Vektorielles Maß

Vektorielles Maß

Ein vektorielles Maß ist ein Begriff aus der Maßtheorie. Er stellt eine Verallgemeinerung des Maßbegriffes dar: Das Maß ist nicht mehr reellwertig, sondern vektorwertig. Vektormaße werden unter anderem in der Funktionalanalysis benutzt (Spektralmaß).

Inhaltsverzeichnis

Definition

Ein vektorielles Maß ist eine endlich oder abzählbar-additive E-wertige Mengenfunktion, das heißt:

Es seien (Ω,Σ) ein Messraum (also eine nichtleere Menge und eine σ-Algebra) und E ein Banachraum mit Norm \|\,\cdot\,\|. Eine E-wertige Mengenfunktion auf Σ ist eine Funktion \nu\colon\Sigma\rightarrow E mit \nu(\varnothing)=0.

Die Funktion ν heißt endlich additiv, falls \nu(A_1\cup\cdots\cup A_n)=\nu(A_1)+\cdots+\nu(A_n) für endlich viele, paarweise disjunkte Mengen A_1,\ldots,A_n aus Σ gilt.

Die Funktion ν heißt abzählbar-additiv (auch σ-additiv), falls

\nu\bigg(\biguplus_{n=1}^{\infty} A_n\bigg)=\sum_{n=1}^{\infty}\nu(A_n)

für jede Folge (A_n)_{n\in \N} paarweise disjunkter Mengen A_n\in \Sigma, wobei die Konvergenz der Summe auf der rechten Seite im Banachraum E zu verstehen ist. Da das für jede Folge paarweise disjunkter Mengen aus Σ gelten soll und da eine beliebige Umordnung einer solchen Folge deren Vereinigung und damit die linke Seite obiger Formel nicht ändert, muss auch die Summe auf der rechten Seite bei Umordnungen unverändert bleiben; das heißt, es liegt automatisch unbedingte Konvergenz vor.

Totale Variation

Analog zu den signierten Maßen kann man ebenfalls die totale Variation eines vektoriellen Maßes einführen: Es sei ν eine E-wertige Mengenfunktion. Die totale Variation von ν ist die Funktion

\|\nu\|\colon\Sigma\rightarrow [0,\infty],

die durch

\|\nu\|(A):=\sup\bigg\{\sum_{n=1}^{\infty}\|\nu(A_n)\|\,|\,(A_n)_{n\in\mathbb{N}}\text{ ist messbare Zerlegung von } A\bigg\}

erklärt ist. Hierbei sind A eine Menge aus Σ und eine messbare Zerlegung von A eine Partition von A, die aus Mengen aus Σ besteht. Man kann zeigen, dass die totale Variation von ν ein endlich bzw. abzählbar additives, positives Maß ist, wenn ν endlich bzw. abzählbar additiv ist. Ein vektorielles Maß ist von beschränkter Variation, wenn seine totale Variation endlich ist, das heißt, wenn \|\nu\|(\Omega) < \infty. Manche Autoren, z. B. Serge Lang[1], verstehen unter vektoriellen Maßen nur solche von beschränkter Variation. Wir folgen hier der Terminologie von Diestel-Uhl [2], in der vektorielle Maße nicht von beschränkter Variation sein müssen. Es gilt folgender Satz[3]:

  • Ist der Banachraum E endlich-dimensional, so ist die totale Variation von ν ein endliches Maß, das heißt ν ist von beschränkter Variation.

In unendlich-dimensionalen Banachräumen ist ein vektorielles Maß nicht notwendig von beschränkter Variation. Als Beispiel sei (Ω,Σ) die Halbgerade \R_0^+=[0,\infty) mit den Borelmengen, E sei der Folgenraum \ell^2. Für A\in\Sigma sei \nu(A) := (\frac{1}{n}\lambda(A\cap[n-1,n]))_{n\in \N} \in \ell^2, wobei λ das Lebesguemaß auf [0,\infty) sei. Dann ist ν ein vektorielles Maß mit Werten in \ell^2, das nicht von beschränkter Variation ist[4].

Der Raum M1(Ω,ΣE) der abzählbar additiven Maße beschränkter Variation mit Werten im Banachraum E ist offenbar ein Vektorraum. Mit der totalen Variation \|\nu\|(\Omega) als Norm wird M1(Ω,ΣE) zu einem Banachraum.

Beispiele

  • Jedes komplexe bzw. signierte Maß ist ein vektorielles Maß.
  • Jedes Spektralmaß definiert ein endlich additives vektorielles Maß.
  • Es seien Ω das Einheitsintervall [0,1] und σ die σ-Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen von Ω. Für A in σ bezeichne ν(A): = χA die charakteristische Funktion von A. Je nach Wahl des Wertebereichs werden hierdurch unterschiedliche vektorielle Maße definiert:
    • Die Funktion \nu\colon\Sigma\rightarrow L^{\infty}[0,1] ist ein endlich additives vektorielles Maß, das nicht abzählbar additiv und nicht von beschränkter Variation ist.
    • Die Funktion \nu\colon\Sigma\rightarrow L^1[0,1] ist ein abzählbar additives vektorielles Maß.

Der Satz von Radon-Nikodym

Sei (Ω,Σ) ein Messraum, μ ein positives Maß auf Σ, E ein Banachraum und f\in \mathcal{L}^1(\mu,E). Dann ist durch

 \mu_f(A)\,:=\,\int_A f \mathrm{d}\mu

ein vektorielles Maß

\mu_f \in M^1(\Omega,\Sigma,E) mit \|\mu_f\|=\|f\|_1

definiert[5].

Ein vektorielles Maß ν heißt μ-stetig oder absolut stetig gegen μ, falls aus A\in \Sigma und μ(A) = 0 stets \nu(A)=0\in E folgt. Leicht zeigt man, dass das oben definierte μf absolut stetig gegen μ ist. Sei

M^1(\mu,E):= \{\nu \in M^1(\Omega,\Sigma,E);\, \nu \mbox{ absolut stetig gegen } \mu\}.

Dann ist M1(μ,E) ein abgeschlossener Unterraum von M1(Ω,Σ,E). Der Satz von Radon-Nikodym befasst sich mit der Frage, ob jedes μ-stetige vektorielle Maß bereits von der Form μf ist. In Verallgemeinerung des klassischen Satzes von Radon-Nikodym erhält man: [6]

Sei μ ein σ-endliches, positives Maß auf dem Messraum (Ω,Σ), E sei ein Hilbertraum. Dann ist die Abbildung L^1(\mu, E) \rightarrow M^1(\mu, E), f \mapsto \mu_f ein isometrischer Isomorphismus. Insbesondere ist jedes μ-stetige vektorielle Maß aus M1(Ω,Σ,E) von der Form μf, wobei f\in \mathcal{L}^1(\mu,E) μ-eindeutig bestimmt ist.

Einzelnachweise

  1. Serge Lang: Real Analysis, Addison-Wesley series in mathematics (1969), ISBN 0201041790
  2. J. Diestel, J. J. Uhl Jr.: Vector measures, American Mathematical Society, 1977, ISBN 0-821-81515-6
  3. Serge Lang: Real Analysis, Addison-Wesley series in mathematics (1969), XI, 4.5. Theorem 8
  4. Serge Lang: Real Analysis, Addison-Wesley series in mathematics (1969), XI, 4.5
  5. Serge Lang: Real Analysis, Addison-Wesley series in mathematics (1969), XI, 4.5, Theorem 9
  6. Serge Lang: Real Analysis, Addison-Wesley series in mathematics (1969), XI, 4.5, Korollar2 zu Theorem 10

Literatur


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