Solidarische Ökonomie

Solidarische Ökonomie

Solidarische Ökonomie ist eine alternative Form des Wirtschaftens. Sie orientiert sich an bedürfnisorientierten, sozialen, demokratischen und ökologischen Ansätzen. Solidarökonomische Projekte sollen grundsätzlich im Dienste des Menschen stehen. Darüber hinaus basiert sie auf der Idee, dass jeder Mensch ein Teil der Gesellschaft und seine Arbeit damit ein entscheidender Bestandteil für den Fortschritt der Menschheit sei.

Inhaltsverzeichnis

Begriff und Ziele

Der Begriff Solidarökonomie ist bewusst nicht eng eingegrenzt, um möglichst vielen Bereichen, sehr unterschiedlichen Konzepten, Theorien und Ansätzen Platz zu geben. Solidarökonomische Projekte bestehen derzeit vor allem in Lateinamerika, welches führend ist in der Kooperation der solidarökonomischen Betriebe, und in Europa. Zu diesen Projekten zählen unter anderem Open Source-Programme, Workshops und alternative Bildungseinrichtungen, Tauschbörsen, Sozialmärkte, selbstverwaltende Betriebe und Wohngemeinschaften. Die Projekte und Modelle haben in der Regel jeweils drei ähnliche theoretische und praktische Ziele:

  • das soziale Ziel: Die Gemeinschaft soll demokratisch und sozial geordnet werden. Der Materialismus als Gesellschaftsordnung soll überwunden und das Individuum wieder in das geordnete, gesellschaftliche Leben integriert werden.
  • das politische Ziel: Mitbestimmung und Demokratie sollen erweitert werden. Die Solidargemeinschaft versteht sich als ein System von Werten und Normen, das vorsieht, dass der Mensch im Mittelpunkt des Bürger- und Staatsinteresses steht.
  • das wirtschaftliche Ziel: Lebens- und Arbeitsbedingungen sollen verbessert werden. Man soll nachhaltig und bedürfnisorientiert haushalten sowie den Umwelt- und Artenschutz ernst nehmen.

Anwendung

Bisher sind verschiedene Neue Soziale Bewegungen entstanden. In ihnen engagieren sich Menschen gegen die Folgen des globalisierten Kapitalismus, gegen Ausgrenzung, Marginalisierung, Prekarisierung, Arbeitslosigkeit und Armut. Sie schließen sich kooperativ zusammen und versuchen den Aufbau einer Anderen Ökonomie.

Deutschland

Der Genossenschaftsgedanke lässt sich auf die bereits vom Mittelalter her bekannten Genossenschaften (Einungen, Gilden) zurückführen. Er reichte schon früh in die entstehende Arbeiterbewegung, aber auch in die Gewerkschaftsbewegung und den Anarchosyndikalismus hinein. Er wurde als soziale Bewegung in England und auf dem europäischen Festland ab Mitte des 19. Jahrhunderts von der Genossenschaftsbewegung in moderner Form wieder aufgenommen. Sie bediente sich dabei einer zweckrationalen und theoriegestützten Planung. Die Genossenschaftsbewegung ist als bedeutender Lösungsversuch derjenigen sozialen Probleme zu verstehen, die der im Wettbewerb sehr effiziente frühe Kapitalismus aufwarf.

Nach Rückschlägen im 20. Jahrhundert, zum Beispiel der Zerschlagung der Genossenschaftsbewegung durch das NS-Regime, und Affären in den 1980er Jahren (z. B. Neue Heimat und Konsumgesellschaft „co op“) erfolgte zwischen 1968 und 1989 eine Gründungswelle im Bereich Alternativer Ökonomie.[1]

Österreich

In Österreich steht die Solidarökonomie noch am Anfang. Vom 20. bis zum 22. Februar 2009 fand in der Universität für Bodenkultur Wien der Kongress Solidarische Ökonomie statt. Er wurde von über 1000 Teilnehmern besucht.

Kanada

In Québec wurde vor 10 Jahren der Chantier de l’economie sociale gegründet. Stark betont wird die Bedeutung der Solidarökonomie für die Regionale Entwicklung. Auf Grund der direkten Beziehungen der solidarischen Betriebe zum Umfeld, in dem sie sich befinden, sollen neue Bedürfnisse schneller erkannt und interpretiert werden können. Der Chantier vertritt die rund 6200 solidarischen Betriebe im Gebiet mit etwa 65.000 beschäftigten Personen und pflegt Kontakte mit der brasilianischen Organisation, dem Fórum,[2] Charles Guindon vom Chantier war bei der nationalen Konferenz in Brasília anwesend, wo an einem gemeinsamen Projekt weitergearbeitet wurde. Die Problematik liegt bei der kanadischen Regierung, da sie nur Geld zur Verfügung stellt, wenn Kanada Entwicklungshilfe leistet. Die würde einem einseitigen Wissensaustausch entsprechen. Die solidarökonomische Geschichte hat in Kanada eine lange Tradition.[3]

Argentinien

Nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Argentinien 2001 waren 20 % der argentinischen Bevölkerung arbeitslos und über 50 % verarmt. Massendemonstrationen, Straßenblockaden, Streiks und landesweite Fabrikbesetzungen waren die Folge. Die Betriebe wurden zuvor von ihren Besitzern aufgegeben. Gründe waren teilweise wirtschaftliche Probleme wegen der Wirtschaftskrise. Zusätzlich beabsichtigte Konkurse bzw. Insolvenzen um mit neuen Mitarbeitern woanders einen neuen Betrieb zu gründen. Andere investierten das aus dem Betrieb herausgezogene Kapital in anderen Branchen, vor allem im Agrarexport. Einige Fabrikeigentümer verließen das Land. Dies führte dazu dass viele Arbeiter begannen, Fabrikgelände zu besetzen und die Produktion wieder aufzunehmen. Teilweise wurden die Übernahmen mit den ehemaligen Besitzern ausgehandelt, ohne den Betrieb zu besetzen. Da in der überwiegenden Mehrzahl der Betriebe das Management und große Teile der Verwaltung zusammen mit den Besitzern den Betrieb verließen, wurden meist mehr als 50 % der Personalkosten eingespart. Dadurch wurden viele Betriebe wieder wirtschaftlich. Die Fabriken wurden mit dem Ziel der Existenzsicherung anstelle der Gewinnmaximierung fortgeführt. Heute befinden mehr als 200 Fabriken in den Händen von Arbeitern und sichern die Existenz von mehr als 10.000 Mitarbeitern.

Als Rechtsform der Fabriken wurden meist Kooperativen gewählt. Sie sehen sich selbst als neue Generation der in Argentinien weitverbreiteten Kooperativen. Im Gegensatz zu traditionellen Kooperativen ist die Betriebsversammlung das firmeninterne Entscheidungsorgan. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Die Betriebsversammlungen finden in der Regel mindestens einmal monatlich statt. Dort werden alle Firmen betreffenden Entscheidungen getroffen. Nur für das Alltagsgeschäft gibt es teilweise Untergruppen, die bestimmte Arbeitsbereiche wie Verkauf, Verwaltung usw. abdecken. Jedoch ist die Betriebsversammlung immer letzte Entscheidungsinstanz und Informationsorgan. Die Entwicklung war nicht so erfolgreich wie in Brasilien. Das Arbeitsentgelt dieser Betriebe ist in 52 % der Fälle gesunken. Die Arbeitszeiten blieben in der Regel gleich. Auch die rechtliche Situation dieser Betriebe ist in vielen Fällen noch immer nicht geklärt. In manchen Fällen konnten Räumungen oder Zwangsversteigerungen nicht verhindert werden. Einige dieser Betriebe baten daher um Verstaatlichung, wobei aber die Selbstverwaltung der Betriebe beibehalten werden sollte. Eine weitere Forderung an die argentinische Republik war die Schaffung eines Fonds, der den Kooperativen das notwendige Startkapital zur Verfügung stellen sollte. Damit sollte sichergestellt werden, dass Maschinen, Grund und Boden im Besitz der Unternehmung bleiben.

Brasilien

Paul Singer auf dem attac-Ratschlag in Gladbeck 2007

Besonders in Brasilien wird versucht, die Solidarökonomie in die Praxis umzusetzen. Während einer Wirtschaftskrise in den 1980er und 1990er Jahren gingen viele brasilianische Unternehmen in Konkurs. Arbeiter kauften und sanierten solche Firmen, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Heute sind viele dieser Fabriken solidarökonomische Betriebe. Eines ihrer Mottos ist Outra economia acontece (eine andere Wirtschaft geschieht). Als maßgeblich für den Erfolg wird die Unterstützung durch Gewerkschaften und die Regierung angesehen. 1996 setze sich der gewerkschaftliche Dachverband Brasiliens Central Única dos Trabalhadores (CUT) für die Kooperativen ein. Die ANTEAG (Associacao Nacional dos Trabalhadores e Empresas de Autogestao e Participacao Acionara, deut. nationale Vereinigung der Arbeiter in selbstverwalteten Betrieben) und die 2003 gegründete SENAES (Secretaria Nacional de Economia Solidaria, deut. das nationale Sekretariat für die Solidarökonomie) sind für die Gründung neuer Kooperativen für den Zusammenschluss der Kooperativen zuständig.

Das nationale Sekretariat hat dabei eine Schlüsselposition. Es besitzt derzeit den Status einer Abteilung des Arbeitsministeriums und wird seit 2003 von dem Ökonomen Paul Singer geleitet. Es repräsentiert die Bewegung für Solidarökonomie in Brasiliens mit allen Forderungen gegenüber staatlichen und privaten Institutionen sowie internationalen Organisationen. Weitere Hauptaufgaben des Sekretariats sind die Verbreitung von Informationen über das Konzept der Solidarökonomie und die politische und materielle Unterstützung der Kooperativen in ganz Brasilien. Seit 2004 verfügt das Sekretariat über ein eigenes Budget. Es wird für verschiedene Projekte verwendet:

  • die Einrichtung von Foren und Zentren für Kooperativen, um die Interessen zu bündeln und somit den gemeinsamen Verkauf der Produkte zu ermöglichen,
  • die Vermittlung von Handelspartnern, Treffen oder Kursen, Beratung bei juristische Fragen
  • Hilfe bei der Organisation von Messen und Seminaren
  • Hilfe bei der Erstellung von Bilanzen und Statistiken
  • SENAES setzt sich auch für die Frage der gesetzlichen Regelungen ein, z. B. ob eine Kooperative offiziell als Rechtsform einer Gesellschaft anerkannt wird
  • das Erstellen von Richtlinien für die Solidarökonomie und die Beobachtung ihrer Durchführung

Die Kooperativen werden bei der Entwicklung einer Alternativen Wirtschaft durch Regierungsorgane, Intellektuelle, Universitäten und Genossenschaften unterstützt. Über 3000 alternative Betriebe, über 500 Unterstützungsorganisationen, mehr als 80 Städte und die öffentlichen Verwaltungen von sechs Staaten organisieren sich über das Brasilianische Forum für Solidarische Ökonomie.[4]

Der Aufbau von Genossenschaften wird unterstützt durch Innovationswerkstätten, die an brasilianischen Hochschulen durchgeführt werden. Ein Beispiel ist die Innovationswerkstatt der Universität von São Paulo (USP) unter der Leitung von Paul Singer und Sylvia Leser de Mello.

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt des SENAES ist die Stärkung der regionalen Wirtschaft. Dabei wird es von Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten und Parteien landesweit unterstützt.[5][6]

Forschung

Solidarische Ökonomie ist in Deutschland bisher an der Universität Kassel[7] und an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster[8] Gegenstand von Forschung und Lehre.

In Deutschland haben Wissenschaftler der Universität Kassel im Jahr 2007 erstmals begonnen, unter dem Begriff „Solidarische Ökonomie“ alternative Wirtschaftsformen zu erheben, die darauf zielen, auf andere Weise zu produzieren, zu verkaufen, zu konsumieren und zu leben. Indem die Arbeit kollektiv, solidarisch und hierarchiefrei organisiert wird, verkörpere sie eine Strategie zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung. Für die Abgrenzung solcher Betriebe haben die Kasseler Forscher fünf Kriterien aufgestellt:

Literatur

  • Internationale Sommerschule / Clarita Müller-Plantenberg (Hrsg.): Solidarische Ökonomie in Brasilien und Deutschland: Wege zur konkreten Utopie Kassel: Universität Kassel, 2005.
  • Richard Douthwaite und Hans Dieffenbacher: Jenseits der Globalisierung – Handbuch für lokales Wirtschaften, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz.
  • Tilo Klöck (Hg.): Solidarische Ökonomie und Empowerment. Jahrbuch Gemeinwesenarbeit, Band 6, AG SPAK Bücher – M 133 – Reihe Gemeinwesenarbeit, Neu-Ulm.
  • Elmar Altvater (2006): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen – eine radikale Kapitalismuskritik. Westfälisches Dampfboot.
  • Elmar Altvater, Nicola Sekler (Hrsg.), Solidarische Ökonomie. Reader des wissenschaftlichen Beirats von Attac, Hamburg 2006
  • Oliver Bierhoff: Wem gehört die Welt? Die Eigentumsfrage in einer solidarischen Ökonomie, in: Contraste – Monatszeitschrift für Selbstorganisation, Nr. 264, Herbst 2006
  • Contraste – Monatszeitschrift für Selbstorganisation
  • Holger Marcks: Strategie der Nische. Soldidarische Ökonomie zwischen Hoffnung und Illusion. In: Direkte Aktion, Nr. 179, Jan./Feb. 2007 (PDF), S. 3.
  • Sven Giegold / Dagmar Embshoff (Hrsg.), Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. VSA-Verlag Hamburg 2008 ISBN 978-3-89965-227-7 (in Kooperation mit der Bewegungsakademie und der tageszeitung)
  • Wolfgang Fabricius: Solidarische Ökonomie auf der Basis von Reproduktionsgenossenschaften. BoD, Norderstedt 2008, ISBN 978-3-837042-65-8
  • Elisabeth Voß: Wegweiser Solidarische Ökonomie. Anders Wirtschaften ist möglich. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2010, ISBN 978-3-930830-50-3
  • Christian Felber, Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Deuticke Wien 2010 ISBN 978-3-552-06137-8

Weblinks

Artikel:

Einzelnachweise

  1. [1] Vortrag von Dagmar Embshoff und Sven Giegold: Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus
  2. [www.chantier.qc.ca Chantier], abgerufen am 16. Juli 2007
  3. economiesocialequebec (auf Französisch)
  4. http://www.fbes.org.br
  5. [2][3]
  6. Paul Singer ist Mitglied des Ehrenpräsidiums des Paulo Freire Zentrums in Wien [4]
  7. [5]
  8. Projekt Solidarische Ökonomie
  9. Inseln im kapitalistischen Meer

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