Soziales Lernen

Soziales Lernen

Der Begriff Soziales Lernen stammt aus der Lernpsychologie und wurde in etwas abgewandelter Bedeutung auch von der Sozialpädagogik und der Erziehungswissenschaft aufgegriffen. Auch die Soziale Arbeit beschäftigt sich mit dem Sozialen Lernen. Das soziale Lernen ist eine der Grundlagen für das so genannt handlungsorientierte, problemlösende Lernen.

SIVUS (Abk. schwedisch: Social Individ Via Utveckling Samverkan) hieß der Ursprung des "sozialen Lernens", wie es in den 70er Jahren vom schwedischen Psychologen Sophian Walujo entwickelt wurde. Es lehnte sich stark an die Empirie der skandinavischen Bauern und Seeleute an, die ohne eine konsequente Zusammenarbeit die Unbill ihres Lebensraumes wohl kaum so erfolgreich bewältigt hätten. Dieses ursprünglich kulturdeterministische Modell (SIVUS) wurde zuletzt aufgrund der neuesten Hirn- und Genforschungen (Neurobiologie), sowie der Humanethologie um einige interessante Facetten erweitert.

Das soziale Lernen dient dem Erwerb "sozialer Kompetenz" und ist somit eine der Grundvoraussetzungen für das Gelingen einer „Offenen Gesellschaft“. Soziale Kompetenz ist eine der Schlüsselqualifikationen für die globalisierte Welt von morgen, denn immer mehr Menschen auf diesem Planeten beanspruchen Recht, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand. Diese Entwicklung führt aber auch zu einer immer stärkeren Einschränkung der Freiheiten ("Big Brother"; Orwell), was die Entwicklung hin zu einer demokratiebewussten "Offenen Gesellschaft" in vielfacher Hinsicht erschwert. "Soziales Lernen" ermöglicht die Bewältigung dieses Ziels und nutzt dabei die Mechanismen der Gruppendynamik zur Gestaltung von Persönlichkeit und Gesellschaft.

In einem moderneren Sinn bedeutet "Soziales Lernen" auch die Überwindung des linearen, behaviouristischen Lernens und ist somit ein Weg, der eine sinnstiftende (Viktor Frankl) und vernunftgewinnende (Immanuel Kant) Intervention in die Gesellschaft darstellt.

Inhaltsverzeichnis

Psychologische Sichtweise

In der Psychologie wurde der Begriff von Julian B. Rotter geprägt. Bedeutsam waren vor allem die Forschungen Albert Banduras zum Modelllernen im Zuge der Sozial-Kognitiven Lerntheorie. Gemeinsam ist beiden Theoretikern, dass sich das menschliche Verhalten weder allein durch äußere Reize (Wie es das behavioristische Paradigma postuliert) noch allein durch Kognitive Praedispositionen (wie es die Kognitionspsychologie sieht) determiniert sind, sondern durch die Interaktion von Situation (äußeren Reizen) und Person. Diese Haltung wird gemeinhin als Interaktionismus bezeichnet.

Sozialpädagogische Sichtweise

In der Sozialpädagogik versteht man unter Sozialem Lernen den Vorgang des Erwerbs "sozialer und emotionaler Kompetenzen". Es geht dabei um die Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeit, Kontakt-, und Kommunikationsfähigkeit, Empathie und Diskretionsfähigkeit, Kooperations-, und Konfliktfähigkeit, sowie Zivilcourage. Als Ziel des Sozialen Lernens gilt die Fähigkeit zur sozialen Antizipation.

Der Begriff stellt hier eine moderne Form der Erziehung und des Erwerbs sozialer Kompetenzen dar, welcher sich ausschließlich oder maßgeblich in einer sozialen Gruppe vollziehen kann. Dabei greift soziales Lernen maßgeblich auf die Mechanismen der Gruppendynamik zurück und wird als eine Form zur Überwindung hierarchischen, linear behavioristischen Lernens verstanden, und soll somit bei der individuellen demokratiebewussten Entwicklung helfen und im Endeffekt auch bei der Gestaltung der Gesellschaft. Hierbei wird vor allem auf die Ausprägung von Vernunft, Ethik und Zivilcourage - also den allgemeinen Werten - wertgelegt.

Handlungskompetenz wird heute aufgeschlüsselt in Sach-, Methoden-, Personal- und Sozialkompetenz. Konkret wird beim sozialen Lernen die Entwicklung von eigenen individuellen emotionalen als auch praktischen Kompetenzen und die Eigenwahrnehmung gefördert, sowie die Akzeptanz des Anderen mit dessen individuellen Kompetenzen und Grenzen.

Soziales Lernen ist keine Methode, die am Ende des Jugendalters beendet ist, sondern ein lebensbegleitender Lernprozess, der flexibel gestaltet wird, um auf neue Bedingungen zu reagieren. Allerdings stellt soziales Lernen eine Grundeinstellung dar, die möglichst früh gefördert werden sollte.

Soziales Lernen kann nicht selbstständig durch einzelne willige Pädagogen realisiert werden und gelingen, sondern muss Schritt für Schritt gezielt und konsequent vom ganzen Team (Schule, Hort, Kindergarten, Familie ...) gewollt und realisiert werden.

Erziehungswissenschaftliche Sichtweise

„Soziales Lernen“ wird häufig missverstanden und dabei mit dem aus den USA und England stammenden „Service Learning“ verglichen. Mit Sozialem Lernen ist aber weniger etwas „Gutes tun“ (ähnlich der täglich guten Tat der Pfadfinder) gemeint. Vielmehr ist es die Bereitschaft, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, um eigene Vorurteile, Klischees und Illusionen zu hinterfragen und ihnen konsequent zu begegnen. Es geht also um den Erwerb "sozialer und emotionaler Kompetenz". Dieses Lernen kann weder durch automatisches Memorieren - noch durch vordergründige Projektarbeit mit Erfolg (z.B. Spiele) geschehen. Vielmehr ist es ein lebensbegleitender Prozess der Reflexion und Prägung des einzelnen Individuums. Alle Beispiele aus der Umwelt prägen. Je mehr unterschiedliche Perspektiven dabei eröffnet werden, desto eher gelingt es dem Lernenden, Ambivalenzen zu erkennen und das Differenzieren erfolgreich anzuwenden. Als „Selbstschädigung durch Neurose“ bezeichnete der Erfinder der Selbstmordforschung Erwin Ringel den Prozess der Nichtbewältigung. Das trifft auch auf analoge Fehler beim „Sozialen Lernen“ zu.

In Österreich bekam das „Soziale Lernen“ (einige Jahre später gab es erste Versuche mit dem „Offenen Lernen“) bereits in den 80er Jahren einen eigenen Stellenwert im schulischen Lernen.

In Deutschland ist das soziale Lernen im Sinne der klassischen Kompetenzen in den Rahmenplänen als soziale Kompetenz neben der personalen, der fachlichen und der methodischen Kompetenz verankert.

Neuere Entwicklungen: Implizit Soziales Lernen

Die Neurobiologie macht heute Lernvorgänge im Gehirn sichtbar. Lernerfolg wie Misserfolg sind so seit kurzem wissenschaftlich überprüfbar geworden. Lernstandards, Referenzrahmen und Lernportfolios sind u.a. das Ergebnis dieser Erneuerung, die auch auf PISA und andere Assessment-Studien Einfluss genommen haben. Eine völlige Neuorientierung des Sprachenlernens und des Lernens überhaupt, sind die Folge. Davon profitiert auch das Soziale Lernen, das neuerdings „implizit“ angewendet wird.

Hier befindet sich auch die Schnittstelle zum „Demokratie lernen“. „Civic Education“ oder „Education for Democratic Citizenship“ heißt die Lernform, die neuerdings von der EU im Rahmen des „Lebenslangen Lernens“ (Lissabon-Ziel) und der europäischen Identitätsstiftung (Aufbau einer europäische Sphäre) gefordert wird. Dieses „Demokratie Lernen“, wird zunehmend zu einem Muss an europäischen Schulen. Das „Implizit Soziale Lernen“ wird dazu vermutlich die führende Methode werden.

Siehe auch

Literatur

  • Beiträge zum Sozialen Lernen, APS Bd. 11, 1987
  • Helmuth Öhler, Klassengemeinschaft und soziales Lernen im Deutschunterricht (Hausarbeit an der Pädagogischen Akademie Tirol), Innsbruck 1997.
  • „Soziales Lernen“ Erfahrungen Impulse, Orientierungshilfen - eine Sammlung, 1999
  • „Soziales Lernen“ geplant und doch flexibel, bmuk Österreich 1999
  • „Soziales Lernen“, bmuk Österreich, ISBN 3-900922-50-0
  • Soziales Lernen - Erfahrungen, Impulse, Orientierungshilfen, bmuk, 1999
  • betrifft: demokratie lernen, ein Handbuch zum Demokratie-Lernen im Schulalltag, bmuk Österreich, 1998

Weblinks


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