- Austrittsorthodoxie (Judentum)
-
Israelitische Religionsgesellschaft (auch: Adass Jisroel, hebräisch עדת ישראל, oder Adass Jeschurun, עדת ישרון) nannten sich neo-orthodoxe jüdische Austrittsgemeinden ab den 1860er Jahren im deutschsprachigen Raum. Hervorgegangen aus Minjanim, die sich gegen Modernisierungen des liberalen Reformjudentums wie Orgelmusik oder ein geändertes, gekürztes Gebetbuch wandten, und in Abgrenzung zur Gemeindeorthodoxie, die als strenggläubige Gruppe dennoch in der angestammten Gemeinde verblieb, etablierte sich die Austrittsorthodoxie in den 1880er Jahren auch rechtlich in Form eigener Körperschaften. Vorbild war die von Samson Raphael Hirsch geleitete Kehilla in Frankfurt am Main.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Orthodoxe Bestrebungen nach dem Prinzip „Tora im derech erez“ (hebräisch תורה עם דרך ארץ, dt. etwa: „Tora zusammen mit weltlicher Bildung“) formierten sich vor allem von Frankfurt am Main aus bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Betont wurden dabei die praktischen Gesichtspunkte der Halacha, die Lebensweise nach den dort kodifizierten Geboten.
Einer der frühesten Initiatoren der Bewegung war Jakob Ettlinger, aus Karlsruhe stammender Rabbiner in Altona und Lehrer von S.R. Hirsch und von Esriel Hildesheimer.
Die osteuropäischen Rabbinen, die mit den Migrationsströmen des späten 19. Jahrhunderts nach Westen und den Flüchtlingswellen vor den Pogromen in Polen und der Ukraine 1919/1920 nach Deutschland kamen, schlossen sich den Neuorthodoxen mehr oder minder zögerlich an. Ihre Anhängerschaft mit Wurzeln im Chassidismus und heimisch in der jüdisch-deutschen Mundart erhielt von den hochdeutsch sprechenden und westlich gebildeten Mitgliedern mancherlei Hilfen zur Integration, trafen aber auch wegen ihres manchmal als laut und ungehobelt empfundenen Auftretens auf Ablehnung. Die „Ostjuden“ prägten die neuorthodoxen Gemeinden durch ihre als genial geltenden Talmud-Gelehrten und durch eine im aufgeklärten Westen fast unbekannte religiöse Hingabe.
Mit dem von Eduard Lasker erkämpften preußischen Gesetz vom 28. Juli 1876 betr. den Austritt aus den Synagogengemeinden (Austrittsgesetz) wurde es „toratreuen“ Juden möglich, sich aus religiösen Bedenken, ohne Austritt aus dem Judentum selbst, von der kritisierten Hauptgemeinde zu lösen und eigene Gemeindestrukturen zu bilden.
Nach dem Frankfurter Modell und unter dem starken Einfluss der Schriften von S.R. Hirsch bildeten sich Gemeinden mit eigenen Synagogen u.a. in Berlin, Karlsruhe, Wiesbaden, Köln, Heilbronn, Wien, Zürich und Washington Heights (USA).
1938 zerstörten die Nazis in ihrem Einflussbereich durch die November-Pogrome, die Ausweisung von etwa 17.000 aus Polen stammenden Juden („Polenaktion“) und durch Zwangsmaßnahmen und Plünderungen die Israelitische Religionsgesellschaft und ihre Schwestergemeinden.
Große Gemeinden
Frankfurt am Main
Der erste Synagogenbau der deutschsprachigen Austrittsorthodoxie entstand um 1853 in der Frankfurter Schützenstraße. Der Nachfolgebau Friedberger Anlage 5-6 (1905-07 erbaut) war einer der geräumigsten jüdischen Sakralbauten Europas.
Karlsruhe
Die Israelitische Religionsgesellschaft (auch: Adass Jeschurun) etablierte sich im Streit über den Einbau einer Orgel in der 1872-75 errichteten Synagoge der Hauptgemeinde. Die Orthodoxie hatte sich zuvor bereits in privaten Minjanim versammelt und entschied sich nun für einen eigenen Synagogenbau in der Karl-Friedrich-Straße 16, erbaut 1881 von Gustav Ziegler, mit eigener Religionsschule, Mikwe und Schechita.
Nürnberg
1874 als Verein in der Einheitsgemeinde gegründet, baute sich Adas Jisroel bzw. die Israelitische Religionsgesellschaft 1902 eine eigene Synagoge in der Essenweinstraße 7.
Berlin
Die Adass Jisroel, gegründet 1869, befand sich zunächst in der Gipsstraße, ab 1904 in der Artilleriestraße 31 im Berliner Osten. Dr. Esriel Hildesheimer (1822–1899) war ihr erster Rabbiner. 1880 wurde ein eigener Friedhof in Weißensee angelegt. Die Kehilla wurde 1885 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und ist seit 1997 wieder K.d.ö.R..
München
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es bereits eine orthodoxe Strömung, die sich 1876 von der Hauptgemeinde lossagte und 1892 in der Herzog-Rudolf-Straße eine eigene Synagoge (Ohel Ja'akov) errichtete. Ihr erster Rabbiner war Heinrich Ehrentreu.
Wien
Aus einem kleinen Bethaus hervorgegangen und um 1865 errichtet, war die Wiener „Schiffschul“ mit ihrer Organisation Adas Jisroel eine der frühesten Kehillot der Austrittsbewegung.
Hochschulen und Organisationen
Mehrere Jeschiwot stehen in engem Zusammenhang mit der Austrittsorthodoxie. Esriel Hildesheimer gründete 1873 das Rabbiner-Seminar in Berlin. Salomon Breuer, Schwiegersohn des S.R. Hirsch, initiierte 1893 die Talmud-Hochschule in Frankfurt. Die Agudas Jisroel als ideologische und politische Interessenvertretung sowie diverse Zeitungen wie Jeschurun, gegründet von S.R. Hirsch, Der Israelit, gegründet von Marcus Lehmann (Mainz) und die in Wien und Bratislava erscheinende Jüdische Presse gehörten ebenfalls in diesen Kontext.
Literatur
- Adass Jisroel, in: Jüdisches Lexikon, hrsg. von Georg Herrlitz und Bruno Kirschner, Berlin 1927, Bd. 1, Sp. 89ff u.ö.
- Der Israelit, 1860-1938 Online-Version
Weblinks
Wikimedia Foundation.