- Trägheitskraft
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Trägheits- oder Scheinkräfte sind die Kräfte, die auf Körper nur wirken, wenn man sie nicht in einem Inertialsystem, sondern in einem beschleunigten Bezugssystem beschreibt. Hierzu gehören beispielsweise Bezugssysteme, die fest mit einem beschleunigten Objekt verbunden sind, also auch solche, bei denen das Objekt seine Richtung ändert. Ein Sonderfall solcher Bezugssysteme ist das Bezugssystem der Erdoberfläche, da jeder ihrer Punkte aufgrund der Erddrehung ständig seine Richtung ändert.
Inhaltsverzeichnis
Geradlinig beschleunigtes Bezugsystem
Das typische Beispiel für ein beschleunigtes Bezugssystem findet man bei einem anfahrenden oder bremsenden Fahrzeug. Für einen Fahrgast, der in einem bremsenden Zug steht, kann der Wagen als Bezugssystem dienen. Er erklärt dann seine Bewegungen (bzw. die Tatsache, dass er still stehen bleibt) wie folgt: Auf seinen Körper wirkt eine Gewichtskraft, die ihn nach unten zieht. Diese Kraft muss er mit den Beinen ausgleichen, damit er nicht nach unten sackt. Zusätzlich wirkt (weil der Zug bremst) aber auch eine Trägheitskraft auf seinen Körper, die ihn nach vorne zieht. Diese kann er beispielsweise ausgleichen, in dem er sich nach hinten beugt oder sich festhält. Würde er dies nicht tun, würde diese Kraft dazu führen, dass er relativ zum Zug nach vorne beschleunigt wird.
Ein anderer Beobachter, der auf dem Bahnsteig steht und in den einfahrenden Zug schaut, erklärt dieselbe Situation ohne Trägheitskraft. Er sieht einen Fahrgast, der gegen die Fahrtrichtung beschleunigt (also abgebremst) wird. Diese Beschleunigung führt er auf die Kraft zurück, mit der der Fahrgast an der Haltestange zieht. Würde der Fahrgast sich nicht festhalten, so würde er sich einfach mit gleichbleibender Geschwindigkeit geradlinig weiter bewegen, wie es der Trägheitssatz beschreibt.
Ob es eine Trägheitskraft gibt oder nicht, hängt also nicht von der Bewegung des betrachteten Körpers, sondern davon ab, welches Bezugsystem man verwendet, um die beobachtete Bewegung zu erklären.
Rotierendes Bezugsystem
Rotierende Bezugssysteme sind beispielsweise das mit der Drehscheibe eines Karussells mitbewegte System, das mit einem Fahrzeug während einer Kurvenfahrt mitbewegte System oder das mit der Erdoberfläche mitbewegte System. Will man die Bewegung eines Körpers in einem gleichmäßig rotierenden Bezugssystem beschreiben, treten zwei Arten von Trägheitskräften auf.
Die Flieh- oder Zentrifugalkraft wirkt auf jeden Körper, der sich nicht genau auf der Drehachse des rotierenden Bezugssystems befindet. Sie ist proportional zum Abstand des Körpers von der Drehachse und zum Quadrat der Winkelgeschwindigkeit des Bezugssystems. Sie ist stets nach außen, also von der Drehachse weg gerichtet und bewirkt, dass ein (relativ zum rotierenden Bezugssystem ruhender) Körper nach außen wegfliegt bzw. gegen eine äußere Wand gedrückt wird.
Die Corioliskraft wirkt zusätzlich zur Zentrifugalkraft auf Körper, die sich relativ zu einem rotierenden Bezugssystem bewegen und ist unabhängig von seinem Ort innerhalb des Systems oder der Richtung zu dem System. Sie ist proportional zur Geschwindigkeit des Körpers (bemessen im rotierenden System) und zur Winkelgeschwindigkeit der Rotation. Sie ist stets senkrecht zur Geschwindigkeit des Körpers (bezogen auf das rotierende System) und senkrecht zur Drehachse gerichtet. Die Corioliskraft ist für die typischen Schwierigkeiten verantwortlich, die entstehen, wenn man versucht, auf einer rotierenden Scheibe zu laufen. Der Bewegungsapparat des Körpers kann die Zentrifugalkraft intuitiv ausgleichen, wenn er die Drehung des Systems wahrnimmt oder kennt. Eine zusätzliche Kraft, senkrecht zu der Eigenbewegung auf der rotierende Scheibe ist, bereitet Probleme, weil eine solche Erscheinung nicht zur täglichen Erfahrung gehört.
Bei einer horizontalen Bewegung auf einer rotierenden Scheibe treten nur horizontale Corioliskräfte auf. Wenn die Erde als rotierendes Bezugssystem betrachtet wird, so sind horizontale Bewegungen zwar parallel zur Erdoberfläche, aber damit nicht horizontal zur Rotationsebene der Erde. Daraus ergeben sich zusätzlich auch vertikale Anteile, die im Hauptartikel Corioliskraft näher beschrieben sind.
Formeln
Um in einem beliebigen Bezugsystem die Trägheitskraft zu berechnen, die auf einen bestimmten Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt wirkt, muss zuerst die Bewegung dieses Bezugsystems relativ zu einem (beliebig wählbaren) Inertialsystem beschrieben werden. Wählt man als Inertialsystem dasjenige, in dem zu dem betrachteten Zeitpunkt der Ursprung des Bezugssystems ruht, so bleiben als Parameter die Beschleunigung , die der Ursprung gerade erfährt, sowie die Winkelgeschwindigkeit , mit der das Bezugssystem um den Ursprung rotiert. Beide Parameter hängen im allgemeinen von der Zeit ab.
Für die Trägheitskraft, die auf einen Körper der Masse m wirkt, der sich am Ort befindet und mit der Geschwindigkeit bewegt, gilt dann
In einem nicht rotierenden, gleichmäßig beschleunigten Bezugssystem (bremsender Zug) bleibt nur der erste Term. Er ist proportional zur Beschleunigung und in diesem Fall unabhängig von Ort und Zeit.
In einem gleichmäßig rotierenden Bezugssystem (Karussell) bleiben nur der zweite und der dritte Term. Der zweite ist die Corioliskraft, der dritte die Zentrifugalkraft.
In einem beschleunigt rotierenden Bezugssystem (anfahrendes Karussell) bleiben die letzten drei Terme, da die Winkelbeschleunigung dann von Null verschieden ist. Der letzte Term wird als lineare Beschleunigungskraft bezeichnet.
Gravitationskraft als Trägheitskraft
Auch die Gravitationskraft hat Eigenschaften von Trägheitskräften: Sie ist proportional zur Masse eines Körpers, hängt nur von dessen Ort ab, ansonsten aber von keinen anderen Eigenschaften des Körpers. Tatsächlich kann man in einem Gravitationsfeld, jedenfalls in einem hinreichend kleinen Raumgebiet, stets von einem ruhenden Bezugsystem zu einem frei fallenden Bezugsystem übergehen, in dem die dann auftretenden Trägheitskräfte die Gravitationskräfte gerade kompensieren. In diesem Bezugsystem müssen somit weder Gravitations- noch Trägheitskräfte betrachtet werden.
Diese Beobachtung lässt sich auch umdeuten, indem man das frei fallende Bezugsystem als Inertialsystem definiert, so dass das ruhende Bezugsystem kein Inertialsystem mehr ist, da es nun relativ zu einem Inertialsystem beschleunigt ist. Die in dem ruhenden System auftretenden Gravitationskräfte können dann als Trägheitskräfte interpretiert werden. Auf dieser Feststellung beruht das Äquivalenzprinzip der allgemeinen Relativitätstheorie. Sie erklärt die Gravitationskraft als eine Erscheinung, die wie eine Trägheitskraft nur in Bezugsystemen auftritt, die keine Inertialsysteme sind.
Für diese Beschreibung der Gravitation muss allerdings das Prinzip fallengelassen werden, dass Inertialsysteme global definiert werden können, also im Prinzip das ganze Universum erfassen, und dass sich diese stets relativ zueinander gleichförmig bewegen. Dies gilt nur noch lokal, also in einem hinreichend kleinen Bereich von Raum und Zeit, und führt außerdem zu dem Schluss, dass Raum und Zeit durch eine vierdimensionale, gekrümmte Mannigfaltigkeit beschrieben werden müssen.
Durch die Interpretation der Gravitationskraft als Schein- oder Trägheitskraft erklärt die allgemeine Relativitätstheorie in natürlicher Weise die Gleichheit von schwerer und träger Masse.
Ebenso wird erklärt, warum ein Fahrgast in einem bremsenden Zug das gleiche Erlebnis hat wie in einem leicht nach vorne gekippten Wagen. Wird ein Wagen nach vorne gekippt, so wirkt die Gravitationskraft nicht mehr senkrecht auf den Boden, sondern (wenn man weiter den Wagen als Bezugsystem verwendet) schräg nach vorne. Um ruhig stehen zu können, muss man sich entsprechend nach hinten neigen oder festhalten. In einem bremsenden Zug ist das genauso. Hier ist es die Summe der Trägheits- und Gravitationskräfte, also der nach unten gerichteten Gravitationskraft und der nach vorne gerichteten Trägheitskraft, die eine schräg nach vorne gerichtete Gesamtkraft ergeben. Fasst man die Gravitationskraft auch als Trägheitskraft auf, ist die Erklärung in beiden Fällen die gleiche.
Weblinks
- Trägheitssatz im beschleunigten Bezugssystem? (Schülerniveau, bei leifiphysik)
- Isaac Newton (Übersetzung V. Schüller): Die mathematischen Prinzipien der Physik: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Gruyter, 1999, ISBN 978-3110161052 (Definition III in der Google Buchsuche).
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