Vietnam-Tribunal

Vietnam-Tribunal

Das erste Russell-Tribunal, auch unter der Bezeichnung Vietnam War Crimes Tribunal (englisch für „Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal“) bekannt, wurde 1966 von dem britischen Mathematiker und Philosophen Lord Bertrand Russell, Ken Coates und weiteren Beteiligten ins Leben gerufen. Ziel des Tribunals war die Untersuchung und Dokumentation US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg nach 1954.

Inhaltsverzeichnis

Charakter und Zielsetzungen des Tribunals

Bertrand Russell erklärte in seiner Rede auf dem ersten Treffen des Tribunals am 13. November 1966, dass das Tribunal ohne geschichtlichen Vorläufer sei. Im Gegensatz zu vorhergegangen Tribunalen wie dem Nürnberger Tribunal verfügte das Vietnam War Crimes Tribunal über keine Mittel zur Durchsetzung seiner Beschlüsse, was jedoch auch Vorteile bot, da die Untersuchungen ohne staatliche Beeinflussungen blieben.[1]

Auf der konstituierenden Sitzung am 15. November 1966 in London gab das Tribunal seine Struktur, den Zeitplan und eine Liste von fünf Arbeitsschwerpunkten bekannt:

  1. Hat die US-Regierung (und die Regierungen von Australien, Neuseeland und Südkorea) Aggressionshandlungen im Sinne des Völkerrechts begangen?
  2. Hat die US-Armee experimentelle Waffen getestet, neue Waffenarten oder vom Kriegsrecht verbotene Waffen eingesetzt?
  3. Wurden Ziele mit vollständig zivilem Charakter wie z. B. Krankenhäuser, Schulen, Sanatorien, Dämme etc. bombardiert, und in welchem Umfang passierte dies?
  4. Wurden vietnamesische Gefangene inhumanen, durch das Kriegsvölkerrecht verbotenen Behandlungen unterzogen, insbesondere Folter und Verstümmelungen? Kam es zu ungerechtfertigten Repressalien gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere zu Exekutionen von Geiseln?
  5. Wurden Zwangsarbeitslager errichtet und kam es zu Deportationen der Bevölkerung oder anderen Maßnahmen mit dem Ziel der Vernichtung der Bevölkerung, die juristisch als Genozid charakterisiert werden können? [2]

Mitglieder des Tribunals

An beiden Sitzungen des Tribunals nahmen Repräsentanten aus insgesamt 18 Ländern teil. Die Vertreter, meist prominente Personen der Friedensbewegung, von Bürgerbewegungen, Schriftsteller, Wissenschaftler oder Politiker waren:

  • Bertrand Russell (Tribunal Honorary President, englisch für „Ehrenpräsident des Tribunals“) - Friedensaktivist, Mathematiker und Philosoph
  • Jean-Paul Sartre (Tribunal Executive President, „aus-“ oder „geschäftsführender Präsident des Tribunals“) - französischer Philosoph und Schriftsteller
  • Vladimir Dedijer (Tribunal Chairman and President of Sessions, „Vorsitzender und Sitzungsleiter des Tribunals“) - jugoslawischer Schriftsteller, Professor für moderne Geschichte, jugoslawischer Gesandter der UN-Generalversammlung 1945-1952
  • Wolfgang Abendroth - Professor der Politikwissenschaften Uni Marburg
  • Günther Anders - deutscher Schriftsteller und Philosoph
  • Mehmet Ali Aybar - türkischer Intellektueller, Mitglied des Parlaments von Istanbul
  • James Baldwin - US-amerikanischer Schriftsteller
  • Lelio Basso - italienischer Experte für internationales Recht, Professor für Soziologie in Rom
  • Simone de Beauvoir - französische Historikerin und Schriftstellerin
  • Lázaro Cárdenas del Río - mexikanischer Ex-Präsident und General der mexikanischen Armee, Empfänger des State Peace Price (Staatsfriedenspreises) 1955
  • Stokely Carmichael - Vorsitzender des Student Non-violent Co-ordination Commitee (SNCC, „studentisches gewaltfreies Koordinationskomitee“)
  • Lawrence Daly - britischer Gewerkschaftsführer
  • Dave Dellinger - amerikanischer Schriftsteller, Anti-Kriegs-Aktivist
  • Isaac Deutscher - Historiker und Schriftsteller
  • Haika Grossman - Jurist, jüdischer Befreiungskämpfer
  • Gisele Halimi - Juristin, Anwältin von Djamila Bouhired
  • Amado V. Hernandez - philippinischer Dichter, Vorsitzender der philippinischen demokratischen Arbeiterpartei
  • Melba Hernandez - Vorsitzender des Cuban Committee for Solidarity with Viet Nam („kubanisches Komitee für die Solidarität mit Vietnam“), heute die Cuba-Viet Nam Friendship Association („Kuba-Vietnam-Freundschafts-Assoziation“)
  • Mahmud Ali Kasuri - pakistanischer Anwalt und Politiker
  • Sara Lidman - schwedische Schriftstellerin
  • Floyd McKissick - amerikanischer Bürgerrechtler
  • Kinju Morikawa - japanischer Anwalt, Generalsekretär des japanischen Komitees zur Untersuchung von US-Verbrechen in Vietnam, Präsident des Untersuchungsausschusses zum Tonkin-Zwischenfall
  • Carl Oglesby - ehemaliger Präsident der Students for a Democratic Society („Studenten für eine demokratische Gesellschaft“), Schriftsteller
  • Shoichi Sakata - japanischer Physiker, führendes Mitglied der Japan Civil Liberties Union („Union für zivile Freiheiten Japan“)
  • Laurent Schwartz - französischer Mathematiker, Empfänger der Fields-Medaille)
  • Peter Weiss - Theaterautor, Film-Regisseur [3] [4]
  • Uwe Wesel - deutscher Jurist, Publizist

Durchführung, Schlussfolgerungen und Urteile

Die erste Tagung fand am 13. November 1967 in London statt. Geplant war, zur Untersuchung des ersten und dritten Anklagepunktes in Paris zu tagen. Nach einem von Charles de Gaulle erwirkten Verbot beschloss das Tribunal jedoch, sich stattdessen in Stockholm zu versammeln, wo von 2. bis 10. Mai 1967 die erste Sitzungsperiode abgehalten wurde, gefolgt von der zweiten in Kopenhagen.

Während beider Sitzungen des Tribunals gaben mehr als 30 Personen Aussagen zu Protokoll, darunter US-Militärpersonal und Vertreter der Kriegsparteien in Vietnam. Die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams und die Regierung der Demokratischen Republik Vietnam sicherten dem Tribunal ihre Unterstützung bei der Informationsbeschaffung und bei der Überprüfung der Zuverlässigkeit des Materials zu. Der kambodschanische Staatsführer Prinz Sihanouk unterbreitete dem Tribunal ein ähnliches Angebot. [2] Die US-Regierung, die eingeladen worden war, selbst Beweismaterialien beizusteuern und Mitarbeiter/Repräsentanten zum Tribunal zu entsenden, verweigerte jegliche Zusammenarbeit.

Als Ergebnis der ersten Sitzungsperiode, die sich mit den Schwerpunkten 1 und 3 beschäftigte, wurde befunden, dass die USA des Verbrechens gegen den Frieden, Bruches internationalen Rechts, insbesondere des Paktes von Paris von 1928, des Briand-Kellogg-Paktes, der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 2, Punkt 4) sowie des Abkommens der Indochinakonferenz von 1954 schuldig seien. Die Regierungen von Australien, Neuseeland und Südkorea wurden der Komplizenschaft für schuldig befunden (Punkt 1).

Die USA wurden weiterhin folgender Kriegsverbrechen für schuldig befunden: der Bombardierung ausschließlich zivil genutzter Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen etc.) und des Einsatzes von Splitterbomben gegen die Zivilbevölkerung (Punkt 3). [5]

Die Ergebnisse der zweiten Sitzungsperiode lauteten:

  • Ist die Regierung von Thailand der Komplizenschaft an der von der US-Regierung gegen Vietnam ausgeübten Aggression schuldig? - Ja (einstimmig)
  • Ist die Regierung der Philippinen der Komplizenschaft an der von der US-Regierung gegen Vietnam ausgeübten Aggression schuldig? - Ja (einstimmig)
  • Ist die Regierung von Japan der Komplizenschaft an der von der US-Regierung gegen Vietnam ausgeübten Aggression schuldig? - Ja (8 dafür, 3 dagegen: Die drei Mitglieder des Tribunals, die mit Nein antworteten, stimmten überein, dass Japan beträchtliche Unterstützung für die US-Regierung geleistet habe, lehnten es jedoch ab, von einer Komplizenschaft der US-Aggression zu sprechen)
  • Ist die US-Regierung der Aggression gegen die Bevölkerung von Laos, laut Definition durch internationales Recht, schuldig? - Ja (einstimmig)
  • Haben die US-Streitkräfte mit Waffen experimentiert oder Waffen benutzt, die laut Kriegsrecht verboten sind? - Ja (einstimmig)
  • Wurden vietnamesische Kriegsgefangene Behandlungen unterzogen, die durch das Kriegsrecht verboten sind? - Ja (einstimmig)
  • Haben US-Streitkräfte die Zivilbevölkerung inhumaner, verbotener Behandlungen unterzogen? - Ja (einstimmig)
  • Ist die US-Regierung des Genozids am vietnamesischen Volk schuldig? - Ja (einstimmig) [6]

Internationale Wahrnehmung/Nachwirkungen

Das Vietnam War Crimes Tribunal erhielt international einige Aufmerksamkeit, blieb in den USA jedoch größtenteils unbeachtet, da viele es für einen „Schauprozess“ mit vorbestimmtem Ausgang hielten.

Das Modell des Vietnam War Crimes Tribunal wurde im Juni 2005 mit dem World Tribunal on Iraq („Welt-Tribunal über den Irak[krieg]“), einem ähnlichen Projekt in Bezug auf die US-Invasion im Irak von 2003, erneut aufgegriffen.

Literatur

Bertrand Russell: War Crimes in Vietnam, Monthly Rewiev Press, New York, 1967

Weblinks

Quellen

  1. Speech to the First Meeting of Members of the War Crimes Tribunal London, 13. November 1966 (englisch)
  2. a b Aims of the Tribunal agreed at the Constituting Session London, 15. November 1966 (englisch)
  3. Bertrand Russell: War Crimes in Vietnam, Monthly Review Press, New York, 1967, S. 127-130
  4. Liste der Mitglieder , Reporter und Zeugen, die vor dem Tribunal aussagten
  5. Summary and Verdict of the Stockholm Session Stockholm, 10. Mai 1967 (englisch)
  6. Verdict of the Second Session (englisch)

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