- Tugendpfeil
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Der Tugendpfeil war eine speziell geformte Haarnadel für eine Haartracht, die bis Ende des 19. Jahrhunderts in der linksrheinischen Umgebung von Koblenz getragen wurde.
Inhaltsverzeichnis
Beschreibung
Eine breite, silbern- oder goldfarbene Haarnadel war der auffälligste Schmuck einer weiblichen Haartracht, mit der geflochtene, zu einem Nackenknoten gewundene Zöpfe zusammen gesteckt wurden. Noch erhaltene Exemplare zeigen die Haarnadel als Silber- oder vergoldetes Messingblatt mit daran angelötetem, gegossenem Griffstück. Beides ist häufig mit eingravierten, floralen Motiven verziert. Die Haarnadeln sind zwischen 18 und 22 cm lang, an der Lötstelle zum Griff knapp 3 cm breit. Das Blatt rundet sich zu einer stumpfen Spitze. Bei dieser Haartracht bedeckte eine kleine, eng anliegende, bestickte Kappe aus Samt oder Seide den Hinterkopf, gehalten von einem U-förmig gebogenen, schmalem Messingbügel, der in den Saum des Käppchens eingenäht war. Anstatt des Käppchens wurden die Haare auch von einem breiten, besticktem Band mit Spitzenrändelung vor dem Zopfknoten gehalten. Im rheinfränkischen Dialekt des hier beschriebenen Verbreitungsgebietes wurde beides „Hoarnohl“, das heißt Haarnadel und „Ooreisemötsch“, das heißt Ohreisenmütze, genannt. Darstellungen dieser Haartracht mit dem Tugendpfeil finden sich ab dem frühen 19. Jahrhundert in vielen Bildern der Rheinromantik und in der Genremalerei mit religiösen Motiven. Seit den 1860er Jahren ist sie auch in Familien- und Porträtfotos zu sehen.
Eine verwandte Haartracht wurde wohl auch in Mittelitalien getragen. Dr. Christian Mehlis verglich in seinen 1880 in Leipzig herausgegebenen "Bilder aus den Landschaften des Mittelrheins" die Haartracht der jungen Mädchen mit ...an römische Muster erinnernden Haarpfeil. Gestützt wird dieser Vergleich - und einer möglichen Ursprungserklärung - von einer klassizistischen Marmorbüste eines "Bauernmädchen aus Frascati". Jean-Antoine Houdon hat sie nach einem, vor 1768 angefertigtem Gipsmodel 1774 modelliert. Der Kopf zeigt eine Frisur, bei der die langen Haarflechten am Hinterkopf mit einer großen Nadel (vermtl. an den Enden abgebrochen) schmuckvoll zusammen gesteckt sind (Abbildung unten rechts). Im Unterschied zur rheinischen Frisur haben die Italienerinnen vermutlich keine Zöpfe geflochten, sondern umwickelten zwei dicke Haarsträhnen mit Stoff.
Im Volksmund kam im Rheinland gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff Tugendpfeil oder auch Unschuldsnadel für diese besondere Haarnadel auf. Vielleicht beeinflusst vom vorausgegangenen Kulturkampf oder auch Genrebildern mit religiöser Thematik und dem Tugendpfeil als unübersehbarem Bildelement, sahen manche darin nicht nur das reizvolle Trachten-Accessoire, sondern ein sittliches Zeichen einer „alttrierischen, erzkatholischen“ Gesinnung.
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Wallfahrer aus dem Maifeld vor Trier 1844. In der Gruppe vier Tugendpfeilträgerinnen. Gemalt von A. G. Lasinsky 1847.
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Haartracht eines Mädchen aus Frascati. Marmorbüste von Jean-Antoine Houdon 1774.
Verbreitungsgebiet
Vermutlich die älteste Erwähnung dieser Tracht findet sich in einer französischen Beschreibung der Bevölkerung des Département de Rhin-et-Moselle vom Präfekten Boucqueau von 1803/04: „La coiffure nationale des filles des bords du Rhin est un fort petit bonnet de soie ...les cheveux... tournées autour d'une large aiguille d'argent.“ Etwas früher beschreibt ein im Raum Aachen-Jülich-Köln stationierter Sergeant Fricasse der französischen Revolutionsarmee die Tracht der Frauen dort mit: (Übers.) [...]"Als Kopfbedeckung tragen sie kleine, samtartige Hauben in verschiedenen Farben, [...] Ihre Haare flechten sie zu mehreren Zöpfen, die hinter der Haube wie eine Schnecke zusammengerollt und von einer großen, zwei Finger breiten Silbernadel gehalten werden.
Mitte des 19. Jahrhunderts wird, nach einer Beschreibung des Historikers August von Cohausen im „Jahrbuch der Freunde der Altertumsforschung des Rheinlandes 1852“, der Tugendpfeil linksrheinisch südlich der Ahrgegend, rheinaufwärts bis jenseits Boppard und moselaufwärts bis in die Gegend von Cochem getragen. Mit Fotografien, beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist diese Haartracht auch für das Maifeld und den vorderen Hunsrück belegt.
Der Tugendpfeil wurde von den Mädchen ab der Pubertät bis zur Vermählung getragen. Oft war er das Geschenk der Patin zur Firmung. Vereinzelt trugen die Bräute auch zur Trauung noch den Tugendpfeil.
Das hier zuletzt beschriebene, überlieferte Verbreitungsgebiet liegt weitgehend in den Grenzen des „Unteren Erzstifts“ im römisch-katholischen Bistum Trier. Die Charakterisierung katholische Tracht trifft durchaus zu, denn sie wurde nicht in der evangelischen Enklave Winningen getragen. Und die Grenzen des Verbreitungsgebietes waren offensichtlich rhein- und moselaufwärts die Gebiete der reformierten, früheren „Hinteren Grafschaft Sponheim“. Von jungen Frauen aus Koblenz wurde vermutlich der Tugendpfeil nicht getragen; weder in alten Fotografien, noch in Porträts katholischer Bürgerstöchter ist der Tugendpfeil dokumentiert. In einer, von Carl Jügel 1832 in Frankfurt am Main herausgegebenen „Sammlung deutscher Trachten“, ist eine Tugendpfeilträgerin auf dem Blatt „Coblentz“ abgebildet. Möglicherweise bedeutet aber die Ortsangabe Koblenz nicht die Stadt, sondern steht für die Umgebung. So sind in Landschafts- und Stadtansichten, beispielsweise von Johann Baptist Bachta, Johannes Jakob Dietzler oder William Turner, oft im Vordergrund Mädchen mit dieser Haartracht als ein romantisierendes Klischee zu sehen.
Geschichte
Haarpfeile aus Tierknochen sind von der Archäologie bereits für die frühe Menschheit nachgewiesen. Geritzte und gekerbte Verzierungen zeigen, dass sie nicht nur nützlich, sondern auch schon Schmuck waren. Es gilt als gesichert, dass der Tugendpfeil in der linksrheinischen Region um Koblenz bereits im 18. Jahrhundert getragen wurde; ob alltäglich oder nur zu besonderen Anlässen und kirchlichen Feiertagen ist nicht überliefert. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als die regionale Tracht immer seltener getragen wurde und sich auch die Mädchen vom Lande zeitgemäß modisch kleideten, blieb der Tugendpfeil aber weiterhin in Gebrauch. Das Käppchen, manchmal auch „Cochemer Mützchen“ und „Trierisches Halbmützchen“ genannt, scheint dagegen zunehmend weniger getragen worden zu sein. An der Wende zum 20. Jahrhundert – nimmt man Fotos dieser Zeit zum Hinweis – trugen nur noch ältere „Jungfern“ zu feiertäglichen Anlässen und zum Kirchgang einen Tugendpfeil. Die beginnende Verstädterung des ländlichen Raums, aber auch die Mode, seine Haare kürzer und unbezopft zu tragen, machte diese Frisur bei jungen Mädchen endgültig zu einer altmodischen Erscheinung und den Tugendpfeil überflüssig.
Literatur und Bildquellen
- Philippe Boucqueau: Mémoire statistique du Département de Rhin-et-Moselle, adressé au Ministre de l'Intérieur. An XII. Archives Nationales, Paris. Seite 83. [1]
- Jacques Fricasse, Journal de marche du sergent Fricasse de la 127e demi-brigade 1792-1802, S. 57-58, Paris 1882
- Albert Kretschmer: Das große Buch der Volkstrachten. Rheingauer Verlagsgesellschaft Eltville 1892, Seite 32.
- Neuauflage als Reprint: Allpart Media Verlag, Berlin 2010 ISBN 978-3-86214-009-1
- Walter Kölzer: Die Haartracht mit Tugendpfeil. Heimatjahrbuch des Landkreises Mayen-Koblenz, Koblenz 1987, Seiten 50–55.
- Rainer Graafen: Stadt und Land. 2000 Jahre an Rhein und Mosel. Waanders-Verlag 2000, Heft 10, ISBN 90-400-1234-2, Seite 237.
- Walter Kölzer und Dieter Rogge: Brauchtum Gestern und Heute. Moselkiesel Band 2, Volkshochschule Kobern-Gondorf 2000, ISBN 3-9806059-2-2, Seiten 241–252.
- Alois Döring: Leben im Alltag, 2000 Jahre an Rhein und Mosel. Waanders-Verlag 2000, Heft 17, ISBN 90-400-1241-5, Seiten 399–400.
- Fotoarchiv und Bildsammlungen des 19. Jahrhunderts. im Mittelrhein-Museum, Koblenz.
- Stadtmuseum Simeonstift Trier.
- Trachtenabteilung im Eifelmuseum Mayen.
- Landschaftsverband Rheinland, Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn.
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