Solidarökonomie

Solidarökonomie

Solidarische Ökonomie ist ein Sammelbegriff für Formen des Wirtschaftens, die sich an sozialen, demokratischen oder ökologischen Zielsetzungen orientieren. Vor allem in Europa und Lateinamerika existieren Modelle und Konzepte der Beschäftigung, in denen Arbeit auf der Grundlage von solidarischer Ökonomie organisiert werden soll. Auch in Deutschland existieren Projekte, die solidarische Ökonomie praktizieren. Unter der Bezeichnung solidarische Ökonomie fallen differente theoretische und praktische Ansätze, die folgende Ziele gemeinsam haben:

  • kritische Grundhaltung gegenüber neoliberalen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ansätzen
  • positive Bezugnahme auf den Begriff der Solidarität
  • Rückbindung einer auf sich selbst bezogenen Ökonomie an soziale und ökologische Zusammenhänge.

Zu den Projekten solidarischer Ökonomie zählen beispielsweise selbstverwaltete Betriebe, alternative Tausch-, Umsonst- und Handelsnetzwerke, alternativer Wohnungsunternehmen und zunehmend soziale Unternehmen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Es sind verschiedene neue soziale Bewegungen entstanden. Dort engagieren sich Menschen gegen die Folgen des globalisierten Kapitalismus, gegen Ausgrenzung, Marginalisierung, Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Armut. Sie schließen sich kooperativ zusammen und versuchen den Aufbau "einer anderen Ökonomie".

Brasilien

Paul Singer auf dem attac-Ratschlag in Gladbeck 2007

Besonders hervorzuheben ist die große Tradition solidarischer Wirtschaftsformen in Brasilien. Als größter Erfolg dortigen staatlichen Engagements gilt die Gründung einer Art Volkssparkasse mit bisher (Ende 2006) über 800000 (in Worten: achthunderttausend) Konten vorwiegend ärmerer Menschen. Diese Einrichtung basiert auf den in Bangladesch gesammelten, positiven Erfahrungen mit der Grameen Bank.

Es gibt heutzutage eine große soziale Bewegung der Solidarischen Ökonomie in Brasilien. Über 3000 alternative Betriebe, über 500 Unterstützungsorganisationen, über 80 Städte und die öffentlichen Verwaltungen von sechs Staaten organisieren sich über das Brasilianische Forum für Solidarische Ökonomie (http://www.fbes.org.br).

Der Aufbau von Genossenschaften wird unterstützt durch Innovationswerkstätten, wie sie an den brasilianischen Hochschulen seit Jahren erfolgreich durchgeführt werden. Zum Beispiel die Innovationswerkstatt der Universität von São Paulo (USP) unter der Leitung von Paul Singer und Sylvia Leser de Mello.

Der Soziologe und Ökonom Prof. Dr. Paul Singer leitet seit 2003 das Nationale Sekretariat für Solidarische Ökonomie in Brasilien. Als Staatssekretär für Solidarische Ökonomie schafft er die Rahmenbedingungen für den Aufbau der regionalen Ökonomie. Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten und Parteien unterstützen diesen Aufbauprozess landesweit. [3][4] Prof. Dr. Paul Singer ist Mitglied des Ehrenpräsidiums des Paulo Freire Zentrums in Wien [5].

Argentinien

Auch in Argentinien spielt die "von unten" entwickelte Ökonomie kooperativen Handelns seit der tiefsten Finanzkrise des Landes (Argentinien-Krise) eine große Rolle. Dort wurden mehrere Hundert Unternehmen von ihren Belegschaften übernommen.

Quebec (Kanada)

In Quebec gibt es auch eine lange und schöne Geschichte (mehr als 10 Jahre!) von Solidarischen Ökonomie. [6] (auf Französisch).

Deutschland

Der Genossenschaftsgedanke lässt sich auf die bereits vom Mittelalter her bekannten „Genossenschaften“ („Einungen“, „Gilden“) zurückführen. Seine Auswirkung reichte schon früh in die entstehende Arbeiterbewegung, aber auch in die Gewerkschaftsbewegung und den Anarchosyndikalismus hinein. Er wird als soziale Bewegung in England und auf dem europäischen Festland ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der Genossenschaftsbewegung in moderner Form wieder aufgenommen, die sich dabei einer zweckrationalen und theoriegestützten Planung bedienten. Sie ist als bedeutender Lösungsversuch derjenigen sozialen Problemen zu verstehen, die der im Wettbewerb sehr effiziente frühe Kapitalismus aufwarf.

Nach Rückschlägen im 20. Jahrhundert (1933: Zerschlagung der Genossenschaftsbewegung), und Affären in den 1980er Jahren (z. B. Neue Heimat und Konsumgesellschaft „co op“) erfolgte 1968 - 1989 eine Gründungswelle im Bereich „Alternativer Ökonomie[1].

Solidarische Ökonomie als Phänomen findet heute in Deutschland zunehmend Interesse in Wissenschaft und Politik. In diesem Kontext lässt sich aktuell eine Vitalisierung, Re- und Neuformulierung von Konzepten einer alternativen Ökonomie im Rahmen eines neuen sozioökonomischen Diskurses beobachten. Vom 24. November bis 26. November 2006 fand in Berlin ein erster Kongress mit über 1400 Teilnehmer/innen statt, der interessierten Initiativen und Privatpersonen eine Plattform für breit angelegte Diskussionen und Präsentationen bot. Im Laufe der nächste Jahre soll diese Plattform zu einer festen öffentlichkeitswirksamen Institution werden.

Solidarische Ökonomie als Forschungsgegenstand

Solidarische Ökonomie ist in Deutschland bisher an der Universität Kassel[2] und an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster[3] Gegenstand von Forschung und Lehre.

In Deutschland haben Wissenschaftler der Uni Kassel im Jahr 2007 erstmals begonnen, unter dem Begriff "Solidarische Ökonomie" alternative Wirtschaftsformen zu erheben, die darauf zielen, auf andere Weise zu produzieren, zu verkaufen, zu konsumieren und zu leben. Indem die Arbeit kollektiv, solidarisch und hierarchiefrei organisiert wird, verkörpere sie eine Strategie zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Für die Abgrenzung solcher Betriebe haben die Kasseler Forscher fünf Kriterien aufgestellt:

  • Selbstverwaltung: beinhaltet gemeinsamen Besitz und gemeinsame Entscheidungsprozesse
  • Ökologie: Ökologische Ziele und Sensibilität beim Nutzen von Material, Energie, Wasser und Boden.
  • Kooperation: etwa das gemeinsame Nutzen von Gütern mit anderen Betrieben. Auf diese Weise entwickeln sich zunehmend solidarische Netzwerke.
  • Wirtschaftlichkeit: Bedingung ist, dass es sich um ein echtes Wirtschaftsunternehmen handelt, nicht um einen Wohltätigkeitsorganisation.
  • Gemeinwesenorientierung: Wichtiger Bestandteil ist auch der Einsatz für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Gemeinschaft.[4]

Literatur

  • Internationale Sommerschule / Clarita Müller-Plantenberg (Hrsg.): Solidarische Ökonomie in Brasilien und Deutschland: Wege zur konkreten Utopie Kassel: Universität Kassel, 2005. ISBN
  • Richard Douthwaite und Hans Dieffenbacher: Jenseits der Globalisierung - Handbuch für lokales Wirtschaften, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz.
  • Tilo Klöck (Hg.): Solidarische Ökonomie und Empowerment. Jahrbuch Gemeinwesenarbeit, Band 6, AG SPAK Bücher - M 133 - Reihe Gemeinwesenarbeit, Neu-Ulm.
  • Elmar Altvater (2006): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen - eine radikale Kapitalismuskritik. Westfälisches Dampfboot.
  • Elmar Altvater/ Nicola Sekler (2006): Solidarische Ökonomie. Reader des wissenschaftlichen Beirats von Attac
  • Oliver Bierhoff: Wem gehört die Welt? Die Eigentumsfrage in einer solidarischen Ökonomie, in: Contraste - Monatszeitschrift für Selbstorganisation, Nr. 264, Herbst 2006
  • Contraste - Monatszeitschrift für Selbstorganisation
  • Holger Marcks: "Strategie der Nische. Soldidarische Ökonomie zwischen Hoffnung und Illusion", in: Direkte Aktion, Nr. 179, Jan./Feb. 2007 (als PDF), S. 3.
  • Sven Giegold / Dagmar Embshoff (Hrsg.), Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. VSA-Verlag Hamburg 2008 ISBN 978-3-89965-227-7 (in Kooperation mit der Bewegungsakademie und der tageszeitung)
  • Wolfgang Fabricius: Solidarische Ökonomie auf der Basis von Reproduktionsgenossenschaften. BoD, Norderstedt 2008 ISBN 978-3-837042-65-8

Einzelnachweise

  1. [1]Vortrag von Dagmar Embshoff und Sven Giegold: Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus
  2. [2]
  3. Projekt Solidarische Ökonomie
  4. Inseln im kapitalistischen Meer

Weblinks

Siehe auch


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