Vorurteilsforschung

Vorurteilsforschung

Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung befasst sich mit der kritischen Erforschung von Vorurteilen, die sich auf Grund gesellschaftlicher und kultureller Totalität nicht allein auf die private Interaktion und den öffentlichen, sondern auch auf den wissenschaftlichen Diskurs auswirken können, mittels soziologischer, psychologischer, historischer, kulturwissenschaftlicher und anderer akademischer Methoden, sowie mit den Mitteln ihres möglichen Abbaus.

Zwar befasst sich die Vorurteilsforschung grundsätzlich mit Vorurteilen gegenüber allen möglichen Fremdgruppen, ihre zentralen Forschungsfelder liegen jedoch bei Unterscheidungsmerkmalen wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Sexualität und Religion. Zu verwandten Gebieten, bzw. zu den Teilgebieten der Vorurteilsforschung zählen daher u. a. Rassismusforschung, Weißseinsforschung, Queer-Theorie, Gender Studies und Feminismus.

Zu den verschiedenen Ansätzen der Vorurteilsforschung zählen

Vorurteilsforschung muss sich dabei nicht allein auf geisteswissenschaftliche Erkenntnisse beschränken, sondern in der Auseinandersetzung zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ist oft auch eine enge, zeitnahe und detaillierte Beschäftigung mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsstand der Humanwissenschaften vonnöten, um die sich der Forschung oft als festgefügte soziale Identität entgegentretende Selbst- und Fremdsicht sozialer Gruppen konkret in ihre Bestandteile von unveränderlicher Natur und erlernter Kultur aufgliedern zu können, allerdings ebenso eine ideologisch beeinflusste wissenschaftlich-experimentelle Ausgangsstellung bzw. die ideologisch gefärbte Interpretation wissenschaftlicher Daten als solche erkennen und benennen zu können.

Am wenigsten lassen sich die Wahrnehmungen verändern, die sich auf die philosophischen Grundlagen der jeweiligen Weltanschauung beziehen. Jede ideologischen Überzeugung führt zu einer inhaltlichen Beeinflussung von Wahrnehmung, Vorstellungen, Denken und Verhalten. [2]

Inhaltsverzeichnis

Definition

Ein Vorurteil ist eine Einstellung gegenüber sozialen Gruppen mit negativen affektiven (Feindseligkeit), kognitiven (Stereotypen) und Verhaltenskomponenten (Diskriminierung).

Soziales Lernen als Grundlage von Vorurteilen

Der hinter der leichten Verbreitung von Vorurteilen stehende Mechanismus ist der des eigentlich lebenswichtigen sozialen Lernens, bei dem Autoritäten und Peers dem Individuum Kenntnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen vermitteln, die mittels des klassischen Musters Imitation durch Identifikation schon ab der frühesten Kindheit erlernt werden, und damit lange, bevor das Individuum selbst zur kritischen Hinterfragung des ihm Vermittelten fähig ist. Später dann ist vieles von dem, was schon früh mittels sozialem Lernen vermittelt wurde, beim Individuum bereits derart in den Gedanken- und Gefühlsabläufen automatisiert, dass es unbewusst abläuft und entsprechend schnell aktiviert werden kann.

Unterschiedliche Ansätze der Vorurteilsforschung

Lerntheoretischer Ansatz (1934)

Im lerntheoretischen Ansatz wird davon ausgegangen, dass Personen durch ihre Sozialisation oder Beobachtung von Gruppenunterschieden Vorurteile erlernen[3]. Die beiden wichtigsten Konzepte des lerntheoretischen Ansatzes bestehen im Etikettierungsansatz[4][5]) sowie im sozialen Lernen[6]).

Psychodynamischer Ansatz (1939)

Der psychodynamische Ansatz geht davon aus, daß Vorurteile ihre Wurzel in innerpsychischen Vorgängen haben.[7] Hier wird unterschieden zwischen:

  • der deterministisch-essentialistischen Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard, Miller u. a. 1939[8]; Miller, Barker u. a. 1941[9]; Berkowitz 1969[10]), welche von allgemeinen, natürlichen, und damit von Kultur und Erziehung unabhängigen Grundeigenschaften des Menschen ausgeht,

sowie den beiden dekonstruktivistischen, gesellschaftskritischen Ansätzen, welche die veränderbare erzieherische und sozialkulturelle Prägung der Einzelpersönlichkeit in den Vordergrund rücken:

Kognitiver Ansatz (1958)

Der kognitive Ansatz (Broadbent 1958[14]; Chomsky 1959[15]; Neisser 1967[16]) beruht auf der Erkenntnis, daß Lernen allgemein überlebenswichtig ist und daher dem Individuum von der natürlichen, endogenen Neuronalstruktur im Laufe der Evolution zunehmend vorgegeben wurde, was mit einer vermehrten Instinkreduktion zugunsten des Lernprozesses einherging. In den Kognitionswissenschaften gilt der Mensch als Wesen, das sich ein ihm nützliches Bild von der Welt konstruiert, mit dem es in seinem unmittelbaren Bezugsrahmen zurechtkommt und das die damit entstandenen Vorstellungen aktiv an seinesgleichen weiterzugeben bemüht ist. Kognitionspsychologen gehen davon aus, dass die persönliche Informationsverarbeitung des Menschen beschränkt ist, weshalb er sich auf das verlassen muß, was sein soziales Umfeld ihm vorgibt. Daher werden u. a. auch Menschen in vorgegebene Kategorien einsortiert. Allerdings komme es aufgrund der Beschränktheit des persönlichen Bezugsrahmens, die im Laufe der Menschheitsgeschichte einem immer komplexer und damit unübersichtlicher werdenden Gesellschaftsgeflecht gegenübersteht, häufig zu fehlerhaften Kategorisierungen, die sich dann als Stereotype äußern.[17]

Konflikttheoretischer Ansatz (1979)

Der konflikttheoretische Ansatz erklärt die Entstehung von Vorurteilen und Stereotypen aus der Dynamik von Gruppenkonflikten.[18] Zu den beiden wichtigsten Konzepten gehören die Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner 1979[19]) sowie deren Weiterentwicklung, die Selbstkategorisierungstheorie (Turner u. a. 1987[20]).

Bleibtreu-Ehrenbergs Synthese (1978, 1989)

Überblick

Die deutsche Soziologin Gisela Bleibtreu-Ehrenberg bietet in zwei ihrer Publikationen, Tabu Homosexualität (1978) sowie Angst und Vorurteil (1989) eine grundsätzliche Analyse gesellschaftlicher Vorurteile sowie ihrer sozialen Dynamiken, indem sie die vorigen Einzelansätze in einer interdisziplinären, schulenübergreifenden Synthese zusammenführt. Bleibtreu-Ehrenberg geht dabei ursprünglich von ihrer Forschung bezüglich Vorurteilen der Leibfeindlichkeit, d. h. Vorurteilen gegenüber vermeintlich oder tatsächlich abweichender Sexualität, sowie traditionell rigide vorgegebener Geschlechtsrollen aus, jedoch versteht sie ihre Erkenntnisse durchaus als grundsätzlich auf allgemeine Vorurteilsforschung bezogen und anwendbar.

Tabu Homosexualität befasst sich grundlegend und vor allem mit der geschichtsanthropologischen Betrachtung der historischen Ursprünge und Entwicklung ethnozentrischer Vorurteile im Abendland über große Zeitabschnitte hinweg; Angst und Vorurteil dagegen legt trotz Ergänzung der vorangegangenen Handlungsgeschichte eher als sein Vorgänger seinen Fokus auf die abstraktere soziopsychologische Strukturanalyse der aus der Historie heraus entstandenen gesellschaftlichen Totalität westlicher Kultur sowie der damit verbundenen sozialen Dynamiken und Vorurteilsmechanismen. Bleibtreu-Ehrenberg verliert dabei auch nicht die notwendige Auseinandersetzung mit anthropologisch-naturwissenschaftlichen Grundeigenschaften des Menschen aus den Augen, die im Laufe der abendländischen Entwicklung in die Bildung von Vorurteilen und darauf beruhenden sozialen Konflikten derart integriert wurden, dass sie die Bildung und Verbreitung von Vorurteilen unterstützten. Dabei entwickelt Bleibtreu-Ehrenberg bereits in Tabu Homosexualität anhand der Entwicklung der abendländischen Kultur und der in ihr angelegten Vorurteile die implizite These, dass grundsätzlich jegliche typisch westlichen Vorurteile tendenziell auf - oft verdrängten, bzw. kulturell rationalisierten bis codierten - Vorurteilen der Leibfeindlichkeit (auch, obgleich nicht unbedingt zentral, in Form von verdrängtem Sexualneid) sowie z. T. auf rigiden, konservativ-westlichen Geschlechterrollen beruhen.

Zu Bleibtreu-Ehrenbergs wichtigsten Forschungsmethodiken und -instrumenten zählen dabei neben den oben angeführten Herangehensweisen, darunter Identitäts-, Ideologie- und Kulturkritik der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und besonders deren Theorieansatz der autoritären Persönlichkeit (s. auch dessen Weiterentwicklung Right-Wing Authoritarianism), der Etikettierungsansatz von George Herbert Mead und Howard S. Becker, sowie die Frustrations-Aggressions-Hypothese von Dollard und Miller, auch das Dispositiv und die Diskursanalyse von Michel Foucault[21].

in-group und out-group: Vorurteil, Feindbild und Gruppenzusammenhalt

Hierbei betont Bleibtreu-Ehrenberg, dass die Hauptfunktion von Vorurteilen darin bestünde, dem sozialen Gruppenzusammenhalt zu dienen; die herrschende in-group grenzt sich mittels der eigenen sozialen Deutungshoheit von einer so definierten out-group ab (wobei die von der in-group vorgenommene Abgrenzung auf teils fiktiven, teils tatsächlichen, stets aber negativ bewerteten Merkmalen der dieserart von außen definierten out-group beruht), um erst in dieser Ab- und Ausgrenzung und der damit einhergehenden Abwertung von out-group-Minderheiten im Sinne identitätsstiftender Feindbilder ihre eigene Identität und einen daraus resultierenden Gruppenzusammenhalt zu finden.

Das grundlegende konstituierende Element der in-group-Identität besteht somit darin, nichts mit der als beunruhigend-beängstigend, abscheulich, bis hin zu im Grunde zu bekämpfend definierten out-group oder ihren zu Merkmalen gemachten vermeintlichen oder tatsächlichen Eigenschaften gemein oder zu tun zu haben. Bei letzteren kann es sich sowohl um physische, emotionale, geistige, wie auch Verhaltenseigenschaften oder eine Kombination aus diesen handeln. Besonders bei out-groups, die nicht vorrangig durch körperliche Merkmale definiert werden, wurde in der abendländischen Geschichte oft auf eine sichtbare körperliche Stigmatisierung (von lat. stigma, "Wundmal") bzw. Brandmarkung zur Kennzeichnung und oft auch Entmenschlichung von out-group-Mitgliedern zurückgegriffen (u. a. Verstümmelung, Teeren und Federn, bestimmte Kleidung etc.), wobei aufgrund der häufigen Kriminalisierung von out-groups der Übergang zur Bestrafung eines vermeintlichen oder tatsächlichen Verbrechers fließend war.

Die Kennzeichnung durch sichtbare Stigmata dient dabei der Angleichung der out-group an jene Wesen, denen das out-groups gegenüber gezeigte meidende bis aggressive Verhalten im Laufe der Menschwerdung ursprünglich galt: (Raub-)Tieren (Entmenschlichung) und verstümmelten Artgenossen. In dem Maße, wie diese Kennzeichnung zur gesellschaftlichen Norm wird, werden durch unkritische Gleichsetzung von gesellschaftlichen Normen mit Naturgesetzen äußere Merkmale auch als vermeintlich natürliche Eigenschaften von out-groups wahrgenommen. Deren als negativ angesehene Eigenschaften gelten oft als bereits durch einfachen Umgang ansteckend, wodurch bereits der Schritt zur Wahrnehmung als Krankheit und damit zur Pathologisierung getan ist (s. auch die Abschnitte Wortherkunft und Historisches unter der von Bleibtreu-Ehrenberg thematisierten historischen Krankheitsbezeichnung Sucht, die ursprünglich die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen Krankheit einerseits und vermeintlichen oder tatsächlichen sozialen Auffälligkeiten andererseits betonte). Das Ergebnis ist ein gesellschaftlicher Hang, out-group-Minderheiten, deren Merkmale nicht vorrangig sichtbar, als auf der Stirn geschrieben, definiert sind, eine solche Kennzeichnung von vornherein an den Hals zu wünschen, was wiederum Grundlage des geflügelten Wortes: Ich konnte es ihm doch nicht ansehen! ist, sobald die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer gemiedenen bis verachteten out-group bekannt wird.

Etikettierungsansatz und Selbststabilisierung des Vorurteils

siehe Hauptartikel: Soziales Lernen, Theorie der sozialen Identität und Etikettierungsansatz

Da dieser Vorgang aber ebenso die erlernte soziale Identität der von außen durch die Deutungshoheit der herrschenden in-group definierten, oftmals stigmatisierend pathologisierten und häufig auch kriminalisierten out-group bestimmt, findet sich in diesem gesellschaftlichen Sachverhalt der auch im Falle des negativ-propagandistischen Zerrbildes von außen erlernten sozialen Identität einer der Gründe für das vorangestellte Motto des Buches Angst und Vorurteil, wonach Minderheitenschutz gleichbedeutend mit Mehrheitenschutz ist.

Bleibtreu-Ehrenberg warnt hier scharf vor der Gefahr einer möglichen Self-Fulfilling Prophecy, wonach Mitglieder negativ bewerteter out-group-Minderheiten bewusst und unbewusst, auch durch Unkenntnis anderer Deutungs- und Identifizierungsmöglichkeiten bezüglich ihrer tatsächlichen und fiktiven Gruppeneigenschaften, dazu getrieben werden können, das negative Urteil der herrschenden in-group über sich zu übernehmen und tatsächlich dasjenige selbst- und mitunter fremdschädigende Verhalten zu entwickeln, das ihnen nachgesagt wird. Denn, so Bleibtreu-Ehrenberg, auch die eigene Identität lernt das Individuum zumeist mittels sozialem Lernen: Jede Identität, und sei sie noch so negativ, wird eher akzeptiert als der völlige Verlust einer eigenen Identität. Bleibtreu-Ehrenberg spricht hier auch von einer permanenten Selbststabilisierung des Vorurteils, da jedes kleine scheinbare oder tatsächliche Anzeichen der Anpassung an die gegebene, einmal etablierte out-group-Identität von Mitgliedern der herrschenden in-group sofort als das Vorurteil legitimierender Beweis genommen wird. Diese vorgeblichen Beweise wirken in dem Sinne numinos und damit einem archaisch-magischen, zugleich spezifisch abendländisch-autoritärem Denken verhaftet, als der angemeldete Zweifel mit der sofortigen Ausstoßung aus der in-group geahndet wird; der Skeptiker wird als der Feind wahrgenommen, den es vermeintlich zu bekämpfen gilt. Das Vorurteil ist dabei in dem Maße nomisch (d. h. gilt als vorgeschriebene Norm), als es in Form eines von der Gesellschaft dem Individuum vorgeschriebenen sozialen Konsenses die Sicht der in-group auf die soziale Wirklichkeit bestimmt; den Mitgliedern der in-group erscheinen die fiktiven Eigenschaften, welche out-group-Mitgliedern zugeschrieben werden, ebenso real wie ihre tatsächlichen. Wer diesem diskursiv-normativ vorgeschriebenen Konsens nicht folgt, der oft als nicht hinterfragbarer Minimalkonsens einer zivilisierten Gesellschaft dargestellt wird, wird als Teil des Feindbildes wahrgenommen.

Tabuisierung und Projektion

siehe Hauptartikel: Autoritäre Persönlichkeit und Right-Wing Authoritarianism

Aufgrund des extrem negativ belasteten verbalen und Handlungsumgangs mit Mitgliedern der out-group und auch ihren tatsächlichen und vermeintlichen Eigenschaften entsteht eine oftmals starke soziale Tabuisierung entsprechender Themenkomplexe. Dieses diskursive angst- und hassbesetzte Meideverhalten internalisiert das einzelne in-group-Mitglied aufgrund des hohen Gruppendrucks als psychische Verdrängung der dieserart als negativ konnotierten Merkmale bei der eigenen Person, um eine Angleichung an die von ihm geforderte in-group-Identität zu ermöglichen. Diese Verdrängung wiederum ermöglicht auf der individuellen Ebene die Projektion der bei sich selbst verdrängten Eigenschaften auf die Mitglieder der hierfür bereitgestellten out-group, so dass die masochistische Verdrängung in aggressiven Hass umschlagen und dementsprechend in sadistischer Interaktion ausagiert werden kann. Dabei empfindet der Diskriminierende aufgrund seiner Verdrängung sowie einer, von Bleibtreu-Ehrenberg explizit als pathologisch im Sinne einer Zwangsstörung aufgefassten, spezifisch verzerrten Wahrnehmung das eigene Handeln stets als aufgrund der empfundenen Bedrohung angemessene und verhältnismäßige, quasi vernunftgemäße Reaktion und sich selbst als ordnungshütende bzw. korrigierend-heilende Instanz. Das Vorurteil stellt sich dabei als rekurrierende, manifeste Zwangsvorstellung dar, aus der Diskriminierung als Zwangshandlung folgen kann. Es sei jedoch, so Bleibtreu-Ehrenberg, zwischen einer sog. Blitzableiter- wie einer Sündenbockfunktion zu unterscheiden, die die out-group in der Wahrnehmung des Diskriminierenden einnimmt, wobei die entscheidende Frage lautet, ob die entsprechenden Vorurteile durch sachgemäße Aufklärung abgebaut werden können oder, und dann ist der Fall pathologisch, nicht.

Dabei muss es sich bei den im Einzelfall projizierten Eigenschaften nicht einmal um die propagierten Hauptmerkmale der out-group handeln, da die starke Tabuisierung eine diffuse, grundsätzlich anrüchige Vagheit des gemiedenen bis verhassten Themenkomplexes nach sich zieht, so dass sich schnell ein breitgefächerter Assoziationskatalog an vermeintlich wie objektiv sozialschädlichen Eigenschaften und Impulsen herausbildet, der ausreichend auf die individuelle Situation des einzelnen in-group-Mitglieds zugeschnitten ist. Beispielsweise muss nicht jeder homophob agierende Abendländer zwangsläufig selbst ein sexuelles Verlangen nach Personen des eigenen Geschlechts empfinden; es reicht bereits aus, wenn er internalisierten konservativ-dichotomen Geschlechterrollen, etwa von Stärke und Schwäche oder einem spezifischen Gestus und Habitus, nicht entsprechen zu können meint, und, typisch ethnozentrisch, westlicher Kulturtradition entsprechend die erlernten Geschlechtsrollen auf irrationale Weise mit spezifischer Sexualität vermischt. Neben der erwähnten autoritären Persönlichkeit aus der Kritischen Theorie verweist Bleibtreu-Ehrenberg hierbei auf die Frustrations-Aggressions-Hypothese, wonach Aggression aus der Frustration eigener (Grund-)Bedürfnisse folgt, zu denen neben verdrängten Körper-, psychischen Impuls- und/oder Verhaltenseigenschaften allerdings auch ein bewusstes Sicherheitsbedürfnis und die vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung desselben zählen: Angst macht böse.

Eskalationsstufen und falsche Gesetze

Im Zusammenhang der von der in-group negativ geprägten Konstruktion einer vorgegebenen out-group-Identität (welche der out-group sozialschädliche bis kriminelle Eigenschaften zuweist), die dem einzelnen out-group-Mitglied mittels sozialem Lernen und Gruppendruck als einzig mögliches Selbstbild vermittelt werden kann, aber genauso bei vermeintlichen Abwehrmaßnahmen (deren Bandbreite sich steigern kann von einfachem passivem Meideverhalten, über aktive Diskriminierung, strukturelle (= staatliche, juristische) Gewalt bis hin zu offener physischer Gewalt, s. auch die ursprüngliche Allport-Skala von 1954) der herrschenden, sich bedroht fühlenden in-group gegenüber der schwächeren out-group, gewinnt auch ein weiterer wiederholt zitierter Lehrsatz Bleibtreu-Ehrenbergs gesteigerte Bedeutung: Falsche Gesetze zeitigen echte Verbrechen. Diesen Lehrsatz bezieht Bleibtreu-Ehrenberg auch und gerade auf das ihrer Ansicht nach verschiedenste, allerdings nach wie vor vor allem vermeintliche und tatsächliche sexuelle, Minderheiten diskriminierende in industrialisierten westlichen Ländern geltende Sexualstrafrecht und seine spezifisch durch die Verbreitung von HIV beeinflusste Umsetzung seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.

Lösungsansätze

Den früher in der Sozialforschung vertretenen Ansatz, Vorurteilen durch einfache Nähe und Ermöglichung persönlichen Austausches zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern der einen mit der anderen Seite entgegenzutreten, verwirft Bleibtreu-Ehrenberg mit Verweis u. a. auf die exemplarische soziale Stellung von Juden in Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg; aufgrund der tendenziellen Selbststabilisierung des Vorurteils ermöglichte allein die größere Nähe zu den Objekten eigener Vorurteile dort keinen tatsächlichen Abbau der Vorurteile. Stattdessen war bis zum Krieg der Antisemitismus in der Donaumonarchie weit verbreiteter und weitaus radikaler als in Deutschland, das einen prozentual weitaus geringeren Anteil an jüdischen Mitbürgern an der eigenen Bevölkerung besaß.

Als Lösungsansätze für das Problem von Vorurteilen sieht Bleibtreu-Ehrenberg folgende:

  • Abbau von Vorurteilen durch sachgemäße, nüchterne Aufklärung, auch mittels Entemotionalisierung und Entskandalisierung,
  • Abbau von Vorurteilen durch Aufbau und Vermittlung einer positiv(er)en, sozial integrierenden Identität für die out-group, deren Mitglieder dadurch eher zu verantwortlichem Handeln gegenüber sich und anderen ermutigt werden,
  • sowie Abbau von Vorurteilen durch Vermittlung gemeinsamer, verbindender Ziele zwischen out-group und in-group.

Institute zur Vorurteilsforschung

Siehe auch

Literatur

  • Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela (1978): Tabu Homosexualität - Die Geschichte eines Vorurteils, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. ISBN 3-10-007302-9
  • Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela (1981): Homosexualität - Die Geschichte eines Vorurteils, bis auf den Titel unveränderte 2. Auflage
  • Bleibtreu-Ehrenberg, Gisela (1989): Angst und Vorurteil - AIDS-Ängste als Gegenstand der Vorurteilsforschung, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. ISBN 3-499-18247-5
  • Jens Förster, Kleine Einführung in das Schubladendenken, Deutsche Verlags-Anstalt, 2007, ISBN 978-3-421-04254-5

Einzelnachweise

  1. Sozialpsychologische Vorurteilsforschung [1]
  2. Yvonne Kneubühler; Motivation und Verhalten deutscher "Men on the spot" in den afrikanischen Kolonien; in: Dominik J. Schaller et al, Enteignet, vertrieben, ermordet - Beiträge zur Genozidforschung, Chronos, Zürich, 2004
  3. Susanne Lin: Der lerntheoretische Ansatz [2]
  4. Mead, Goerge Herbert (1934; postum): Mind, Self, and Society, University of Chicago Press (dt. Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968, ISBN 0-226-51668-7)
  5. Becker, Howard S. (1963): Outsiders: Studies in the sociology of deviance (dt. Außenseiter - Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1971, ISBN 3-10-805301-9)
  6. Bandura u. a. (1961): Transmission of aggression through imitation of aggressive models, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, Nr. 63, S. 575-582
  7. Susanne Lin: Der psychodynamische Ansatz[3]
  8. Dollard, Miller u. a. (1939): Frustration and Aggression, Yale University Press, New Haven
  9. Miller, Barker u. a. (1941): Symposium on the Frustration-Aggression Hypothesis, Psychological Review, Nr. 48, S. 337-366
  10. Berkowitz, Leonard (1969): The frustration-aggression hypothesis revisited, in: ders. (Hrsg.), Roots of aggression, Atherton Press, New York
  11. Coser, Lewis (1964): Sociological Theory: A book of readings (dt. Theorie sozialer Konflikte, Luchterhand, 1965)
  12. Adorno u. a. (1950): Studies in Prejudice Series, Volume 1: The Authoritarian Personality, Harper & Row, New York 1950, dt.: Studien zum autoritären Charakter, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1973
  13. Altemeyer, Bob (1981): Right-Wing Authoritarianism, University of Manitoba Press
  14. Broadbent, Donald E. (1958): Perception and Communication, Pergamon Press, London
  15. Chomsky, Noam (1959): A Review of B. F. Skinner's "Verbal Behavior" (Nachdruck 1967 in: Jakobovits & Miron (Hrsg.), Readings in the Psychology of Language, Prentice-Hall)
  16. Neisser, Ulrich (1967): Cognitive Psychology, Appleton-Century-Crofts, New York (dt.: Kognitive Psychologie, Klett Verlag, Stuttgart 1974, ISBN 3-12-926230-X)
  17. Susanne Lin: Die kognitiven Theorien[4]
  18. Susanne Lin: Der konflikttheoretische Ansatz [5]
  19. Tajfel & Turner (1979): An integrative theory of intergroup conflict, in: Austin & Worchel (Hrsg.), The social psychology of intergroup relations, Brooks-Cole, Monterey
  20. Turner u. a. (1987): Rediscovering the social group: A Self-Categorization Theory, Basil Blackwell, New York
  21. Foucault, Michel: (1971): L'ordre du discours, Gallimard, Paris, ISBN 2-07-027774-7 (dt. Die Ordnung des Diskurses, Hanser Verlag, München 1974)

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