kirche, ein Theater und der Park. Wasser und Gas bezog die Firma aus Chicago und verrechnete den Verbrauch zu eigenen Preisen. Die Pullman Company steuerte so fast jeden Aspekt des Lebens ihrer Arbeiter und übte eine Art Schuldknechtschaft aus. De facto mussten die Mieter beim Lohnvertrag bleiben, wenn sie beim Einkauf anschreiben ließen oder es sich nicht leisten konnten, ihren Arbeitgeber, der ja zugleich ihr Hauswirt war, zu wechseln. Die Mieten lagen wegen des Komforts der Ausstattung um ein Viertel über jenen in umliegenden Gemeinden. Miet- und andere Schulden wurden automatisch beim Gehaltsscheck abgezogen und etliche der Arbeiter sahen oftmals nicht ihren ganzen Lohn. Es wird ein Fall kolportiert, wonach ein Arbeiter für einen Monat Arbeit nach diesen Abzügen nur noch 2 Cent Einkommen auf dem Lohnstreifen sah.

In Chicago, einem Eisenbahnknotenpunkt, gehörte die Pullman Palace Car Company zu den bedeutenden Unternehmen. Die Stadt erlebte einen hohen Zugang von Zuwanderern aus den USA – darunter viele Farbige – und Immigranten aus Europa (vor allem Ost- und Südeuropäer). In der Stadt brodelte es. Demonstrationen von Industriearbeitern für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne hatte es beim Haymarket-Aufstand im Mai 1886 und dem Homestead-Streik im Jahr 1892 gegeben, die auch Menschenleben forderten.

Anlass

Die USA erlebten in den frühen 1890er Jahren einen großen konjunkturell bedingten Einbruch. 1893 wurden in Pullmans Unternehmen 3.000 Leute entlassen und den restlichen in der Zeit vom September 1893 bis Mai 1894 eine Lohnkürzung von durchschnittlich 25 Prozent zugemutet. In der Spitze betrugen die Einkommensminderungen zwischen 30 und 70 Prozent, ohne dass aber gleichzeitig die von der Gesellschaft verlangte Miete und andere Kosten in der Arbeitersiedlung reduziert worden wären. Einige Arbeiter, die das nicht hinnehmen wollten, opponierten. Beschäftigte traten in hoher Zahl in die noch junge, bei der Great Northern Railway mit einer Lohnkürzungsrücknahme erfolgreiche Eisenbahnergewerkschaft American Railway Union (ARU) ein, die von Eugene V. Debs geführt wurde. Als sich die Nachfrage etwas besserte, stellte die Pullman Company zwar wieder 2.000 Beschäftigte ein, doch nur auf der Basis der niedrigeren Löhne. Die Pullman-Arbeiter bildeten daher im Mai 1894 ein Komitee, das mit dem Pullman-Management über ihre unbefriedigende Situation redete.

Im Anschluss an das Gespräch wurde drei Komiteemitgliedern gekündigt, angeblich wegen ihrer mangelnden Arbeitsleistung. Die Entlassung dieser Personen ihres Vertrauens sprach sich in Windeseile herum und die verdrossene Arbeiterschaft beschloss – ohne die Gewerkschaft zuvor zu konsultieren – einen Streik. Er begann am 11. Mai 1894. Der wilde Streik führte zu einem effektiven Rückgang der Produktion in den Pullman-Werkstätten. Das Angebot einer Schlichtung lehnte der Arbeitgeber ab und sperrte alle Beschäftigten durch Werksschließung aus.

Auswirkungen des Streiks

Die Pullman-Arbeiter appellierten an die ARU bei deren Delegiertenversammlung in Chicago, ihren Arbeitskampf zu unterstützen. Eugene V. Debs versuchte die Eisenbahner zu überzeugen, dass ein Boykott zu riskant sei, zu Feindseligkeiten der Eisenbahngesellschaften und der Regierung, einer Schwächung der ARU und der Möglichkeit des Streikbruchs durch andere Gewerkschaften führen könne. Die Delegierten ignorierten seine Warnungen und beschlossen, das Hantieren mit Pullman-Waggons ab dem 26. Juni zu verweigern, wenn die Firma einer Konfliktschlichtung nicht zustimme.

Die ARU half, da nichts geschah, einen massiven Streik zu organisieren. Debs appellierte nun bei seinen Mitgliedern an die Solidarität mit den Pullman-Beschäftigten. Er verfügte einen Boykott der Pullman-Schlafwagen. Wo man die Pullman-Waggons nicht vom Zug abkoppeln konnte oder wollte, wurde das Netz dieser betreffenden Eisenbahngesellschaft bestreikt.

Andererseits sahen die Eisenbahngesellschaften jetzt eine Gelegenheit, die aufmüpfige ARU loszuwerden. Die General Managers Association (Generaldirektorenverband) der 24 die Stadt Chicago anlaufenden Bahnlinien wies die Entlassung jeden Arbeiters an, der einen Pullman-Waggon abhängte, und ließ die Schlafwagen nun mit Postzügen zusammenspannen.

Viele Versorgungswege wurden lahmgelegt, als organisierte Eisenbahnarbeiter in der gesamten Nation Züge, die mit Pullman-Waggons (später auch Wagner-Eisenbahnwagen) fuhren, in einem Sympathiestreik blockierten, indem sie deren Abfertigung verweigerten. Am Pullman-Streik beteiligten sich landesweit Zehntausende von Beschäftigten. Besonders effektiv war der Streik auf transkontinentalen Zugverbindungen von Chicago aus in den Westen der USA.

Die US-Regierung griff nun tatsächlich ein. Sie erwirkte am 2. Juli vor einem Bundesgericht mit Hilfe des Sherman Antitrust Acts ein Verbot jeglicher Streikunterstützung durch die Eisenbahnergewerkschaft. Als am 3. Juli 1894 Bundestruppen in Chicago auf der Bildfläche erschienen, rasteten dort die Streikenden aus.

Niederschlagung

Der nun mit schweren Ausschreitungen einhergehende Ausstand wurde schließlich von Arbeitswilligen, etwa 3.100 Polizisten, rund 5.000 US-Marshals sowie etwa 6.000 Angehörigen der Nationalgarde und der US-Armee unter dem Kommando von Nelson Miles gebrochen. Das Militär war vom Präsidenten Grover Cleveland mit dem Argument in Marsch gesetzt worden, dass der Streik die Zustellung von Post innerhalb der USA behindere. Die freie Fahrt der Postzüge müsse gewährleistet werden. Der Truppeneinsatz durch den US-Präsidenten geschah auf Wunsch des Pullman-Vorstandes und gegen den Willen des Gouverneurs von Illinois, John Peter Altgeld, und des Chicagoer Bürgermeisters John Patrick Hopkins.

Am 6. Juli steckten etwa 6.000 Revoltierende im Süden Chicagos 700 Eisenbahnwagen in Brand. Am 7. Juli 1894 wurden Gebäude der schon beendeten Weltausstellung 1893 am Jackson Park angezündet. Das Feuer brach auf dem Höhepunkt des Pullman-Streiks aus. Unter den Baulichkeiten, die Feuer fingen, waren die Halle der Ausstellungsleitung und die Ausstellungshallen für Fabrikation, für Elektrizität, für Mechanik, für Landwirtschaft sowie die Zugstation der Messe. Da Streikende andere Brände in dieser Woche legten, ist es möglich, dass unzufriedene Pullman-Beschäftigte auch dieses Feuer auslösten.

Die Büros der ARU wurden von Angehörigen der Polizei und Armee verwüstet, die Gewerkschaftsspitze verhaftet. Gewerkschaftsmitglieder wurden vom Arbeitgeber gefeuert und ihre Namen auf Schwarze Listen in den Lohnbüros gesetzt, um eine Wiedereinstellung zu verhindern.

Der Ausstand kostete insgesamt 13 Menschen das Leben, 57 wurden verletzt. Der Sachschaden wurde auf 80 Millionen US-Dollar geschätzt. Gewerkschaftschef Debs und andere ARU-Führer wurden als „Verschwörer“ angeklagt und der Störung des Postverkehrs für schuldig befunden. Debs wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Am 2. August 1894 war der Streik beendet. Die Pullman Company nahm ihren Betrieb wieder auf, stellte aber Streikführer nicht ein. Die Beschäftigten mussten hinterher unterschreiben, sich nicht mehr gewerkschaftlich zu organisieren.

Folgen

  • Zur Zeit seiner Haft war Debs noch kein Sozialist. Im Staatsgefängnis las er jedoch die Werke von Karl Marx. Nach seiner Freilassung 1895 wurde er der führende Kopf der Sozialisten in Amerika. Er kandidierte fünfmal mit Unterstützung der American Socialist Workers Party für das Präsidentenamt, erstmals im Jahr 1900.
  • Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert begann die Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten, sich gegen die negativen Effekte des Kapitalismus zu wehren. Sie kämpfte für bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und einen weniger anstrengenden Arbeitszeitplan. Sozialistisches Gedankengut wurde vorgetragen, welches die Arbeit als das wichtigste Produktionsmittel anführte und deren Ausbeutung durch Kapitalisten herausstellte. Wie der Erfolg des Pullman-Streiks bewies, ist die wirkungsvollste Waffe der Gewerkschaften ein Streik.
  • Die Stimmung der Tarifpartner war danach in den USA lange beeinträchtigt. Eine glänzende Analyse der Hintergründe des Pullman-Streiks gelang unter dem Titel A Modern Lear Jane Addams, Mitglied eines Schlichtungsausschusses und sozial engagierte Politikerin. Sie konnte ihren Artikel jedoch erst 1912 publizieren.

Literatur

  • David Ray Papke: The Pullman case: the clash of labor and capital in industrial America. Univ. Press of Kansas, 1999. ISBN 0-7006-0953-9 (englisch)

Siehe auch

Weblinks


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