Volkssturm

Volkssturm
„Erlaß über die Bildung des deutschen Volkssturms“ an Berliner Litfaßsäule, September 1944

Der Deutsche Volkssturm war ein militärischer Verband im Deutschen Reich, der nach einem von der NSDAP ausgehenden propagandistischen Aufruf an alle „waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren“ gebildet worden war, um den „Heimatboden“ des Deutschen Reiches zu verteidigen, „bis ein die Zukunft Deutschlands und seiner Verbündeten und damit Europas sichernder Frieden gewährleistet“[1] sei. Ziel des Aufrufs war es, die Truppen der Wehrmacht zu verstärken.

Die Bildung des Deutschen Volkssturms wurde am 18. Oktober 1944, dem Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, publik gemacht und zwei Tage später offiziell verkündet. Dadurch konnten erste Volkssturmverbände propagandawirksam vorgeführt werden, die auf einen Führererlass vom 25. September 1944 hin aufgestellt worden waren.

Inhaltsverzeichnis

Organisatorische Einbindung

Einberufung zum Volkssturm in einer Meldestelle, Oktober 1944
Vereidigung von Volkssturmmännern

Das Aufgabengebiet des Volkssturmes umfasste in erster Linie Bau- und Schanzarbeiten, Sicherungsaufgaben und die Verteidigung von Ortschaften, zumeist in unmittelbarer Heimatgegend.

Die militärische Organisation, Ausbildung, Bewaffnung und Ausrüstung sollte vom Ersatzheer geleistet werden, das dem Reichsführer-SS und Chef der Heeresrüstung Heinrich Himmler unterstand. Aufstellung und Führung der Bataillone des Volkssturms wurden in die Hände der Gauleiter gelegt, die sich dazu des Führungspersonals der lokalen Organisationen der NSDAP, der SA, der SS, des NSKK und der HJ bedienen sollten. Martin Bormann erhielt die Befugnis, die „politischen und organisatorischen“ Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Er ordnete an, dass der Volkssturm nach NSDAP-Ortsgruppen und Kreisgruppen gegliedert in Kompanien und Bataillonen aufgestellt wurde, und gab Bestimmungen über Ausrüstung und Kennzeichnung der Volkssturmmänner heraus.

Die Aufstellung des Volkssturms wurde von umfangreichen Propagandaaktivitäten begleitet. Der Volkssturm war nicht Teil der Wehrmacht.

Rekrutierung

Oberfeldwebel der Panzergrenadier-Division „Großdeutschland“ bei der Ausbildung von Volkssturm-Männern am Maschinengewehr 42 in Ostpreußen, Oktober 1944
Volkssturmmann 1944

Nach der deutschen Bevölkerungsstatistik wären etwa sechs Millionen Männer volkssturmpflichtig gewesen. Dem standen jedoch die Erfordernisse der Kriegswirtschaft entgegen. Einbrüche im Produktionsvolumen sollten weitgehend vermieden werden. Dazu gab es deutliche Unterschiede in Alter und Tauglichkeit. Dementsprechend wurde das personelle Aufkommen in vier Aufgebote eingeteilt:

  • Das Aufgebot I umfasste alle tauglichen und waffenfähigen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924. Die meisten Angehörigen dieses Aufgebots waren über 50 Jahre alt und hatten bereits im Ersten Weltkrieg gedient. Sie konnten bis zu sechs Wochen ununterbrochen einberufen werden. Die aus ihnen gebildeten Volkssturmbataillone konnten auch außerhalb des Heimatgaus eingesetzt werden.
  • Das Aufgebot II bildeten Männer von 25 bis 50 Jahren, die einen als kriegswichtig erachteten Beruf ausübten und deswegen unabkömmlich („uk“) gestellt waren. Diese Einheiten wurden immer nur kurzzeitig und in unmittelbarer Heimatnähe eingesetzt, um mögliche Rüstungsproduktionen nicht zu stören.
  • Das Aufgebot III umfasste die Jahrgänge 1925 bis 1928, soweit sie nicht schon bei der Wehrmacht oder Waffen-SS Dienst taten. Der Jahrgang 1928, damals 16-jährig, sollte bis zum 31. März 1945 in der Hitlerjugend (HJ) und dem Reichsarbeitsdienst (RAD) militärisch ausgebildet werden, die älteren Jahrgänge dieses Aufgebots waren bereits in der HJ organisiert oder zum RAD eingezogen worden.
  • Das Aufgebot IV umfasste alle nicht kriegsdienstverwendungsfähigen, das heißt eigentlich wehruntauglichen Männer, die jedoch für Wach- und Sicherungsaufgaben eingesetzt werden sollten.

In der Regel wurden zunächst nur die beiden ersten Aufgebote gebildet und aufgestellt. Mit dem Geburtsjahrgang 1928 wurden Jugendliche eingezogen, die vollständig während der nationalsozialistischen Herrschaft sozialisiert worden waren. Siebzig Prozent des Jahrgangs meldeten sich freiwillig zum Waffendienst. Eine Verordnung Wilhelm Keitels vom 5. März 1945 dehnte die Wehrpflicht grundsätzlich auf die männlichen Angehörigen des Jahrgangs 1929 aus.

Wie viele Männer im Volkssturm Dienst taten, ist nicht bekannt. Oberst Hans Kissel, Chef des „Führungsstabes Deutscher Volkssturm beim Reichsführer SS“ schätzte, dass über 700 Volkssturm-Bataillone zu einem Einsatz mit Feindberührung kamen.

Bewaffnung

Volkssturmmänner mit Panzerfäusten im Januar 1945 in Königsberg

Der Volkssturm wurde nur notdürftig ausgerüstet und ausgebildet, weshalb die militärische Wirkung eher gering war. An Waffen stand ein Sammelsurium tschechischer, italienischer oder französischer Beutegewehre zur Verfügung, oft ohne ausreichende Munition. Nach einer Aufstellung Kissels über den Waffenbedarf vom November 1944 benötigten Erstes und Zweites Aufgebot allein in den feindbedrohten Gauen 1,3 Millionen Handfeuerwaffen; allerdings waren nur 18.575 vorhanden. Statt einer Sollstärke von 75.000 Maschinengewehren waren nur 181 verfügbar. Waffen- und Schießausbildung waren mangels Waffen und Munition wenig sinnvoll. Obwohl Abwesenheit nach den Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches abgeurteilt werden konnte, blieben viele der Ausbildung fern.

Einsätze

Der Volkssturm kam im Osten zwischen Mitte Januar und Mitte April 1945 in den zu „Festungen“ erklärten Städten des Reichs wie Breslau und Posen, zur Verteidigung der Oder-Linie, in Pommern und während der Schlacht um Berlin zum Einsatz. Das Bekanntwerden der von der Roten Armee verübten Greueltaten stärkte den Kampfwillen. 15.000 Angehörige des Volkssturms verteidigten zusammen mit Soldaten der Wehrmacht, immer wieder angetrieben von Gauleiter Karl Hanke, monatelang das belagerte Breslau bis in den Mai 1945 hinein. Obwohl Goebbels' Propaganda versuchte, die angloamerikanische Besetzung für ebenso schrecklich auszugeben wie die sowjetische, gaben die Volkssturmbataillone an der Westfront sehr schnell den Kampf auf. Der amerikanische Nachrichtendienst fasste eine mehrmonatige Erfahrung folgendermaßen zusammen:

„Nirgends an der Westfront war der Volkssturm fähig, auch nur hinhaltende Gefechte zu liefern oder einen Haus-zu-Haus-Widerstand zu leisten, wofür er ja aufgestellt worden war.[2]

Insgesamt hatte der Volkssturm hohe Verluste bei geringer militärischer Wirkung zu verzeichnen. Exakte Opferzahlen sind unbekannt, jedoch wird angenommen, dass von den 175.000 als vermisst gemeldeten Volkssturmangehörigen die meisten gefallen sind.

Die Strategie von Bormann und Joseph Goebbels, durch fanatischen Widerstand und damit auch für die Alliierten steigenden Kriegsopferzahlen doch noch einen Ermattungsfrieden zu ertrotzen, ging nicht auf. Entsprechende Hoffnungen beruhten auf der deutschen Einschätzung, die öffentliche Meinung insbesondere in den Ländern der Westalliierten werde sich bei fortgesetzt hohen Opferzahlen gegen die Strategie der westlichen Regierungen wenden, den Krieg ohne Einschränkungen bis zur Kapitulation der deutschen Streitkräfte fortzusetzen.

Kriegsgefangene Volkssturmmänner wurden – wie andere deutsche Soldaten auch – von der amerikanischen „Military Intelligence“ verhört, also von Einheiten, deren Aufgabe die militärische Feindaufklärung war. In den Berichten der CPM/MID (Captured Material and Branch Personel/Military Intelligence Division) erschien der Volkssturm wahlweise als militärisch wertlose Zwangsvereinigung alter Männer oder als NSDAP-gesteuertes Instrument mit der Aufgabe, fahnenflüchtige Wehrmachtssoldaten zu fassen.[3]

Rechtlicher Status und Uniformierung

Volkssturmmann (kein Abzeichen), Gruppenführer (1), Zugführer (2), Kompanieführer (3), Bataillonsführer (4)
Armbinde des Volkssturms
Wohltätigkeits-Briefmarke der Deutschen Reichspost (Februar 1945) mit Adler und Motto des Volkssturms: Ein Volk steht auf, Entwurf: Erich Meerwald

In rechtlicher Hinsicht waren die Angehörigen des Volkssturms während ihrer Einsätze Soldaten im Sinne des deutschen Wehrgesetzes von 1935. Dieses Gesetz ermöglichte es, den Kreis der Wehrpflichtigen auch über das 45. Lebensjahr hinaus auszudehnen, um weitere Reserven zur Reichsverteidigung aufzubieten.

Es gab nur vier unterschiedliche Dienstgrade: Gruppenführer, Zugführer, Kompanieführer und Bataillonsführer.

Da die Wehrmacht nicht ausreichend Uniformen zur Verfügung stellen konnte, trugen zahlreiche Volkssturmangehörige „Phantasieuniformen“, so etwa diejenige der Reichsbahn, umgefärbte Partei- oder HJ-Uniformen, alte Uniformen des kaiserlichen Heeres oder gewöhnliche zivile Anzüge. Eine Armbinde mit der Aufschrift „Deutscher Volkssturm – Wehrmacht“ machte seine Angehörigen als Kombattanten kenntlich, auch wenn sie in der Uniform der Hitlerjugend oder in Zivilkleidung kämpften. Im Durcheinander des Kriegsendes ist anzunehmen, dass nicht immer die Armbinde verteilt wurde.

Museale Rezeption

Im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien sind im Bereich der Dauerausstellung „Republik und Diktatur“ (Saal VII) Figurinen mit Uniformen und Bewaffnung des Volkssturmes ausgestellt. Darunter befindet sich auch ein so genannter „Volkssturmkarabiner“, ein Gewehr aus einem roh gearbeiteten Holzschaft und umgebauten Teilen des Karabiner 98k.[4]

Siehe auch

Literatur

  • Perry Biddiscombe: Werwolf! The History of the National Socialist Guerilla Movement 1944–1946. Univ. of Toronto Press, Toronto 1998, ISBN 0-8020-0862-3.
  • Klaus Mammach: Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45. Pahl-Rugenstein, Köln 1981, ISBN 3-7609-0642-7.
  • Alastair Noble: The People's Levy. The Volkssturm and Popular Mobilisation in Eastern Germany 1944–45. In: Journal of Strategic Studies. 24, 2001, S. 165–187.
  • David K. Yelton: „Ein Volk steht auf.“ The German Volkssturm and Nazi Strategy, 1944–45. In: Journal of Military History. 64, 2000, S. 1061–1083.
  • Franz W. Seidler: „Deutscher Volkssturm“. Das letzte Aufgebot 1944/45. 2. Auflage. Herbig, München 1991, ISBN 3-7766-1608-3.
  • David K. Yelton: Hitler's Volkssturm. The Nazi Militia and the Fall of Germany 1945–1945. Univ. of Kansas Press, Lawrence, Kans. 2002, ISBN 0-7006-1192-4.
  • David K. Yelton: The SS, NSDAP, and the Question of Volkssturm Expansion. In: Alan E. Steinweis, Daniel E. Rogers (Hrsg.): The Impact of Nazism. New Perspectives on the Third Reich and its Legacy. Univ. of Nebraska Press, Lincoln 2003, ISBN 0-8032-4299-9, S. 167–181.

Weblinks

 Commons: Volkssturm – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Wortlaut des Originaldokuments, abgedruckt in Gerd R. Ueberschär, Rolf-Dieter Müller: 1945. Das Ende des Krieges. Darmstadt 2005, ISBN 3-89678-266-5, S. 160f.
  2. zitiert nach: Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München 1995, ISBN 3-486-54141-2, S. 957
  3. Rafael A. Zagovec: Gespräche mit der 'Volksgemeinschaft'. In: Bernhard Chiari u.a.: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945 – Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung. im Auftrag des MGFA hrsg. von Jörg Echternkamp. Band 9/2. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-421-06528-5, S. 355
  4. Manfried Rauchensteiner, Manfred Litscher (Hg.): Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien. Graz, Wien 2000 S. 82.

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