Rechtsgeltung

Rechtsgeltung

Rechtsgeltung ist ein Begriff aus der Rechtsphilosophie, der die Frage nach der Gültigkeit von Gesetzen aufwirft. Praktische Bedeutung erlangte das Problem der Rechtsgeltung bei den Schandgesetzen der NS-Diktatur und bei den sogenannten Mauerschützenprozessen.

Die Frage nach der Geltung des Rechts wurde bereits von Sokrates aufgeworfen, der sich der Vollstreckung des Todesurteils gegen ihn nicht durch Flucht entziehen wollte:

Meinst du, dass ein Staat bestehen kann und nicht vielmehr vernichtet wird, in dem Urteile, die gefällt werden, keine Kraft haben, sondern durch einzelne Menschen ungültig gemacht und vereitelt werden?[1]

Sokrates zufolge gebietet es also die Rechtssicherheit, dass auch einzelne ungerechte Gesetze oder rechtskräftige Urteile gelten sollen, weil sonst jeder alles in Frage stellen könnte und ein Chaos ausbrechen würde. Er erkennt an, dass das Recht Ordnung schafft und die ansonsten mannigfaltige Willkür der Einzelnen eingrenzt. Gerade darin liege das Wesen des Rechts.

Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.[2]

Die Macht allein vermag die Rechtsgeltung nicht zu begründen. Macht kann zwar Gehorsam erzwingen, sie vermag aber keine Pflicht zu begründen.

Ebensowenig wie […] ein wertloses Papier dadurch Geltung erlangt, dass jemand es mit der Pistole in der Hand einem anderen als Zahlungsmittel aufnötigt, gewinnt ein Imperativ demjenigen gegenüber Geltung, der sich ihm zähneknirschend zu unterwerfen gezwungen ist […].[3]

Die Anerkennung durch den Einzelnen vermag die Rechtsgeltung auch nicht zu begründen.

Die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen bleiben, da diese verschiedenen Menschen möglicherweise entgegengesetzte Weisungen erteilen, muß vielmehr durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden.[4]

Das Recht gilt, weil es dem Kampf aller gegen alle ein Ende setzt und Ordnung schafft:

Das Recht gilt nicht, weil es sich wirksam durchzusetzen vermag, sondern es gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag, weil es nur dann Rechtssicherheit zu gewähren vermag.[5]

Die Geltung des Rechts wird also mit der Rechtssicherheit begründet. Jede Rechtsanwendung orientiert sich dabei am vorliegenden Recht. Die Bindung an das Recht setzt ein Gegebenes voraus, dieses wird auch als positives Recht bezeichnet. Als normative Ordnung ist das Recht ein System von Normen. Die einzelnen Normen gelten, wenn sie sich formal richtig aus einer Grundnorm ableiten, die den Geltungsbereich des positiven Rechts bestimmt.[6] Die Grundnorm selbst wird dabei zunächst nicht weiter hinterfragt. Die Änderung des positiven Rechts obliegt der Rechtspolitik. Besonders streng wird die Trennung von Rechtsanwendung und Gesetzgebung im System der Gewaltenteilung institutionalisiert.

Soll das positive Recht aber selbst bei völlig ungerechten und womöglich sogar verbrecherischen Gesetzen gelten? Diese wäre die Konsequenz aus der Lehre eines strengen Rechtspositivismus, der die Geltung von Normen allein auf deren positive Setzung zurückführt. Die obersten deutschen Bundesgerichte befürworten dagegen in ständiger Rechtsprechung eine Geltungsgrenze für gesetzliches Unrecht. Diese bestimmt sich nach der sogenannten Radbruchschen Formel.

Rechtsvorschriften ist die Geltung als Recht dieser Ansicht zufolge dann abzuerkennen, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit sowie den elementaren Menschenrechten so evident widersprechen und in ihnen ein offensichtlicher schwerwiegender Verstoß gegen die Grundgedanken der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zum Ausdruck kommt, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. Solche "Rechts"-Vorschriften sind als extremes staatliches Unrecht auch nicht dadurch wirksam geworden bzw. erlangen auch nicht lediglich dadurch die Qualität als Recht, dass sie über einige Jahre hin praktiziert worden sind oder dass sich seinerzeit die Betroffenen mit den Maßnahmen im Einzelfall abgefunden haben. Denn einmal gesetztes extremes staatliches Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt und das sich nur solange behaupten kann, wie der dafür verantwortliche Träger der Staatsmacht faktisch besteht, wird nicht dadurch zu Recht, dass es angewendet und befolgt wird.[7]

Einzelnachweise

  1. Zitiert nach Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 85
  2. Immanuel Kant, Die drei Kritiken (Werkauswahl). Kröner, Stuttgart 1975, S. 390 f.
  3. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 80
  4. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 82
  5. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 83
  6. Hans Kelsen: Was ist juristischer Positivismus?, in: JZ 1965, S. 465 ff.
  7. Vgl. hierzu: Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 17. Dezember 1953 -- 1 BvR 147 -- BVerfGE 3, 58, 118 f; Beschlüsse des BVerfG vom 19. Februar 1957 -- 1 BvR 357/52 -- BVerfGE 6, 132, 198 f, vom 14. Februar 1968 -- 2 BvR 557/62 -- BVerfGE 23, 98, 106 und vom 15. April 1980 -- 2 BvR 842/77 -- BVerfGE 54, 53, 67 ff; vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. Januar 1995 -- X R 146/93 -- BFHE 177, 317, 320 ff; Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1946, S. 105, ff; Urteil des SG Düsseldorf vom 23. April 2001, Az. S 15 RJ 242/98

Literatur

  • Immanuel Kant: Die drei Kritiken. In ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk. Kröner, Stuttgart 1975, ISBN 3-520-10411-3, S. 387 ff. (Kröners Taschenausgabe 104; Werkauswahl).
  • Hans Kelsen: Was ist juristischer Positivismus? In: JuristenZeitung. 20. Jg., 15/16, 1965, S. 465–469.
  • Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts. Karl Alber Verlag, Freiburg (Breisgau) u. a. 1992, ISBN 3-495-47729-2 (Alber-Reihe Rechts- und Sozialwissenschaft).
  • Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Herausgegeben von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson. C. F. Müller, 2. überarbeitete Auflage. Müller, Heidelberg 2003, ISBN 3-8252-2043-5 (UTB 2043 Rechtswissenschaft, Philosophie).
  • Norbert Hoerster: Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie. Verlag C.H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54147-X (Beck’sche Reihe 1706).

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