Totemismus

Totemismus

Totemismus ist ein gesellschaftliches Konzept und ein Glaubenssystem, bei dem eine Gruppe von Menschen dauerhafte Beziehungen zu Tieren, Gegenständen und Erscheinungen, also den Totems, unterhält, denen sie sich in einer magischen oder durch Abstammung in einer verwandtschaftlichen Beziehung verpflichtet glauben.

Man unterscheidet zwischen Individual- und Gruppentotemismus, je nachdem ob ein Individuum oder eine ganze Gruppe mit dem Totem in Beziehung steht. Häufig ist das Totem ein Tier, ebenso kommen aber auch Pflanzen und – bei Wüstenvölkern – Wasserquellen in Frage. Die Glaubensgemeinschaften sind immer überzeugt, dass ihr mythischer Urahn oder Schöpfer von dem Totem verkörpert werde. Die enge Mensch-Totem-Beziehung ist uralt und könnte in Zusammenhang mit frühen politischen Bündnissen stehen, in denen eine Verteilung der Lebensquellen (auch Frauen als Quelle der Nachkommen) vereinbart wurden; dies würde bestimmte Verbote und Regeln des Frauentausches erklären. (s. Claude Lévi-Strauss). Das Totem ist nämlich mit einem Tabu belegt, vor allem dem Verbot, es zu verzehren und überhaupt, sich seinem (angenommenen) Willen zu widersetzen. Hierzu zählt auch das strenge Verbot des geschlechtlichen Verkehrs zwischen den Angehörigen desselben Totemclans, ein Vorläufer des sogenannten Inzesttabus, jedoch nicht mit diesem zu verwechseln.

Die weltanschaulichen und religiösen Grundlagen stammen aus einem Vorstellungsbereich, der den Jäger- und Sammlervölkern besonders nahe liegt und in Beziehungen zu einer animistischen Weltsicht zeigen, so die Vorstellung, den Dingen und Phänomenen der Welt lägen menschenähnliche Wünsche und Verhaltensweisen zugrunde. Sie erscheinen dabei als beseelte und mit Kräften ausgestattete Wesen, denen auch die Macht zu eigen sein soll, Verstöße gegen die o.g. Tabus anhand 'Strafen' (ausbleibende Jagderfolge z. B.) zu verfolgen, so können sie auch magisch besänftigt werden, indem man ihnen Opfer darbringt (Vorform des Betens).

Inhaltsverzeichnis

Totemismus und Verwandtschaft

Das aus der Algonkin-Sprache des südlichen Kanada stammende Wort Totem bedeutet „Verwandtschaft, Familienabzeichen“ oder auch „persönlicher Schutzgeist“. Im Totemismus werden Personen als miteinander verwandt angesehen, wenn sie denselben Totem (Nachnamen) haben. Es ist keinem Gruppenmitglied gestattet, geschlechtliche Beziehungen zu einem Angehörigen desselben Totems aufzunehmen, unabhängig davon, ob die beiden genetisch miteinander verwandt sind. Diese als Exogamie bezeichnete Begattungsvorschrift ergibt sich daraus, dass die Totemszugehörigkeit ursprünglich – bevor man den Zusammenhang zwischen Begattung und Schwangerschaft entdeckte – nur von der Mutter auf ihre Kinder 'vererbt' wurde, so dass, bei einer solcher matrilinearen Clanzugehörigkeit, die geschlechtliche Beziehung zwischen dem 'Vater' und den Töchtern der Mutter ausdrücklich keinem Tabu unterliegt. Das Inzesttabu im heutigen Verständnis des Begriffes setzt also die Erkenntnis der Vaterschaft und die erst davon ermöglichte Einführung einer patrilinearen Erbfolge voraus.

Angehörige eines Totems glauben, dass sie in letzter Linie von einer bestimmten Pflanze, einem Tier oder auch einem Stein/Berg/Felsen abstammen, unter dessen Schutz sie stehen bzw. für dessen Schutz sie verantwortlich sind. Sie wähnen sich in einem mystisches Bündnis mit ihrem Totem und tragen auch diesen Namen. Innerhalb der Gruppe waren sie für diesen Totem zuständig, mussten dafür sorgen, dass er in ausreichender Menge vorhanden war, durften diesem selbst aber kein Leid zufügen. Eine Person, die dem Totem des Schweines angehörte, musste beispielsweise durch Magie oder Jagdzauber für erfolgreiche Schweinejagd sorgen, sagen, wo sich diese aufhalten usw., durfte aber selbst kein Schwein töten oder essen. Auch die Verletzung des Verbotes, dem eigenen Totem zu schaden, wurde als Inzest behandelt und wie die Verletzung des Inzesttabus bestraft.

Der Totemismus ist ein weltweites Phänomen; seine stärkste Ausprägung hat er vielleicht in Australien erfahren. Je nachdem ob die Abstammungsregel matrilinear oder patrilinear ist, erbt man das Totem der mütterlichen oder väterlichen Linie. Dies zeigt, dass der Totemismus in engem Zusammenhang mit Verwandtschaftssystemen steht, bzw. Abstammung mit Hilfe des Totems symbolisiert wird. Es kommt äußerst selten vor, dass das Totemtier von seinem Verehrer getötet und gegessen wird.

Entwicklung des Totemismus

Der Totemismus ist vor allem in einfachen Jäger-Kulturen verankert. Diese Wildbeuter-Kulturen werden zusehends zurückgedrängt, so dass die Bedeutung des Totemismus immer geringer wird. Der Kolonialismus und die christlichen Missionierung haben ebenso dazu beigetragen, dass der Totemismus an Bedeutung verliert. Heute hat der Totemismus seine größte Bedeutung bei den Aborigines in Australien und einigen Indianergruppen in Nordamerika.

Forschungsgeschichte

Fast alle Autoren des 19. Jahrhundert sehen im Totemismus den Ursprung der Religion oder zumindest ihre früheste uns bekannte Form. Alle Theorien basieren auf dem Evolutionismus oder haben sich in kritischer Auseinandersetzung von ihm weiterentwickelt (z.B. bei Claude Lévi-Strauss' Strukturalismus).

Gelehrte wie William Robertson Smith (1846–1894) (und Sigmund Freud) führen das Opfer auf den Totemismus zurück. Das Totem sei streng tabuisiert, werde aber bei feierlichen Anlässen geschlachtet und gemeinsam aufgegessen. F.B. Jevons vermutete 1896 eine lineare Entwicklung vom Totemismus zur Religion. Der Animismus sei eher eine primitive Philosophie als eine Form religiöser Vorstellungen.

Der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt schrieb 1912, „es ergebe sich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Schluss, dass die totemistische Kultur überall einmal eine Vorstufe der späteren Entwicklungen und eine Übergangsstufe zwischen dem Zustand der primitiven Menschen und dem Helden- und Götterzeitalter gebildet hat“.

John Ferguson McLennan (1827–1881) brachte als erster den Totemismus mit Religion in Zusammenhang. Er sah darin ein Überbleibsel des Fetischismus. Smith ging weiter und erblickte im Totemismus den Ursprung der Religion überhaupt. James George Frazer vertrat 1910 in Totem und Exogamie den gegenteiligen Standpunkt: „Reiner Totemismus ist in sich selbst ganz und gar keine Religion, denn die Totems werden nicht verehrt, sie sind in keinem Sinne Gottheiten.“ Deshalb sei nur von einer Verehrung von Totems zu sprechen.

Emile Durkheim

Emile Durkheim übernahm von Smith vier Grundgedanken: (1) dass die primitive Religion ein Clankult sei und (2) dass dieser Clankult totemistisch sei (er glaubte, Totemismus und das Einteilungssystem der Clans bedingten einander automatisch); (3) dass der Gott des Clans der spiritualisierte Clan selbst und (4) dass der Totemismus die elementarste und in diesem Sinne ursprünglichste uns bekannte Form der Religion sei.

Er sah Religion als einheitliches System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die auf heilige Dinge bezogen sind, d.h. auf isolierte und verbotene Dinge. Nach diesem Kriterium kann Totemismus als Religion definiert werden. Welches Objekt wird nun in der totemistischen Religion verehrt? Es ist nach Ansicht von Durkheim die Gesellschaft selbst, was die Menschen verehren. Das Totem ist zugleich Symbol für den Gott oder das Lebensprinzip wie für die Gesellschaft, denn Gott und Gesellschaft sind das gleiche. In den Totemsymbolen drücken die Clanangehörigen ihre Identität und ihre Gruppenzugehörigkeit aus.

Mit seinem soziologischen Ansatz kappt Durkheim jede Transzendenz der Religion und verlegt sie ins Diesseits, indem er sie im Sozialen begründet.

Kritik

Da es äußerst selten vorkommt, dass das Totemtier getötet und gegessen wird, entbehrt die Opfertheorie von Freud und Smith ihrer wichtigsten Grundlage. Der Totemismus ist zwar weltweit verbreitet, aber zahlreiche wildbeuterische Altvölker (z.B. Pygmäen, sibirische Altvölker) kennen den Totemismus nicht. Daher ist die These Wundts, der Totemismus sei eine allgemeine Durchgangsstufe, nicht stichhaltig.

Siehe auch

Literatur


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