Verfassungs-Überleitungsgesetz

Verfassungs-Überleitungsgesetz

Als Verfassungs-Überleitungsgesetz werden in Österreich zwei Verfassungsgesetze bezeichnet, die 1945 von der Provisorischen Staatsregierung Renner vor der Konstituierung des Parlaments der Zweiten Republik erlassen wurden, um – der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 entsprechend – der Absicht zur Wiedereinsetzung der österreichischen Verfassung Rechnung zu tragen und das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 sowie das weitere Bundesverfassungsrecht wieder in Kraft zu setzen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Die beiden Verfassungs-Überleitungsgesetze entstanden durch Beschluss der Provisorischen Staatsregierung, die während der Befreiung Österreichs durch die alliierten Truppen am 27. April 1945 aus Vertretern der antifaschistischen Parteien gebildet worden war und an deren Spitze Karl Renner als Staatskanzler stand. An der Regierung beteiligt waren die wiedergegründete Sozialistische Partei Österreichs, die vornehmlich von Vertretern der ehemals Christlich-Sozialen Partei, aber auch des Landbundes gegründete Österreichische Volkspartei und die Kommunistische Partei Österreichs.

Das verfassungsmäßige Procedere zum Beschluss von Verfassungsgesetzen war zur Zeit der Erlassung der beiden Verfassungsgesetze noch nicht anwendbar. Die Staatsregierung schuf daher die Übergangsregelungen im 1. und im 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz aus eigener Machtvollkommenheit, um ihrer Tätigkeit bis zur Konstituierung des Parlaments eine rechtliche Basis zu geben und diese Konstitutierung zu regeln.

Das Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 wurde zu einem Zeitpunkt erlassen, zu dem weite Teile Österreichs noch unter NS-Herrschaft standen. Kurz vor der Konstituierung des im November 1945 gewählten Parlaments wurden im 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945 vom 13. Dezember 1945 der Länder- und Ständerat wieder durch den Bundesrat ersetzt und ergänzende Regeln zur Aufnahme der parlamentarischen Arbeit getroffen.

(1.) Verfassungs-Überleitungsgesetz

Basisdaten
Titel: Verfassungs-Überleitungsgesetz – V-ÜG
Langtitel: Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 (Verfassungs-Überleitungsgesetz – V-ÜG)
Abkürzung: V-ÜG
Typ: Bundesverfassung
Geltungsbereich: Republik Österreich
Rechtsmaterie: Verfassung
Fundstelle: StGBl. Nr. 4/1945
Datum des Gesetzes: 1. Mai 1945 (Beschluss)
Inkrafttretensdatum: 1. Mai 1945
Bitte beachten Sie den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung!
  • In Artikel 1 V-ÜG heißt es, dass das „Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 sowie alle übrigen Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5. März 1933 […] im Sinne der Regierungserklärung, St. G. Bl. Nr. 3 von 1945, wieder in Wirksamkeit gesetzt“ werden. Damit wurde die Verfassungssituation vor der Ausschaltung des Parlaments und des Verfassungsgerichtshofes durch die Bundesregierung Dollfuß wiederhergestellt.
  • Artikel 2 V-ÜG hebt alle Bundesverfassungsgesetze, Verfassungsbestimmungen und verfassungsrechtlichen Vorschriften auf, die nach dem 5. März 1933 erlassen wurden.
  • Artikel 3 V-ÜG zählt jene Verfassungsbestimmungen auf, die zwischen dem 5. März 1933 und dem 27.April 1945 entstanden sind und die insbesondere aufgehoben sein sollen auf. (Genannt werden hier u. a. die Verfassung des Bundesstaates Österreich von 1934 und das Anschlussgesetz von 1938. Auch die Umgliederung der Bundesländer in Reichsgaue war damit aufgehoben.)
  • Artikel 4 Absatz 1 V-ÜG regelt den Verfassungsübergang bis zur endgültigen Wiederinkraftsetzung des Bundes-Verfassungsgesetzes mit den Worten:

„An die Stelle der Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929, die infolge der Lahmlegung des parlamentarischen Lebens in Österreich seit 5. März 1933, infolge der gewaltsamen Annexion Österreichs oder infolge der kriegerischen Ereignisse tatsächlich undurchführbar geworden sind, treten einstweilen die Bestimmungen des Verfassungsgesetzes über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich (Vorläufige Verfassung).“

Die Vorläufige Verfassung soll, so Artikel 4 Absatz 2 V-ÜG, sechs Monate nach dem Zusammentreten des neu gewählten Nationalrates außer Kraft treten.
  • Artikel 5 V-ÜG schreibt die Erlassung eines eigenen Behörden-Überleitungsgesetzes (B-ÜG) vor.
  • Artikel 6 und 7 VÜG bestimmen das sofortige In-Kraft-Treten des Verfassungs-Überleitungsgesetzes und dessen Vollzug durch die Provisorische Staatsregierung.

2. Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945

Basisdaten
Titel: 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945
Langtitel: Verfassungsgesetz vom 13. Dezember 1945, womit verfassungsrechtliche Anordnungen aus Anlaß des Zusammentrittes des Nationalrates und der Landtage getroffen werden
Abkürzung: 2. V-ÜG
Typ: Bundesverfassung
Geltungsbereich: Republik Österreich
Rechtsmaterie: Verfassung
Fundstelle: StGBl. Nr. 232/1945
Datum des Gesetzes: 13. Dezember 1945
Inkrafttretensdatum: 13. Dezember 1945
Bitte beachten Sie den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung!

Mit dem Verfassungsgesetz vom 13. Dezember 1945, womit verfassungsrechtliche Anordnungen aus Anlaß des Zusammentrittes des Nationalrates und der Landtage getroffen werden (2. Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945) erließ die Staatsregierung „vorbehaltlich der endgültigen Regelung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse durch den Nationalrat“ (Artikel I 2. V-ÜG) Vorschriften über den Zusammentritt des Nationalrates, die Wiedererrichtung und den Zusammentritt des Bundesrates, den Zusammentritt der Landtage, Grundzüge des Gesetzgebungsverfahrens sowie die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung.

Als relevant gilt der Art. III Abs. 2, der „für die Einrichtung des Bundesrates die Artikel 34 bis 37 und 58 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 in der Fassung des B. G. Bl. Nr. 367 vom Jahre 1925 für maßgebend“ erklärt.[1]

Bedeutung für die österreichische Verfassung

Gemäß der Okkupationstheorie, der auch die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes folgt, wurde Österreich am 13. März 1938 vom Deutschen Reich besetzt, aber nicht annektiert. Das hat nicht nur zur Folge, dass die Weiterexistenz Österreichs unterstellt wird, sondern auch gleichzeitig angenommen wird, die Republik sei zwischen 1938 und 1945 völlig handlungsunfähig gewesen, da durch den Anschluss auch jene Staatsorgane, die nicht schon dem austrofaschistischen Staatsstreich zum Opfer gefallen waren, beseitigt worden waren. Das Verfassungs-Überleitungsgesetz stellt sich in seiner Wortwahl jedoch gegen die Okkupationstheorie, wenn es in Artikel 4 Absatz 1 von einer gewaltsamen Annexion Österreichs spricht. Auch die Tatsache, dass Gesetzen derogiert wird, die formell nie in Geltung waren, spricht gegen die Annahme einer Okkupation. Der Verfassungsgerichtshof zählt das Verfassungs-Überleitungsgesetz in seiner ständigen Judikatur dennoch zum Verfassungsbestand.

Das Bundeskanzleramt nennt im RIS in der Einführung zur konsolidierten Fassung des B-VG den 19. Dezember 1945 als Datum des Wiederinkrafttretens.[2] Dies entspricht der herrschenden Lehre und Rechtsprechung, dass entgegen Artikel 4 Absatz 2 V-ÜG bereits mit Zusammentreten des neu gewählten Nationalrates am 19. Dezember 1945 die Vorläufige Verfassung außer Kraft und das Bundes-Verfassungsgesetz in Kraft trat.[3]

Literatur

  • Theo Öhlinger: Verfassungsrecht. 7. Auflage, WUV Universitätsverlag, Wien 2007

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 2. Verfassungs-Überleitungsgesetz 1945, StGBl. Nr. 232/1945
  2. Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930
  3. Ludwig Adamovich: Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien 1971, S. 33; Heinz Mayer/Robert Walter: Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 8. Aufl., Wien 1996, Rz. 69; Theo Öhlinger: Verfassungsrecht, 7. Aufl., Wien 2007, Rz. 49
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